Verwaltungsrecht

Asylrecht, Herkunftsland: Afghanistan, Machtübernahme durch die Taliban, Abschiebungsverbot bejaht

Aktenzeichen  M 15 K 17.30382

Datum:
10.2.2022
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2022, 4103
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AufenthG § 60

 

Leitsatz

Tenor

I. Soweit die Klage zurückgenommen wurde, wird das Verfahren eingestellt.      
Im Übrigen wird der Bescheid des Bundesamts für … vom … Dezember 2016 in den Nrn. 4 bis 6 aufgehoben.
Die Beklagte wird verpflichtet, festzustellen, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 AufenthG hinsichtlich Afghanistan vorliegen.  
II. Von den Kosten des Verfahrens trägt der Kläger 5/6, die Beklagte 1/6.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige Kostenschuldner darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der jeweilige Kostengläubiger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
IV. Das Prozesskostenhilfeverfahren wird eingestellt. 

Gründe

Über die Klage konnte ohne mündliche Verhandlung entschieden werden, da die Beteiligten mit Schreiben vom … Januar 2022 bzw. … Februar 2022 einer Entscheidung im schriftlichen Verfahren zugestimmt haben (§ 101 Abs. 2 VwGO).
Soweit die Klage zurückgenommen wurde (Anerkennung als Asylberechtigter, Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft und des subsidiären Schutzes), ist das Verfahren einzustellen (§ 92 Abs. 3 VwGO).
Im Übrigen ist die Klage zulässig und begründet, da der angegriffene Bescheid insoweit rechtswidrig ist und den Kläger in seinen Rechten verletzt. Dieser hat zum maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 2 AsylG) einen Anspruch auf die Feststellung eines Abschiebungsverbots (§ 113 Abs. 5 VwGO). Denn aufgrund der aktuellen Situation in Afghanistan, gerade auch im Hinblick auf die Machtübernahme der Taliban und die Corona-Pandemie, ist im vorliegenden Fall anzunehmen, dass dieser dort sein Existenzminimum nicht erzielen können wird und damit die (hohen) Anforderungen des Art. 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK erreicht sind.
1. Eine Art. 3 EMRK widersprechende Behandlung kann sich aus einer allgemeinen Situation der Gewalt im Zielstaat ergeben, einem besonderen Merkmal des Ausländers oder einer Verbindung von beidem (vgl. BVerwG, U.v. 31.1.2013 – 10 C 15.12 – juris Rn. 25). In ganz außergewöhnlichen Fällen können auch schlechte humanitäre Verhältnisse im Zielstaat Art. 3 EMRK verletzen, wenn die humanitären Gründe gegen die Ausweisung zwingend sind (vgl. BVerwG, U.v. 4.7.2019 – 1 C 45.18 – juris Rn. 12; B.v. 23.8.2018 – 1 B 42.18 – juris Rn. 9: „nur in besonderen Ausnahmefällen“). Die Voraussetzungen können erfüllt sein, wenn der Ausländer nach Würdigung aller Umstände des Einzelfalls im Zielstaat der Abschiebung seinen existentiellen Lebensunterhalt nicht sichern, kein Obdach finden oder keinen Zugang zu einer medizinischen Basisbehandlung erhalten kann (vgl. BVerwG, B.v. 23.8.2018 – 1 B 42.18 – juris Rn. 11). Der EuGH stellt in seiner neueren Rechtsprechung zu Art. 4 Grundrechte-Charta darauf ab, ob sich die betroffene Person unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befindet, die es ihr nicht erlaubte, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, insbesondere, sich