Verwaltungsrecht

Asylrecht, Herkunftsland: Afghanistan, Machtübernahme der Taliban, Abschiebungsverbot bejaht

Aktenzeichen  M 6 K 21.31155

Datum:
25.1.2022
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2022, 1759
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AufenthG § 60 Abs. 5

 

Leitsatz

Tenor

I. Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 5. Mai 2021 wird in den Nrn. 4 bis 6 aufgehoben.
Die Beklagte wird verpflichtet festzustellen, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 AufenthG hinsichtlich Afghanistans vorliegen.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
II. Von den Kosten des Verfahrens trägt der Kläger 3/4, die Beklagte 1/4.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige Kostenschuldner darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der jeweilige Kostengläubiger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Über den Rechtsstreit konnte auf Grund der mündlichen Verhandlung vom 21. Januar 2022 entschieden werden, obwohl die Beteiligten nicht erschienen sind. Denn in der Ladung zur mündlichen Verhandlung wurde darauf hingewiesen, dass auch im Fall des Nichterscheinens der Beteiligten verhandelt und entschieden werden könne (§ 102 Abs. 2 VwGO). Die Beteiligten wurden form- und fristgerecht geladen.
Die Klage ist zulässig und teilweise begründet.
Soweit der Kläger die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft und des subsidiären Schutzes begehrt, ist die Klage unbegründet. Der Kläger ist nach eigenen Angaben in Pakistan aufgewachsen. Eine Verfolgung oder die Gefahr eines ernsthaften Schadens im Heimatland sind weder konkret vorgetragen, noch sonst ersichtlich. Zur Begründung nimmt das Gericht auf die diesbezüglich zutreffenden Ausführungen im Bescheid vom 5. Mai 2021 Bezug, denen das Gericht folgt (§ 77 Abs. 2 AsylG).
Es liegen auch keine stichhaltigen Gründe dafür vor, dass dem Kläger als Zivilperson eine ernsthafte individuelle Bedrohung seines Lebens oder seiner Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts droht (§ 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG). Seit dem 16. August 2021 (nach der Einnahme Kabuls am 15. August 2021) gibt es keinen innerstaatlichen bewaffneten Konflikt mehr.
Im Übrigen ist die Klage begründet, da der angegriffene Bescheid im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 HS. 1 AsylG) rechtswidrig ist und den Kläger in seinen Rechten verletzt, § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO. Der Kläger hat gegenüber der Beklagten einen Anspruch auf Feststellung, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 AufenthG hinsichtlich Afghanistans vorliegen.
Nach § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (Europäische Menschenrechtskonvention – EMRK) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. Ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK ist anzunehmen, wenn erhebliche Gründe für die Annahme sprechen, dass der Betroffene im vorgesehenen Zielgebiet der Abschiebung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit tatsächlich Gefahr läuft („real risk“), einer Behandlung ausgesetzt zu sein, die dem in Art. 3 EMRK normierten menschenrechtlichen Mindeststandard widerspricht.
