Verwaltungsrecht

Asylbewerberin aus Algerien, erfolgreiche Anfechtungsklage, Ablehnung von Angaben gegenüber Dolmetscher aus Marokko, Offensichtlichkeitsanspruch rechtswidrig, richtlinienkonforme Auslegung, Asylverfahrensrichtlinie

Aktenzeichen  W 5 K 21.30776

Datum:
7.10.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 51650
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Würzburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO § 113 Abs. 1 S. 1
AsylG § 30 Abs. 3 Nr. 5
RL 2013/32/EU Art. 32 Abs. 2
RL 2013/32/EU Art. 31 Abs. 8

 

Leitsatz

Tenor

I. Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 2. Juli 2021 wird aufgehoben.
II. Die Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
III. Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe der zu vollstreckenden Kosten abwenden, wenn nicht die Klägerin vorher in gleicher Höhe Sicherheit leistet.

Gründe

Die zulässige Klage ist begründet.
Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 2. Juli 2021 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge hat den Asylantrag der Klägerin zu Unrecht als offensichtlich unbegründet abgelehnt. Ein unbegründeter Asylantrag ist gemäß § 30 Abs. 3 Nr. 5 AsylG – worauf die Antragsgegnerin den Entscheidungsausspruch gestützt hat – als offensichtlich unbegründet abzulehnen, wenn der Ausländer seine Mitwirkungspflichten nach § 13 Abs. 3 Satz 2, § 15 Abs. 2 Nr. 3 bis 5 oder § 25 Abs. 1 AsylG gröblich verletzt hat, es sei denn, er hat die Verletzung der Mitwirkungspflichten nicht zu vertreten oder ihm war die Einhaltung der Mitwirkungspflichten aus wichtigen Gründen nicht möglich.
Die Regelung des § 30 Abs. 3 Nr. 5 AsylG ist hier unionsrechtskonform dahingehend auszulegen ist, dass bei einer Ablehnung der Person des Dolmetschers eine offensichtliche Unbegründetheit nicht angenommen werden kann. Die Ablehnung des Asylantrags der Klägerin als offensichtlich unbegründet ist deshalb mit der RL 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und die Aberkennung internationalen Schutzes unvereinbar.
Zwar wird zum Teil in der Kommentarliteratur die Auffassung vertreten, dass – grundsätzlich – keine europarechtlichen Bedenken im Hinblick auf § 30 AsylG bestehen (vgl. Heusch in: BeckOK AsylG, 21. Ed. 1.4.2021, § 30 Rn. 8), allerdings finden sich ebenfalls Ausführungen dahingehend, dass die Norm des § 30 Abs. 3 Nr. 5 AsylG in ihrer aktuellen Ausgestaltung keine Grundlage in der Asylverfahrensrichtlinie 2013 findet (NK-AuslR/Susanne Schröder, 2. Aufl. 2016, AsylVfG § 30 Rn. 31). Auch in der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung wird die Auffassung vertreten, dass seit Ablauf der Umsetzungsfrist für Asylverfahrensrichtlinie 2013 in nationales Recht zum 20. Juli 2015 eine richtlinienkonforme Auslegung des § 30 Abs. 3 Nr. 5 AsylG unter Berücksichtigung des Art. 32 Abs. 2 in Verbindung mit Art. 31 Abs. 8 der RL 2013/32/EU erforderlich ist (VG Ansbach, B.v. 19.6.2018 – AN 1 S 18.30714; VG Augsburg, B.v. 11.7.2017 – Au 1 S 17.32231; VG Cottbus, B.v. 31.5.2018 – VG 4 L 307/18.A – alle juris).
Die Klägerin hat die Durchführung der Anhörung beim Bundesamt am 21. Juni 2021 unter Einsatz des vom Bundesamt zu Verfügung gestellten Dolmetschers verweigert. Dahinstehen kann, ob die Klägerin entsprechend den tatbestandlichen Voraussetzungen des § 30 Abs. 3 Nr. 5 AsylG berechtigt war, die Anhörung wegen der marokkanischen Staatsangehörigkeit des Dolmetschers abzubrechen, da unter Zugrundelegung der o.g. Ausführungen einiges dafür spricht, dass selbst bei einer gröblichen Verletzung der Mitwirkungspflichten nach § 25 Abs. 1 AsylG eine Ablehnung des Asylantrags als offensichtlich unbegründet nicht hätte erfolgen dürfen. Die Verweigerung der Angaben im Rahmen der Anhörung ohne wichtigen Grund kann nach Auffassung des Gerichts unter keinen der in Art. 31 Abs. 8 der RL 2013/32/EU aufgeführten Tatbestände subsumiert werden. In Art. 31 Abs. 8 der RL 2013/32/EU findet sich keine Fallgruppe, die im vorliegenden Fall eine Ablehnung des Asylantrags als offensichtlich unbegründet ermöglicht würde (vgl. auch VG Ansbach, B.v. 19.6.2018 – AN 1 S 18.30714 – juris). Etwas anderes wurde von der Beklagtenseite im Rahmen ihrer Klageerwiderung auch im Anschluss an den die aufschiebende Wirkung anordnenden Beschluss des Verwaltungsgerichts vom 29. Juli 2021 (W 5 S 21.30777), auf den im Übrigen verwiesen wird, nicht vorgetragen. Entsprechend erweist sich der Offensichtlichkeitsausspruch vorliegend als rechtswidrig.
3. Infolgedessen war der Klage stattzugeben und der angegriffene Bescheid aufzuheben. Das Asylverfahren ist ausgehend vom Verfahrensstand vor Erlass des streitgegenständlichen Bescheids weiterzuführen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Das Verfahren ist gemäß § 83b AsylG gerichtskostenfrei.


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