zu ernähren, sich zu waschen und Unterkunft zu finden, und die ihre physische und psychische Gesundheit beeinträchtigte oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzte, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre (vgl. EUGH, U.v. 19.3.2019 – C-297/17 u.a. – juris Rn. 89 ff.). Die dargestellte Rechtsprechung macht letztlich deutlich, dass von einem sehr hohen Gefahrenniveau auszugehen ist; nur dann liegt ein „ganz außergewöhnlicher Fall“ vor, in dem die humanitären Gründe gegen die Ausweisung „zwingend“ sind (BayVGH, U.v. 26.10.2020 – 13a B 20.31087- juris Rn. 21; U.v. 28.11.2019 – 13a B 19.33361 – Rn. 21 ff.; U.v. 8.11.2018 – 13a B 17.31918 – juris Rn. 20 m.w.N.; NdsOVG, U.v. 29.1.2019 – 9 LB 93/18 – juris Rn. 51 m.w.N.; vgl. auch BVerwG, B.v. 13.2.2019 – 1 B 2.19 – juris Rn. 10; OVG NW, U.v. 18.6.2019 – 13 A 3930/18 – juris Rn. 111 f. m.w.N.). Auch im Rahmen von § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK ist der Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit zugrunde zu legen; erforderlich, aber auch ausreichend, ist daher die tatsächliche Gefahr („real risk“) einer unmenschlichen Behandlung (BVerwG, U.v. 27.4.2010 – 10 C 5.09 – juris Rn. 22). Bei der Prüfung einer Verletzung von Art. 3 EMRK ist grundsätzlich auf den gesamten Abschiebungszielstaat abzustellen und zunächst zu prüfen, ob eine Art. 3 EMRK widersprechende Behandlung an dem Ort droht, an dem die Abschiebung endet (BVerwG, U.v. 31.1.2013 – 10 C 15.12 – juris Rn. 26; BayVGH, U.v. 26.10.2020 – 13a B 20.31087- juris Rn. 22; U.v. 8.11.2018 – 13a B 17.31918 – juris Rn. 21; OVG NW, U.v. 18.6.2019 – 13 A 3930/18 – juris Rn. 43 ff. m.w.N; NdsOVG, U.v. 29.1.2019 – 9 LB 93/18 – juris Rn. 43 m.w.N).
2. Unter Berücksichtigung der aktuellen Erkenntnismittel (vgl. z.B. Bericht des Auswärtigen Amts über die Lage in Afghanistan v. 22.10.2021 (Lagebericht); BAMF, Briefing Notes v. 30.8.2021, 6.9.2021, 13.9.2021, 20.9.2021, 27.9.2021, 4.10.2021, 11.10.2021, 18.10.2021, 25.10.2021, 8.11.2021, 15.11.2021, 22.11.2021, 28.11.2021, 6.12.2021, 13.12.2021, 20.12.2021, 3.1.2022, 10.1.2022, 17.1.2022, 24.1.2022; EASO, Afghanistan country focus, country of origin information report, Januar 2022; UNHCR, Positions on return to Afghanistan, August 2021; Afghanistan Analysts Network, Report v. 6.9.2021 – https://www…org/en/reports/economy-development-environment/afghanistans-looming-economic-catastrophe-what-next-for-the-taleban-and-the-donors/; Report v. 11.11.2021 – https://www….org/en/reports/economy-development-environment/killing-the-goose-that-laid-the-golden-egg-afghanistans-economic-distress-post-15-august/; WFP, Countrywide market price bulletin v. 22.8.2021 – https://reliefweb.int/report/afghanistan/afghanistan-countrywide-market-price-bulletin-special-bulletin-22-august-2021; https://tolonews.com/index.php/afghanistan-174484) geht das Gericht davon aus, dass im Fall des Klägers ein besonderer Ausnahmefall im oben genannten Sinn zu bejahen ist. Es ist nicht anzunehmen, dass der Kläger bei einer Rückkehr nach Afghanistan in der Lage sein wird, etwa durch Gelegenheitsarbeiten ein kleines Einkommen zu erwirtschaften und damit ein Leben am Rande des Existenzminimums zu bestreiten.