Eine Art. 3 EMRK widersprechende Behandlung kann sich aus einer allgemeinen Situation der Gewalt im Zielstaat ergeben, einem besonderen Merkmal des Ausländers oder einer Verbindung von beidem (vgl. BVerwG, U.v. 31.1.2013 – 10 C 15.12 – juris Rn. 25). Soweit – wie in Afghanistan – ein für die Verhältnisse eindeutig maßgeblich verantwortlicher Akteur fehlt, können in ganz außergewöhnlichen Fällen auch schlechte humanitäre Verhältnisse im Zielstaat Art. 3 EMRK verletzen, wenn die humanitären Gründe gegen die Ausweisung zwingend sind (vgl. BVerwG, U.v. 4.7.2019 – 1 C 45.18 – juris Rn. 12; B.v. 23.8.2018 – 1 B 42.18 – juris Rn. 9: „nur in besonderen Ausnahmefällen“). Die Voraussetzungen können erfüllt sein, wenn der Ausländer nach Würdigung aller Umstände des Einzelfalls im Zielstaat der Abschiebung seinen existentiellen Lebensunterhalt nicht sichern, kein Obdach finden oder keinen Zugang zu einer medizinischen Basisbehandlung erhalten kann (vgl. BVerwG, B.v. 23.8.2018 – 1 B 42.18 – juris Rn. 11). Der EuGH stellt in seiner Rechtsprechung zu Art. 4 Grundrechte-Charta darauf ab, ob sich die betroffene Person unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befindet, die es ihr nicht erlaubte, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, insbesondere, sich zu ernähren, sich zu waschen und Unterkunft zu finden, und die ihre physische und psychische Gesundheit beeinträchtigte oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzte, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre (vgl. EUGH, U.v. 19.3.2019 – C-297/17 u.a. – juris Rn. 89 ff.). Die dargestellte Rechtsprechung macht letztlich deutlich, dass von einem sehr hohen Gefahrenniveau auszugehen ist; nur dann liegt ein „ganz außergewöhnlicher Fall“ vor, in dem die humanitären Gründe gegen die Ausweisung „zwingend“ sind (BayVGH, U.v. 26.10.2020 – 13a B 20.31087- juris Rn. 21; U.v. 28.11.2019 – 13a B 19.33361 – Rn. 21 ff.; U.v. 8.11.2018 – 13a B 17.31918 – juris Rn. 20 m.w.N.; NdsOVG, U.v. 29.1.2019 – 9 LB 93/18 – juris Rn. 51 m.w.N.; vgl. auch BVerwG, B.v. 13.2.2019 – 1 B 2.19 – juris Rn. 10; OVG NW, U.v. 18.6.2019 – 13 A 3930/18 – juris Rn. 111 f. m.w.N.). Bei der Prüfung einer Verletzung von Art. 3 EMRK ist grundsätzlich auf den gesamten Abschiebungszielstaat abzustellen und zunächst zu prüfen, ob eine Art. 3 EMRK widersprechende Behandlung an dem Ort droht, an dem die Abschiebung endet (BVerwG, U.v. 31.1.2013 – 10 C 15.12 – juris Rn. 26; BayVGH, U.v. 26.10.2020 – 13a B 20.31087- juris Rn. 22; U.v. 8.11.2018 – 13a B 17.31918 – juris Rn. 21; OVG NW, U.v. 18.6.2019 – 13 A 3930/18 – juris Rn. 43 ff. m.w.N; NdsOVG, U.v. 29.1.2019 – 9 LB 93/18 – juris Rn. 43 m.w.N).
Der Bayerische Verwaltungsgerichtshofs ist in den Urteilen vom 7. Juni 2021 (13a B 21.30342 – juris) bzw. 23. Juni 2021 (13a ZB 21.30438 – UA Rn.18) davon ausgegangen, dass ein junger und gesunder Mann trotz der Corona-Pandemie weiterhin in der Lage sein wird, in Afghanistan das Existenzminimum zu erwirtschaften. Wie der Bayerische Verwaltungsgerichtshof in den o.g. Urteilen auf Grundlage der neueren Erkenntnismittel entschieden hat, stellt eine Abschiebung nach Afghanistan für volljährige, alleinstehende und arbeitsfähige afghanische Männer weiterhin und trotz der Corona-Pandemie nicht ohne weiteres eine Verletzung von Art. 3 EMRK dar, so dass im Allgemeinen kein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG oder § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG (analog) vorliegt. Dies gelte auch für arbeitsfähige Männer ohne nennenswertes Vermögen und ohne stützendes (familiäres) Netzwerk in Afghanistan. Auch auf einen vorherigen Aufenthalt im Heimatland komme es nicht an, ausreichend sei vielmehr, dass eine Verständigung in einer der Landessprachen möglich sei. Zwar habe die COVID-19-Krise zu einem deutlichen Anstieg der akuten Ernährungsunsicherheit sowie der Lebensmittelpreise geführt. Nach Analysen der Integrated Food Security Phase Classification (IPC) sei die Ernährungsunsicherheit allerdings rückläufig. Die Arbeitsmöglichkeiten seien gesunken und die Arbeitslosigkeit sowie die Armutsrate gestiegen. Ab Juli 2021 werde aber mit Eintreffen der neuen Ernte ein Preisrückgang erwartet und es gebe staatliche Covid-19-Programme zur Verteilung von Paketen an betroffene Haushalte. Auch würden humanitäre Nothilfen in beträchtlichem Ausmaß erwartet. Allgemein werde, insbesondere auch aufgrund des signifikanten Anstiegs der humanitären Hilfen, eine etwas verbesserte Lage mit einer Erholung der Wirtschaft und besseren Arbeitsmöglichkeiten erwartet. Zudem könne mittlerweile auf umfangreiche Rückkehrhilfen zurückgegriffen werden. Diese versetzten Rückkehrer in die Lage, ihr Existenzminimum in Afghanistan über einen hinreichenden, eine Verletzung von Art. 3 EMRK ausschließenden Zeitraum bestreiten zu können. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts bedürfe grundsätzlich derjenige des Schutzes in der Bundesrepublik Deutschland nicht, der eine geltend gemachte Gefährdung in seinem Heimatland durch zumutbares eigenes Verhalten, wozu insbesondere die freiwillige Ausreise und Rückkehr in den Heimatstaat gehörten, abwenden könne. Ein freiwilliger Rückkehrer erhalte allein in Form direkter Geldleistungen insgesamt 4.200,00 €. Ein Rückkehrer könne damit sein Leben über mehr als 14 Monate lang bzw. – bei Zugrundelegung von nur „ausreichender Lebenshaltungs- und Unterkunftskosten“ – sogar mehr als zweieinhalb Jahre in Afghanistan finanzieren. Hinzu kämen erhebliche Sachleistungen zur Unterstützung der Reintegration im Heimatland, wie medizinische Unterstützung, Migrationsberatungs- und Reintegrationsangebote, die bei der Jobsuche, bei beruflichen Qualifizierungsmaßnahmen, bei der Existenzgründung sowie bei sozialen Fragen – u.a. zu Wohnung, Schule und Gesundheitsversorgung – unterstützten. Es sei daher davon auszugehen, dass ein volljähriger, alleinstehender und arbeitsfähiger afghanischer Rückkehrer den Zeitraum, in dem sein Existenzminimum allein durch Rückkehrhilfen in Form von Geldleistungen sichergestellt sei, erfolgreich nutzen könne, um sich eine neue Existenzgrundlage und gegebenenfalls auch ein neues soziales Unterstützungsnetzwerk in Afghanistan – gerade in Kabul – zu schaffen und insbesondere die Erschwernisse der aktuellen Corona-Pandemie zu überwinden. Dem stehe auch nicht entgegen, dass auf die Gewährung der Rückkehrhilfen kein Rechtsanspruch bestehe. Denn angesichts der im Rahmen von § 60 Abs. 5 AufenthG gebotenen möglichst realitätsnahen Rückkehrprognose sei maßgeblich darauf abzustellen, dass die Rückkehrhilfen bei ordnungsgemäßer Antragstellung und Erfüllung der Förderungsvoraussetzungen in der Praxis regelmäßig auch gewährt würden und keine Anhaltspunkte vorlägen, dass sich dies aktuell oder zukünftig ändern könnte.
