Verwaltungsrecht

Asylrecht, Herkunftsland: Arabische, Republik Syrien, Widerruf der Flüchtlingseigenschaft, unerlaubtes Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge, Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren nicht ausreichend

Aktenzeichen  M 22 K 19.32955

Datum:
27.5.2022
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2022, 16094
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG § 73 Abs. 1 Satz 1
AufenthG § 60 Abs. 8 Satz 1 Alt. 2
BtMG § 29a

 

Leitsatz

1. I. Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 26. Juni 2019 wird in den Nrn. 1 und 2 aufgehoben.
2. II. Die Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
3. III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der Kläger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Die Klage ist zulässig und hat in der Sache Erfolg.
Der angefochtene Bescheid vom 26. Juni 2019 ist im nach § 77 Abs. 1 Halbs. 1 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO).
Das Bundesamt hat die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft in Nr. 1 des Bescheids zu Unrecht widerrufen hat (dazu unter 1.). Die Entscheidungen zum subsidiären Schutzstatus und zum Vorliegen von nationalen Abschiebungsverboten in Nrn. 2 und 3 des Bescheids sind als gemäß § 73 Abs. 3 AsylG akzessorische Entscheidungen zum Widerruf mit der Aufhebung des Widerrufs ebenfalls aufzuheben (dazu unter 2.).
1. Die Voraussetzungen für den in Nr. 1 des angefochtenen Bescheids aufgrund des Ausschlusstatbestands des § 60 Abs. 8 Satz 1 Alt. 2 AufenthG zwingend verfügten Widerruf liegen nicht vor.
1.1. Gemäß § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylG ist die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft unverzüglich zu widerrufen, wenn die Voraussetzungen für sie nicht mehr vorliegen. Dies ist gemäß § 73 Abs. 1 Satz 2 AsylG insbesondere der Fall, wenn der Ausländer nach Wegfall der Umstände, die zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft geführt haben, es nicht ablehnen kann, den Schutz des Staates in Anspruch zu nehmen, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt.
Die Prüfung, ob die Voraussetzungen für einen Widerruf vorliegen, hat gemäß § 73 Abs. 2a Satz 1 AsylG spätestens nach Ablauf von drei Jahren nach Unanfechtbarkeit der Entscheidung zu erfolgen. Ist nach der Prüfung ein Widerruf nicht erfolgt, steht eine spätere Entscheidung über den Widerruf gemäß § 73 Abs. 2a Satz 5 AsylG im Ermessen (des Bundesamts), es sei denn, der Widerruf erfolgt, weil die Voraussetzungen des § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG oder des § 3 Abs. 2 AsylG vorliegen oder weil das Bundesamt nach § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG von der Anwendung des § 60 Abs. 1 AufenthG abgesehen hat.
1.2. Die angefochtene Widerrufsverfügung hat die Beklagte auf den Ausschlusstatbestand des § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG (i.V.m. § 3 Abs. 4 AsylG) gestützt. Danach scheidet die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft aus, wenn der Ausländer aus schwerwiegenden Gründen als eine Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland angesehen ist oder eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er wegen eines Verbrechens oder besonders schweren Vergehens rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt worden ist. Bei einer Verurteilung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe ist es erforderlich, dass eine der gemäß § 54 oder § 55 Strafgesetzbuch (StGB) in die Gesamtstrafe einbezogenen Einzelstrafen eine mindestens dreijährige Freiheitsstrafe ist (BVerwG, U.v. 31.1.2013 – 10 C 17.12 – juris Rn. 12).
Vorliegend wurde der Kläger mit Urteil des Landgerichts T. … vom 8. Mai 2018 (rechtskräftig seit 8. November 2018) zwar zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt, dieser liegen allerdings einzelne Strafen zwischen „nur“ einem Jahr und zwei Jahren und sechs Monaten zugrunde. Insofern sind die Voraussetzungen für einen zwingenden Widerruf basierend auf § 60 Abs. 8 Satz 1 Alt. 2 AufenthG nicht gegeben.
1.3. Entgegen der Auffassung der Beklagten ist auch vor dem Hintergrund des mit Wirkung zum 17. März 2016 neu eingefügten Ausschlusstatbestands in § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG – wonach von der Anwendung des § 60 Abs. 1 AufenthG abgesehen werden, wenn der Ausländer eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten gegen das Leben, die körperliche Unversehrtheit, die sexuelle Selbstbestimmung, das Eigentum oder wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte rechtskräftig zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens einem Jahr verurteilt worden ist, sofern die Straftat mit Gewalt, unter Anwendung von Drohung mit Gefahr für Leib oder Leben oder mit List begangen worden ist oder eine Straftat nach § 177 des Strafgesetzbuches ist – keine andere rechtliche Beurteilung geboten (vgl. dazu die obergerichtliche Rechtsprechung: OVG RhPf, B.v. 28.4.2020 – 6 A 10318/20 – juris; OVG NW, B.v. 3.9.2020 – 14 A 1884/20.A – juris; so auch Geyer-Stadie in Oberhäuser, Migrationsrecht in der Beratungspraxis, 1. Aufl. 2019, § 16 Rn. 63; Koch in Kluth/Hornung/Koch, Handbuch Zuwanderungsrecht, 3. Aufl. 2020, § 5 Rn. 239). § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG lässt den Anwendungsbereich des § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG unberührt und begründet vielmehr eine im Ermessen der zuständigen Behörde gestellte, weitere Ermächtigungsgrundlage für die Annahme des Nichtbestehens eines Abschiebeverbots.