Die ohnehin schon schlechte wirtschaftliche Situation in Afghanistan hat sich bereits aufgrund der Corona-Pandemie drastisch verschärft und infolge der Machtübernahme durch die Taliban weiter verschlimmert. Die Wirtschaftslage kann nur als „desaströs“ bezeichnet werden (Lagebericht, S. 4 f., 11, 14) und befindet sich aktuell in freiem Fall (vgl. https://www…com/news/2021/12/19/oic-nations-pledge-fund-to-prevent-afghanistan-economic-collapse). Das Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen (UNDP) befürchtet mittlerweile einen völligen Zusammenbruch des afghanischen Finanzsystems (vgl. BAMF, Briefing Notes v. 22.11.2021, S. 2). Afghanistan ist nach wie vor eines der ärmsten Länder der Welt und wurde von den wirtschaftlichen Auswirkungen der COVID-19-Pandemie schwer getroffen. In humanitären Geberkreisen wird von einer Armutsrate von 80% ausgegangen, die im Verlauf des letzten Jahres weiter angestiegen sein dürfte (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht v. 16.7.2020 i.d.F.v. 14.1.2021, S. 22). Es wird befürchtet, dass das Bruttoinlandsprodukt (BIP) in naher Zukunft um ca. 30% einbrechen (vgl. BAMF, Briefing Notes v. 25.10.2021, S. 2) und die steigenden Preise für importierte Grundnahrungsmittel (vgl. https://tolonews.com/afghanistan-175178; https://reliefweb.int/report/afghanistan/afghanistan-countrywide-market-price-bulletin-special-bulletin-22-august-2021) sowie der Verfall der Landeswährung die Wirtschaftskrise verstärken werden (BAMF, Briefing Notes v. 6.9.2021; WFP, Countrywide market price bulletin v. 22.8.2021 – https://reliefweb.int/report/afghanistan/afghanistan-countrywide-market-price-bulletin-special-bulletin-22-august-2021). Der Wert der Landeswährung Afghani ist gegenüber dem US-Dollar weiter stark gefallen und gleichzeitig sind die Lebensmittelpreise gestiegen (vgl. https://www…com/economy/2021/12/17/afghanistans-tumbling-currency-adds-to-severe-economic-woes). Laut OCHA benötigen 24,4 Millionen Menschen in Afghanistan humanitäre Hilfe und es besteht die schlimmste Dürre seit 27 Jahren. Insbesondere existiert in Afghanistan eine dramatisch verschlechterte Ernährungsunsicherheit, die sich gegenüber dem letzten Jahr um 35% verschlechtert hat (Afghanistan humanitarian response plan 2022, abrufbar unter https://reliefweb.int/report/afghanistan/afghanistan-humanitarian-response-plan-2022-january-2022). Für den Winter sind 50% der afghanischen Bevölkerung von akuter Nahrungsmittelunsicherheit bedroht (vgl. BAMF, Briefing Notes v. 8.11.2021, S. 3; WFP Afghanistan, Situation Report v. 3.11.2021, S. 1), drei Millionen Menschen hungern bereits akut und 23 Millionen Menschen stehen kurz davor (vgl. BAMF, Briefing Notes v. 15.11.2021, S. 2; 22.11.2021, S. 2). WFP meldete, dass mehr als die Hälfte der Bevölkerung, 22,8 Mio. Menschen, unter akutem Hunger litten, während Minustemperaturen eingesetzt hätten (vgl. BAMF, Briefing Notes v. 20.12.21, S. 2). Bestand das Risiko einer Hungersnot früher hauptsächlich in ländlichen Gebieten, sind nun auch die Menschen in den Städten betroffen (vgl. BAMF, Briefing Notes v. 22.11.2021, S. 2). Aussagen des UN-Flüchtlingskommissariats (UNHCR) zufolge habe die Hungersnot damit ein noch nie da gewesenes Niveau erreicht. Die International Crisis Group (IGC) warnte, dass im Zuge der aktuellen humanitären Katastrophe mehr Zivilisten an Hunger sterben könnten als in den letzten 20 Jahren des Krieges (vgl. BAMF, Briefing Notes v. 13.12.21, S. 2). Die Preise für Lebensmittel, Benzin und Holz haben sich seit Mitte August verdoppelt (vgl. BAMF, Briefing Notes v. 4.10.2021 und 18.10.2021) und steigen infolge des weiteren Währungsverfalls (vgl. https://tolonews.com/afghanistan-175089; BAMF, Briefing Notes v. 20.12.2021 u. 22.11.2021) sowie mit dem Winter (vgl. https://tolonews.com/afghanistan-175240; BAMF, Briefing Notes v. 8.11.2021, S. 3) stetig an, während das