Im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung können diese Verhältnisse jedoch nicht mehr zugrunde gelegt werden (vgl. bereits VG Düsseldorf, B.v. 18.8.2021 – 21 L 1606/21.A – juris Rn. 113 ff. m.w.N.). Unter Berücksichtigung der vorliegenden aktuellen Erkenntnismittel (vgl. etwa EASO Country Guidance: Afghanistan, Common analysis and guidance note, November 2021; Bericht des Auswärtigen Amts über die Lage in Afghanistan v. 22.10.2021 (Lagebericht); BAMF, Briefing Notes v. 30.8.2021, 6.9.2021, 13.9.2021, 20.9.2021, 27.9.2021, 4.10.2021, 11.10.2021, 18.10.2021, 25.10.2021, 8.11.2021, 15.11.2021, 22.11.2021, 28.11.2021, 6.12.2021, 13.12.2021, 20.12.2021, 3.1.2022, 10.1.2022 und 17.1.2022; UNHCR, Positions on return to Afghanistan, August 2021; Afghanistan Analysts Network, Report v. 6.9.2021 – https://www.afghanistan-analysts.org/en/reports/economy-development-environment/afghanistans-looming-economic-catastrophe-what-next-for-the-taleban-and-the-donors/; WFP, Countrywide market price bulletin v. 22.8.2021 – https://reliefweb.int/report/afghanistan/afghanistan-countrywide-market-price-bulletin-special-bulletin-22-august-2021; https://tolonews.com/index.php/afghanistan-174484) sowie der genannten Grundsätze geht das Gericht davon aus, dass im Fall des Klägers ein besonderer Ausnahmefall im oben genannten Sinn zu bejahen ist. Es ist nicht anzunehmen, dass der Kläger bei einer Rückkehr nach Afghanistan in der Lage sein wird, etwa durch Gelegenheitsarbeiten ein kleines Einkommen zu erwirtschaften und damit ein Leben am Rande des Existenzminimums zu bestreiten.
Die ohnehin schon schlechte wirtschaftliche Situation in Afghanistan hat sich bereits aufgrund der Corona-Pandemie drastisch verschärft und infolge der Machtübernahme durch die Taliban weiter verschlimmert. Die Wirtschaftslage kann nur als „desaströs“ bezeichnet werden (Lagebericht, S. 4 f., 11, 14) und befindet sich aktuell in freiem Fall (vgl. https://www.aljazeera.com/news/2021/12/19/oic-nations-pledge-fund-to-prevent-afghanistan-economic-collapse). Das Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen (UNDP) befürchtet mittlerweile einen völligen Zusammenbruch des afghanischen Finanzsystems (vgl. BAMF, Briefing Notes v. 22.11.2021, S. 2). Afghanistan ist nach wie vor eines der ärmsten Länder der Welt und wurde von den wirtschaftlichen Auswirkungen der COVID-19-Pandemie schwer getroffen. In humanitären Geberkreisen wird von einer Armutsrate von 80% ausgegangen, die im Verlauf des letzten Jahres weiter angestiegen sein dürfte (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht v. 16.7.2020 i.d.F.v. 14.1.2021, S. 22). Es wird befürchtet, dass das Bruttoinlandsprodukt (BIP) in naher Zukunft um ca. 30% einbrechen (vgl. BAMF, Briefing Notes v. 25.10.2021, S. 2) und die steigenden Preise für importierte Grundnahrungsmittel (vgl. https://tolonews.com/afghanistan-175178; https://reliefweb.int/report/afghanistan/afghanistan-countrywide-market-price-bulletin-special-bulletin-22-august-2021) sowie der Verfall der Landeswährung die Wirtschaftskrise verstärken werden (BAMF, Briefing Notes v. 6.9.2021; WFP, Countrywide market price bulletin v. 22.8.2021 – https://reliefweb.int/report/afghanistan/afghanistan-countrywide-market-price-bulletin-special-bulletin-22-august-2021). Der Wert der Landeswährung Afghani ist gegenüber dem US-Dollar weiter stark gefallen und gleichzeitig sind die Lebensmittelpreise gestiegen (vgl. https://www.aljazeera.com/economy/2021/12/17/afghanistans-tumbling-currency-adds-to-severe-economic-woes). Laut OCHA benötigen 