Ebenso ist eine mit dieser Gesetzesänderung verbundene Absicht des Gesetzgebers, auch im Rahmen des § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG für die Feststellung der tatbestandlich vorausgesetzten Mindeststrafe auf das Strafmaß einer verhängten Gesamtfreiheitsstrafe abzustellen, selbst wenn die Gesamtfreiheitsstrafe ausschließlich aus Einzelstrafen hervorgegangen ist, die jeweils für sich genommen die Mindestdauer von drei Jahren nicht erreichen, nicht erkennbar. In Kenntnis der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zu § 60 Abs. 8 Satz 1 Alt. 2 AufenthG hat der Gesetzgeber bei der Änderung des § 60 Abs. 8 AufenthG durch das Gesetz vom 11. März 2016 den Satz 1 der Vorschrift unverändert gelassen und damit auch keinen Handlungsbedarf für eine Korrektur dieser Rechtsprechung gesehen. Vor diesem Hintergrund vermögen die vorgetragenen gesetzessystematischen Erwägungen der Beklagten nicht zu überzeugen.
Vielmehr lassen die Gesetzesmaterialien den Willen des Gesetzgebers deutlich werden, den bis dahin bestehenden Regelungs- und Anwendungsbereich von § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG unberührt zu lassen. Nach der Gesetzesbegründung zu § 60 Abs. 8 AufenthG (vgl. BTDrucksache 18/7537, S. 9) wird die bisherige Rechtslage nämlich ausdrücklich auch insofern beibehalten, als ein Ausländer von der Flüchtlingsanerkennung ausgeschlossen ist, wenn er eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt worden ist. Daraus lässt sich nur die Absicht des Gesetzgebers ableiten, den Regelungsgehalt des § 60 Abs. 8 Satz 1 Alt. 2 AufenthG mit dem von der höchstrichterlichen Rechtsprechung verstandenen Anwendungsbereich unberührt zu lassen (so OVG RhPf, B.v. 28.4.2020 – 6 A 10318/20 – juris Rn. 9).
Hiergegen lässt sich auch nicht einwenden, dass dieser gesetzgeberische Wille durch das mit § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG insgesamt verfolgte Regelungsziel einer konsequenteren Versagung der Anerkennung als Flüchtling bei der Begehung von Straftaten überlagert wird. Ausgehend von der Erkenntnis, dass Art. 33 Abs. 2 der Genfer Flüchtlingskonvention und Art. 14 Abs. 4 b) der RL 2011/95/EU für den Ausschluss der Flüchtlingsanerkennung zwar keine Mindeststrafe vorsehen, jedoch die Feststellung erfordern, dass der Ausländer aufgrund seines persönlichen Verhaltens eine Gefahr für die Allgemeinheit darstellt, sollte sich die Einfügung des § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG in dem dadurch gezogenen Rahmen bewegen (BTDrucksache 18/7537, S. 9). Die Norm ermöglicht – anders als die gebundene Entscheidung nach § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG – der zuständigen Behörde eine Ermessenentscheidung über die Versagung der Rechtsstellung als Flüchtling bei konkret bezeichneten Straftaten und Tatbegehungsweisen. Die Gefahr für die Allgemeinheit knüpft dabei an Straftaten von erheblichem Ausmaß an, wie sie die Ereignisse der Silvesternacht 2015/2016 gezeigt haben (BT-Drucksache 18/7537, S. 5).
Bei dem – zwingenden – Ausschluss der Flüchtlingsanerkennung nach § 60 Abs. 8 Satz 1 Alt. 2 AufenthG soll hingegen nicht die besondere Art eines Verbrechens oder besonders schweren Vergehens, sondern gerade die Höhe der Mindeststrafgrenze die Annahme stützen, dass es sich bei dem Ausländer um einen besonders gefährlichen Täter handelt, der eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet (vgl. BVerwG, U.v. 31.1.2013 – 10 C 17.12 – juris Rn. 15; OVG RhPf, B.v. 28.4.2020 – 6 A 10318/20 – juris; OVG NW, B.v. 3.9.2020 – 14 A 1884/20.A – juris). Aufgrund dieser inhaltlichen und strukturellen Unterschiede der Ausschlusstatbestände nach § 60 Abs. 8 Satz 1 Alt. 2 und Satz 3 AufenthG vermag der Hinweis der Beklagten, der Gesetzgeber verfolge eine konsequentere Versagung der Anerkennung als Flüchtling bei der Begehung von Straftaten, eine damit verbundene Absicht einer Gleichbehandlung in Bezug auf die normierten Mindeststrafgrenzen nicht zu begründen. Vielmehr verbietet sich im Wege der Auslegung die beiden Ausschlusstatbestände entgegen ihres Wortlauts gleich zu behandeln.
1.4. Ebenso wenig sind vorliegend die Voraussetzungen des § 60 Abs. 8 Satz 2 AufenthG (i.V.m. § 3 Abs. 2 AsylG) oder des § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG erfüllt, da der Kläger – wie auch die Beklagte nicht geltend macht – keine der dort genannten Verbrechen bzw. Straftaten begangen hat. Ob die weitere, eng auszulegende Tatbestandsvoraussetzung der konkreten Wiederholungsgefahr gegeben ist, ist somit nicht mehr entscheidungserheblich.
2. Mit der Aufhebung der Widerrufsentscheidung in Nr. 1 des angefochtenen Bescheids besteht auch kein Anlass für eine weitere Entscheidung gemäß § 73 Abs. 3 AsylG über die Zuerkennung des subsidiären Schutzes gemäß § 4 AsylG oder über sonstige Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG, so dass die Nrn. 2 und 3 des streitgegenständlichen Bescheides ebenfalls aufzuheben waren.
3. Die Kostenfolge ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO; Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83b AsylG).
4. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 Abs. 2 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.


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