Einkommen der „einfachen Arbeiterhaushalte“ schon coronabedingt wegen eingeschränkter Erwerbsmöglichkeiten um rund 19% gesunken war (vgl. OCHA, Strategic situation report: Covid 19, No. 92, 11.3.2021, S. 3). Schwer getroffen wurden insbesondere der Dienstleistungs- und Industriesektor, wodurch sich die Arbeitslosigkeit in den Städten erhöhte und die Armutsquote dort nunmehr 45,5% beträgt (vgl. World Bank Group, Afghanistan Development Update April 2021, S. 9). Gelder aus dem Westen – von welchen die afghanische Regierung zu 75% finanziert wurde (vgl. https://www…org/asia/south-asia/afghanistan/taliban-rule-begins-afghanistan) – wurden größtenteils eingestellt (vgl. https://www…de/wirtschaft-politik/die-wirtschaft-der-taliban-woher-kommt-das-viele-geld) bzw. ausländische Reserven in Höhe von 9 Mrd. US-$ von den USA eingefroren (vgl. BAMF, Briefing Notes v. 20.9.21). Die USA haben zuletzt verlautbaren lassen, dass den Taliban auch weiterhin kein Zugang zu den Geldern gewährt würde (vgl. https://www…com/economy/2021/10/19/us-taliban-will-have-no-access-to-afghan-central-bank-reserves), was auch die Weltbank am 9. November 2021 bestätigte (vgl. BAMF, Briefing Notes v. 15.11.2021, S. 2). Infolgedessen haben die Taliban mit einer steigenden Inflation, einer geschwächten Währung, steigender Arbeitslosigkeit, einer Liquiditätskrise und Verknappung essentieller Güter zu kämpfen (vgl. Lagebericht, S. 6; BAMF, Briefing Notes v. 20.9.21). Wesentlich für die Wirtschaft sei laut Bundesamt, so schnell wie möglich wieder Geld (Gehälter, Bankguthaben, Überweisungen) zu erhalten, um wieder in Fluss zu kommen (BAMF, Briefing Notes v. 3.1.2022, S. 2). Zwar wurden in den letzten Wochen von der Weltbank, den Vereinten Nationen, den USA und der EU Mittel in Höhe von mehreren 100 Millionen US-$ an humanitärer Hilfe zur Verfügung gestellt. Dennoch ist nicht anzunehmen, dass dies ausreichen wird. Für das Jahr 2022 geht das WFP davon aus, dass monatlich 220 Mio. US-$ für die Unterstützung Bedürftiger benötigt werden (vgl. BAMF, Briefing Notes v. 3.1.2022, S. 2). Laut eines aktuellen Aufrufs der UN besteht im Jahr 2022 ein Bedarf an humanitären Hilfen in Höhe von nahezu 5. Mrd. US-$ (vgl. https://www…com/news/2022/1/11/un-wants-5-bn-aid-for-afghanistan-in-2022). Afghanische Wirtschaftsanalysten glauben zudem, dass die internationalen Hilfen die wirtschaftliche Krise nicht verhindern können, solange die westlichen Gelder eingefroren bleiben (vgl. https://tolonews.com/afghanistan-175366). Selbst wenn alle Hilfsgelder ankommen würden – bislang hätten Berichten der UN zufolge 60 Mio. US-$ ihr Ziel erreicht (vgl. BAMF, Briefing Notes v. 28.11.21, S. 3; https://tolonews.com/afghanistan-175656) – würde die Summe von 8,5 Mrd. US-$ nicht erreicht, die Afghanistan zuvor aus dem Ausland erhalten hat (vgl. Afghanistan Analysts Network, Report v. 11.11.2021, a.a.O.). Vor diesem Hintergrund vermögen auch z.B. die 36 Tonnen an Hilfslieferungen aus Russland (u.a. Weizen, Zucker und Tee) sowie die einmalige Ausgabe von etwa 265 US-$ an Hilfsgeldern für 1.000 bedürftige Familien in Kabul (vgl. BAMF, Briefing Notes v. 6.12.2021, S. 2) die katastrophale humanitäre Lage nicht nennenswert verbessern. Die Pressesprecherin des Weißen Hauses gab am 14. Dezember 2021 bekannt, dass es weiterhin keine Pläne zur Freigabe der eingefrorenen Gelder gebe. Es müsse geprüft werden, inwiefern die Gelder direkt an die hilfesuchende Bevölkerung verteilt werden könnten, ohne dass die Taliban davon profitierten (vgl. https://tolonews.com/afghanistan-175883). Zudem ist äußerst zweifelhaft, ob internationale Hilfsorganisationen und NGOs, deren Mitarbeiter in der Vergangenheit bevorzugt Ziel von Gewalt gerade der Taliban waren, auf absehbare Zeit in der humanitären Krise tatsächlich Unterstützung leisten können (vgl. VG München, U.v. 12.1.2022 – M 24 K 21.30474 – UA Rn. 30 m.w.N.).