24,4 Millionen Menschen in Afghanistan humanitäre Hilfe und es besteht die schlimmste Dürre seit 27 Jahren. Insbesondere existiert in Afghanistan eine dramatisch verschlechterte Ernährungsunsicherheit, die sich gegenüber dem letzten Jahr um 35% verschlechtert hat (Afghanistan humanitarian response plan 2022, abrufbar unter https://reliefweb.int/report/afghanistan/afghanistan-humanitarian-response-plan-2022-january-2022). Für den Winter sind 50% der afghanischen Bevölkerung von akuter Nahrungsmittelunsicherheit bedroht (vgl. BAMF, Briefing Notes v. 8.11.2021, S. 3; WFP Afghanistan, Situation Report v. 3.11.2021, S. 1), drei Millionen Menschen hungern bereits akut und 23 Millionen Menschen stehen kurz davor (vgl. BAMF, Briefing Notes v. 15.11.2021, S. 2; 22.11.2021, S. 2). WFP meldete, dass mehr als die Hälfte der Bevölkerung, 22,8 Mio. Menschen, unter akutem Hunger litten, während Minustemperaturen eingesetzt hätten (vgl. BAMF, Briefing Notes v. 20.12.21, S. 2). Bestand das Risiko einer Hungersnot früher hauptsächlich in ländlichen Gebieten, sind nun auch die Menschen in den Städten betroffen (vgl. BAMF, Briefing Notes v. 22.11.2021, S. 2). Aussagen des UN-Flüchtlingskommissariats (UNHCR) zufolge habe die Hungersnot damit ein noch nie da gewesenes Niveau erreicht. Mit jeder humanitären Hilfeleistung kämen neue Personen hinzu, die humanitärer Hilfe bedürften. Die Situation in Afghanistan sei ein Wettlauf gegen die Zeit (vgl. https://tolonews.com/afghanistan-175737). Die International Crisis Group (IGC) warnte, dass im Zuge der aktuellen humanitären Katastrophe mehr Zivilisten an Hunger sterben könnten als in den letzten 20 Jahren des Krieges (vgl. BAMF, Briefing Notes v. 13.12.21, S. 2). Die Preise für Lebensmittel, Benzin und Holz haben sich seit Mitte August verdoppelt (vgl. BAMF, Briefing Notes v. 4.10.2021 und 18.10.2021) und steigen infolge des weiteren Währungsverfalls (vgl. https://tolonews.com/afghanistan-175089; BAMF, Briefing Notes v. 20.12.2021 u. 22.11.2021) sowie mit dem Winter (vgl. https://tolonews.com/afghanistan-175240; BAMF, Briefing Notes v. 8.11.2021, S. 3) stetig an, während das Einkommen der „einfachen Arbeiterhaushalte“ schon coronabedingt wegen eingeschränkter Erwerbsmöglichkeiten um rund 19% gesunken war (vgl. OCHA, Strategic situation report: Covid 19, No. 92, 11.3.2021, S. 3). Schwer getroffen wurden insbesondere der Dienstleistungs- und Industriesektor, wodurch sich die Arbeitslosigkeit in den Städten erhöhte und die Armutsquote dort nunmehr 45,5% beträgt (vgl. World Bank Group, Afghanistan Development Update April 2021, S. 9). Gelder aus dem Westen – von welchen die afghanische Regierung zu 75% finanziert wurde (vgl. https://www.crisisgroup.org/asia/south-asia/afghanistan/taliban-rule-begins-afghanistan) – wurden größtenteils eingestellt (vgl. https://www.capital.de/wirtschaft-politik/die-wirtschaft-der-taliban-woher-kommt-das-viele-geld) bzw. ausländische Reserven in Höhe von 9 Mrd. US-Dollar von den USA eingefroren (vgl. BAMF, Briefing Notes v. 20.9.21). Die USA haben zuletzt verlautbaren lassen, dass den Taliban auch weiterhin kein Zugang zu den Geldern gewährt würde (vgl. https://www.aljazeera.com/economy/2021/10/19/us-taliban-will-have-no-access-to-afghan-central-bank-reserves), was auch die Weltbank am 9. November 2021 bestätigte (vgl. BAMF, Briefing Notes v. 15.11.2021, S. 2). Infolgedessen haben die Taliban mit einer steigenden Inflation, einer geschwächten Währung, steigender Arbeitslosigkeit, einer Liquiditätskrise und Verknappung essentieller Güter zu kämpfen (vgl. Lagebericht, S. 6; BAMF, Briefing Notes v. 20.9.21). Wesentlich für die Wirtschaft sei laut Bundesamt, so schnell wie möglich wieder Geld (Gehälter, Bankguthaben, Überweisungen) zu erhalten, um wieder in Fluss zu kommen (BAMF, Briefing Notes v. 3.1.2022, S. 2). Zwar hat die internationale Geberkonferenz am 13. September 2021 1 Mrd. US-$ an Nothilfen für Afghanistan zugesagt (Lagebericht S. 7), die UN hat verlautbaren lassen, ein Hilfspaket von 8 Milliarden US-$ zu schnüren (vgl. https://tolonews.com/afghanistan-176020) und die US-Regierung hat angekündigt, 144 Mio. US-$ als humanitäre Hilfe bereitzustellen (vgl. BAMF, Briefing Notes v. 8.11.2021, S. 3). Daneben sind am 2. Dezember 2021 280 Mio. US-$ an humanitärer Hilfe von der Weltbank freigegeben worden und die Unterstützungsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan (UNAMA) hat 16 Mio. US-$ in bar an die afghanische Zentralbank für humanitäre Zwecke übergeben (vgl. BAMF, Briefing Notes v. 6.12.2021, S. 1). Die USA erklärten am 15. Dezember 2021 weiter, im Jahr 2022 474 Mio. US-$ zusätzliche humanitäre Hilfe nach Afghanistan zu liefern (vgl. BAMF, Briefing Notes v. 20.12.21) und am 12. Dezember 2021 sind etwa 19 Mio. US-$ der Weltbank in bar in der Zentralbank in Kabul eingetroffen, um die Landeswährung zu stützen (BAMF, Briefing Notes v. 13.12.2021, S. 2). Es wird berichtet, dass die UN die Weltbank der Internationalen Bank Afghanistans (AIB) bis März 2022 wöchentlich mit bis zu 20. Mio. US-$ Bargeld versorgen werde, um die humanitäre Katastrophe abzuwenden und den Wert des Afghani zu stabilisieren (vgl. BAMF; Briefing Notes v. 20.12.21, S. 2). Auch werden – insbesondere in städtischen Gebieten – die Bargeldtransfers erhöht, um die lokale Wirtschaft zu unterstützen und die Märkte funktionsfähig zu halten (vgl. BAMF, Briefing Notes v. 3.1.2022, S. 2). Dennoch ist nicht anzunehmen, dass dies ausreichen wird. Für das Jahr 2022 geht das WFP davon aus, dass monatlich 220 Mio. US-$ für die Unterstützung Bedürftiger benötigt werden (vgl. BAMF, Briefing Notes v. 3.1.2022, S. 2). Laut eines aktuellen Aufrufs der UN besteht im Jahr 2022 ein Bedarf an humanitären Hilfen in Höhe von nahezu 5. Mrd. US-$ (vgl. https://www.aljazeera.com/news/2022/1/11/un-wants-5-bn-aid-for-afghanistan-in-2022). Afghanische Wirtschaftsanalysten glauben zudem, dass die internationalen Hilfen die wirtschaftliche Krise nicht verhindern können, solange die westlichen Gelder eingefroren bleiben (vgl. https://tolonews.com/afghanistan-175366). Selbst wenn alle Hilfsgelder ankommen würden – bislang hätten Berichten der UN zufolge 60 Mio. US-$ ihr Ziel erreicht (vgl. BAMF, Briefing Notes v. 28.11.21, S. 3; https://tolonews.com/afghanistan-175656) – würde die Summe von 8,5 Mrd. US-$ nicht erreicht, die Afghanistan zuvor aus dem Ausland erhalten hat (vgl. Afghanistan Analysts Network, Report v. 11.11.2021, a.a.O.). Vor diesem Hintergrund vermögen auch z.B. die 36 Tonnen an Hilfslieferungen aus Russland (u.a. Weizen, Zucker und Tee) sowie die einmalige Ausgabe von etwa 265 US-$ an Hilfsgeldern für 1.000 bedürftige Familien in Kabul (vgl. BAMF, Briefing Notes v. 6.12.2021, S. 2) die katastrophale humanitäre Lage nicht nennenswert verbessern. Die Pressesprecherin des Weißen Hauses gab am 14. Dezember 2021 bekannt, dass es weiterhin keine Pläne zur Freigabe der eingefrorenen Gelder gebe. Es müsse geprüft werden, inwiefern die Gelder direkt an die hilfesuchende Bevölkerung verteilt werden könnten, ohne dass die Taliban davon profitierten (vgl. https://tolonews.com/afghanistan-175883).
Eine andere Beurteilung ergibt sich auch nicht im Hinblick auf die individuellen Umstände des Klägers. Dieser ist mit seiner Familie in Pakistan aufgewachsen, hat keinen Kontakt zu (näheren) Verwandten in Afghanistan und kennt insbesondere den afghanischen Arbeitsmarkt nicht. Es ist daher anzunehmen, dass der Kläger in Afghanistan niemanden hat, der ihn hinreichend (finanziell) unterstützen kann oder durch Kontakte und Beziehungen den Zugang zum Wohnungs- oder Arbeitsmarkt erleichtern könnte.
Nach alledem wird der Kläger bei einer Rückkehr nach Afghanistan nicht in der Lage sein, etwa durch Gelegenheitsarbeiten ein kleines Einkommen zu erwirtschaften und damit ein Leben am Rande des Existenzminimums zu bestreiten (vgl. a. Lagebericht S. 14). Es ist nicht anzunehmen, dass er sich auf dem extrem angespannten afghanischen Arbeitsmarkt (vgl. OCHA, Strategic situation report: Covid 19, No. 101 v. 15.7.2021, S. 2; Lagebericht, S. 4 ff.) gegen andere Mitbewerber durchzusetzen vermag, zumal er noch nie in Afghanistan war und somit mit den dortigen Arbeitsverhältnissen, den Regeln, Sozial- und Verhaltenskodizes nicht in einer Weise vertraut ist, dass er dem Misstrauen und den Vorurteilen der Bevölkerung, insbesondere potentieller Arbeitgeber, etwas entgegenzusetzen hätte (vgl. VG München. U.v. 20.9.2021 – M 16 K 17.41335 – UA Rn. 47). Die durchschnittliche Anzahl der Tage, an denen Gelegenheitsarbeiter Arbeit fänden, liegt bei 1,4 Tagen pro Woche, was 42,1% weniger ist als in der letzten Juniwoche und in sechs Provinzen gibt es sogar keine Arbeitsmöglichkeiten mehr (vgl. BAMF, Briefing Notes v. 28.11.21, S. 3). Die meisten Haushalte geben an, dass nur noch an einem Tag pro Woche Arbeit für den Lebensunterhalt möglich wäre, unabhängig davon, ob als Tagelöhner oder in einem festen Arbeitsverhältnis (vgl. BAMF, Briefing Notes v. 3.1.2022, S. 2). Auch das von der Taliban-Regierung am 24. Oktober 2021 angekündigte Beschäftigungsprogramm für Arbeitslose, die mit Weizen entlohnt werden sollen (vgl. BAMF, Briefing Notes v. 25. Oktober 2021, S. 1), ist lediglich für 40.000 Männer gedacht und wird den angespannten Arbeitsmarkt allenfalls geringfügig entlasten können. Viele Fabriken haben wegen fehlender Rohmaterialien geschlossen (vgl. BAMF, Briefing Notes, S. 2; https://tolonews.com/afghanistan-176007) und trotz der Versuche, die Menschen durch verbesserte Produktionsbedingungen in der Landwirtschaft oder Ausbildungsprojekte in Arbeit zu bringen, bleibt die Lage angespannt (vgl. BAMF, Briefing Notes v. 3.1.2022, S. 2). Auch Ärzte haben z.B. teilweise seit sechs Monaten keinen Lohn erhalten (BAMF, Briefing Notes v. 10.1.2022, S. 32).