Eine andere, optimistischere Beurteilung ergibt sich auch nicht im Hinblick auf die individuellen Umstände des Klägers. Nach dessen Ausführungen leben in Afghanistan zwar noch seine Mutter, zwei Brüder, vier Schwestern und drei Onkel. Jedoch ist nicht anzunehmen, dass der Kläger im Falle einer Rückkehr auf deren Hilfe in ausreichendem Maße wird zurückgreifen können. Abgesehen davon, dass bereits unklar ist, ob es in der gegenwärtigen Situation ohne weiteres möglich ist, sich zwischen Kabul und den Provinzen frei fortzubewegen, um den Wohnsitz der Familie in M* … zu erreichen, kann nicht davon ausgegangen werden, dass diese bereit und – auch im Hinblick auf die oben geschilderte wirtschaftliche Lage in Afghanistan – in der Lage ist, den Kläger bei sich aufzunehmen und seinen Lebensunterhalt sicherzustellen. Von einem erwachsenen Mann wird in Afghanistan vielmehr erwartet, dass er maßgeblich zur Versorgung der Familie beiträgt und nicht auf deren Kosten lebt (vgl. VG München, U.v. 20.9.2021 – M 16 K 17.41335 – UA Rn. 46). Es ist daher davon auszugehen, dass der Kläger in Afghanistan niemanden mehr hat, der ihn hinreichend (finanziell) unterstützen oder durch Kontakte und Beziehungen den Zugang zum Wohnungs- oder Arbeitsmarkt erleichtern könnte. Die Ausgangslage des Klägers wird zusätzlich dadurch verschärft, dass Rückkehrer aus dem westlichen Ausland generell unter einer gewissen Diskriminierung und Stigmatisierung leiden und von der humanitären Krise in Afghanistan am stärksten betroffen sind (vgl. z.B. VG München, U.v. 12.1.2022 – M 24 K 21.30474 – UA Rn.31).
Nach alledem wird der Kläger bei einer Rückkehr nach Afghanistan nicht in der Lage sein, etwa durch Gelegenheitsarbeiten ein kleines Einkommen zu erwirtschaften und damit ein Leben am Rande des Existenzminimums zu bestreiten (vgl. a. Lagebericht S. 14). Es ist nicht anzunehmen, dass er sich auf dem extrem angespannten afghanischen Arbeitsmarkt (vgl. OCHA, Strategic situation report: Covid 19, No. 101 v. 15.7.2021, S. 2; Lagebericht, S. 4 ff.) gegen andere Mitbewerber durchzusetzen vermag, zumal er bereits seit ca. sechseinhalb Jahren nicht mehr in Afghanistan war und somit mit den dortigen Arbeitsverhältnissen, den Regeln, Sozial- und Verhaltenskodizes nicht mehr in einer Weise vertraut ist, dass er dem Misstrauen und den Vorurteilen der Bevölkerung, insbesondere potentieller Arbeitgeber, etwas entgegenzusetzen hätte (vgl. VG München. U.v. 20.9.2021 – M 16 K 17.41335 – UA Rn. 47; EASO Country Guidance: Afghanistan, Common analysis and guidance note, November 2021, S. 100). Die durchschnittliche Anzahl der Tage, an denen Gelegenheitsarbeiter Arbeit finden, liegt bei 1,4 Tagen pro Woche, was 42,1% weniger ist als in der letzten Juniwoche und in sechs Provinzen gibt es sogar keine Arbeitsmöglichkeiten mehr (vgl. BAMF, Briefing Notes v. 28.11.21, S. 3). Die meisten Haushalte geben an, dass nur noch an einem Tag pro Woche Arbeit für den Lebensunterhalt möglich wäre, unabhängig davon, ob als Tagelöhner oder in einem festen Arbeitsverhältnis (vgl. BAMF, Briefing Notes v. 3.1.2022, S. 2). Seit der Machtübernahme der Taliban haben ca. 500.000 Menschen ihre Arbeit verloren und laut einer Umfrage sind mittlerweile ca. 65% arbeitslos, wobei von den durchgehend Beschäftigten 90% ein Gehalt von weniger als umgerechnet 80,- € im Monat haben und nur ca. 4% genug Nahrung oder andere lebenswichtigen Güter für ihre Familien zum Überleben bereitstellen können (vgl. BAMF, Briefing Notes v. 24.1.2022, S.2). Auch das von der Taliban-Regierung am 24. Oktober 2021 angekündigte Beschäftigungsprogramm für Arbeitslose, die mit Weizen entlohnt werden sollen (vgl. BAMF, Briefing Notes v. 25. Oktober 2021, S. 1), ist lediglich für 40.000 Männer gedacht und wird den angespannten Arbeitsmarkt allenfalls geringfügig entlasten können. Viele Fabriken haben wegen fehlender Rohmaterialien geschlossen (vgl. BAMF, Briefing Notes, S. 2; https://tolonews.com/afghanistan-176007) und trotz der Versuche, die Menschen durch verbesserte Produktionsbedingungen in der Landwirtschaft oder Ausbildungsprojekte in Arbeit zu bringen, bleibt die Lage angespannt (vgl. BAMF, Briefing Notes v. 3.1.2022, S. 2). Auch Ärzte haben z.B. teilweise seit sechs Monaten keinen Lohn erhalten (BAMF, Briefing Notes v. 10.1.2022, S. 32).
Schließlich kann der Kläger auch nicht auf Rückkehrhilfen zurückgreifen, die neben finanziellen Hilfen z.B. für einen begrenzten Zeitraum eine Unterkunft bereitstellen oder bei der Suche behilflich sind. Denn diese sind aufgrund der sich stark verschlechternden Sicherheitslage in Afghanistan seit dem 17. August 2021 ausgesetzt (vgl. https://www…de/de/countries/afghanistan/). Personen können in Afghanistan wöchentlich nur 200,- US-$ von ihren Bankkonten abheben (BAMF, Briefing Notes v. 17.1.2022, S. 3; vgl. a. https://www…com/news/2021/10/29/afghanistan-us-funds-harsh-winter-taliban-economic-crisis; https://tolonews.com/afghanistan-174835) und Menschen sind oft gezwungen, ihr Hab und Gut zu verkaufen (vgl. BAMF, Briefing Notes v. 8.11.2021, S.3; 25.10.2021, S. 2; https://www…com/news/2021/9/13/afghans-sell-possessions-amid-cash-crunch-pending-economic-crisis). Überdies hat die Taliban-Regierung am 3. November 2021 die Benutzung fremder Währungen im Land verboten (vgl. BAMF, Briefing Notes v. 8.11.2021, S. 2; https://www…com/news/2021/11/2/taliban-bans-use-of-foreign-currency-across-afghanistan), wenngleich ein Sprecher der Taliban am 13. Dezember 2021 die Entscheidung der USA, private Geldsendungen nach Afghanistan zu erlauben, begrüßt und Einwohnern den Zugang zu Diensten wie Western Union oder MoneyGram zugesichert hat (vgl. BAMF, Briefing Notes v. 20.12.21, S. 2). Afghanistan steht vor einer katastrophalen Bargeldknappheit, die Banken und Unternehmen lahmlegt, die Preise für Lebensmittel und Treibstoff in die Höhe schnellen lässt und eine verheerende Hungerkrise ausgelöst hat (vgl. o. sowie ACCORD, Anfragebeantwortung Afghanistan: Humanitäre Lage v. 6.12.2021, S. 12).
Selbst wenn die in Deutschland lebende Familie des Klägers diesen finanziell unterstützen könnte, ist nicht davon auszugehen, dass der Kläger in Afghanistan auf dieses Geld auch zugreifen kann (vgl. https://www…com/news/2021/10/29/afghanistan-us-funds-harsh-winter-taliban-economic-crisis).
In der Gesamtschau ist daher nicht davon auszugehen, dass der Kläger sein Existenzminimum in Afghanistan erlangen kann, so dass die Anforderungen des § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK zu bejahen sind.
Ob daneben die Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG erfüllt sind, bedarf keiner Prüfung, da es sich beim national begründeten Abschiebungsverbot um einen einheitlichen und nicht weiter teilbaren Verfahrensgegenstand handelt (BVerwG, U.v. 8.9.2011 – 10 C 14.10 – BVerwGE 140,319 Rn. 16 f.).
Nach alledem war der Klage hinsichtlich § 60 Abs. 5 AufenthG stattzugeben (Nr. 4 des streitgegenständlichen Bescheids). Dementsprechend waren auch die Abschiebungsandrohung sowie das Einreise- und Aufenthaltsverbot aufzuheben (Nrn. 5 und 6 des Bescheids; vgl. § 34 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AsylG).
3. Die Kostenfolge ergibt sich aus § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. § 154 Abs. 1 VwGO bzw. – soweit die Klage zurückgenommen wurde – § 155 Abs. 2 VwGO und berücksichtigt die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zur Kostenteilung in Asylverfahren (vgl. z.B. B.v. 29.6.2009 – 10 B 60/08 – juris); Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83b AsylG).
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 Abs. 2 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.
4. Soweit der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe mit der am … Februar 2022 bei Gericht eingegangenen Erklärung zurückgenommen wurde, war das Verfahren nach § 92 Abs. 3 Satz 1 VwGO analog einzustellen.
Hinsichtlich Nr. I. Satz 1 sowie Nr. IV des Tenors ist die Entscheidung unanfechtbar (§ 80 AsylG).

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