Schließlich kann der Kläger auch nicht auf Rückkehrhilfen zurückgreifen, die neben finanziellen Hilfen für einen begrenzten Zeitraum selbst eine Unterkunft bereitstellen oder bei der Suche behilflich sind. Denn diese sind aufgrund der sich stark verschlechternden Sicherheitslage in Afghanistan bis auf Weiteres seit dem 17. August 2021 ausgesetzt (vgl. https://www.returningfromgermany.de/de/countries/afghanistan/). Viele Bankfilialen haben nach wie vor geschlossen, da sie kein Geld an ihre Kunden auszahlen können (vgl. Afghanistan Analysts Network, Report v. 6.9.2021, a.a.O.; https://tolonews.com/afghanistan-174938). Afghanen kommen aus dem ganzen Land nach Kabul, um Geld von der Bank abheben zu können, wo sie stunden- und tagelang ausharren, um dann nicht einmal 20.000,00 Afghani (etwa 190,00 €, vgl. https://www.finanzen.net/waehrungsrechner/afghani_euro) zu erhalten (vgl. https://www.aljazeera.com/news/2021/10/29/afghanistan-us-funds-harsh-winter-taliban-economic-crisis; https://tolonews.com/afghanistan-174835). Am 3. November 2021 wurde von der Zentralbank gemeldet, dass Personen nur 400,- US-$ wöchentlich (36.500 Afghani, vgl. https://www.google.com/search?client=firefox-b-d& q=w%C3%A4hrungsrechner+afghani+) von ihren Bankkonten abheben dürften (BAMF, Briefing Notes v. 8.11.2021, S. 3). Menschen sind oft gezwungen, ihr Hab und Gut zu verkaufen (vgl. BAMF, Briefing Notes v. 8.11.2021, S.3; 25.10.2021, S. 2; https://www.aljazeera.com/news/2021/9/13/afghans-sell-possessions-amid-cash-crunch-pending-economic-crisis). Überdies hat die Taliban-Regierung am 3. November 2021 die Benutzung fremder Währungen im Land verboten (vgl. BAMF, Briefing Notes v. 8.11.2021, S. 2; https://www.aljazeera.com/news/2021/11/2/taliban-bans-use-of-foreign-currency-across-afghanistan), wenngleich ein Sprecher der Taliban am 13. Dezember 2021 die Entscheidung der USA, private Geldsendungen nach Afghanistan zu erlauben, begrüßt und Einwohnern den Zugang zu Diensten wie Western Union oder MoneyGram zugesichert hat (vgl. BAMF, Briefing Notes v. 20.12.21, S. 2). Die UNDP geht davon aus, dass die Banken bis Ende des Jahres 40% ihrer liquiden Mittel verlieren werden (vgl. https://tolonews.com/afghanistan-175604). Afghanistan steht vor einer katastrophalen Bargeldknappheit, die Banken und Unternehmen lahmlegt, die Preise für Lebensmittel und Treibstoff in die Höhe schnellen lässt und eine verheerende Hungerkrise ausgelöst hat (vgl. o. sowie ACCORD, Anfragebeantwortung Afghanistan: Humanitäre Lage v. 6.12.2021, S. 12).
In der Gesamtschau ist daher nicht davon auszugehen, dass der Kläger sein Existenzminimum in Afghanistan erlangen kann, so dass die Anforderungen des § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK zu bejahen sind.
Ob daneben auch die Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG erfüllt sind, bedarf keiner abschließenden Prüfung, da es sich beim national begründeten Abschiebungsverbot um einen einheitlichen und nicht weiter teilbaren Verfahrensgegenstand handelt (grundlegend: BVerwG, U.v. 8.9.2011 – 10 C 14.10 – BVerwGE 140,319 Rn. 16 f.).
Da der Klage hinsichtlich § 60 Abs. 5 AufenthG stattzugeben war, sind auch die Abschiebungsandrohung sowie das Einreise- und Aufenthaltsverbot aufzuheben (Nrn. 5 und 6 des Bescheids; vgl. § 34 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AsylG).
Die Kostenfolge ergibt sich aus § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. § 154 Abs. 1 VwGO und berücksichtigt die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zur Kostenteilung in Asylverfahren (vgl. z.B. B.v. 29.6.2009 – 10 B 60.08 – juris). Gerichtskosten werden nicht erhoben, § 83b AsylG.
Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung stützt sich auf § 167 Abs. 2 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. Zivilprozessordnung.

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