Verwaltungsrecht

Asylrecht, Herkunftsland: Jemen, Aufstockerklage, Leiter des Jugendforums, Hasched, Verfolgung durch die Huthi-Rebellen, Zwangsvorführungsbefehl, Verfolgung durch Südseparatisten

Aktenzeichen  M 17 K 20.31929

Datum:
13.4.2022
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2022, 15373
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
GG Art. 16a
AsylG § 3

 

Leitsatz

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagte vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Über den Rechtsstreit konnte trotz des Ausbleibens der Beklagten im Termin zur mündlichen Verhandlung entschieden werden, da das Bundesamt fristgemäß geladen und in der Ladung darauf hingewiesen wurde, dass bei Ausbleiben eines Beteiligten auch ohne diesen verhandelt und entschieden werden kann (§ 102 Abs. 2 VwGO).
Die zulässige Klage hat keinen Erfolg. Der angegriffene Bescheid ist zum nach § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG für die Beurteilung maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 5 VwGO).
Der Kläger hat keinen Anspruch auf Anerkennung als Asylberechtigter, Art. 16a GG, oder Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, § 3 AsylG.
Zur Begründung wird auf die Ausführungen des Bundesamts im angefochtenen Bescheid Bezug genommen, denen das Gericht folgt (§ 77 Abs. 2 AsylG).
Ergänzend wird Folgendes ausgeführt:
I. Nach § 3 Abs. 1 AsylG ist ein Ausländer Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtstellung der Flüchtlinge, wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten politischen Gruppe außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will.
Als Verfolgungshandlung gelten nach § 3a Abs. 1 AsylG Handlungen, die auf Grund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen (Nr. 1), in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nummer 1 beschriebenen Weise betroffen ist (Nr. 2). Zwischen den in § 3 Abs. 1 i.V.m. § 3b AsylG genannten Verfolgungsgründen und den Verfolgungshandlungen oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen muss eine Verknüpfung bestehen (§ 3a Abs. 3 AsylG). Verfolgung muss stattfinden, weil der Verfolger dem Ausländer das in Rede stehende Merkmal, z.B. eine bestimmte politische Überzeugung, zuschreibt. Ist dies der Fall, kommt es weder darauf an, ob der Betroffene die ihm zugeschriebene Überzeugung tatsächlich aufweist (§ 3b Abs. 2 AsylG) noch ob er aufgrund dieser tatsächlich tätig geworden ist (§ 3b Abs. 1 Nr. 5 AsylG).
Nach § 3c AsylG kann die Verfolgung ausgehen von dem Staat (Nr. 1), Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen (Nr. 2), oder nichtstaatlichen Akteuren, sofern die in den Nummern 1 und 2 genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder willens sind, im Sinne des § 3d AsylG Schutz vor Verfolgung zu bieten und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht (Nr. 3).
Die Furcht vor Verfolgung ist begründet, wenn dem Ausländer die oben genannten Gefahren aufgrund der in seinem Herkunftsland gegebenen Umstände in Anbetracht seiner individuellen Lage tatsächlich drohen. Hinsichtlich des Prognosemaßstabs ist bei der Prüfung der Flüchtlingseigenschaft in Orientierung an der Rechtsprechung des EGMR zu Art. 3 EMRK („real risk“) der Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit zugrunde zu legen, wie er vormals auch in Art. 2 Buchst. c) RL 2004/83/EG enthalten war und nunmehr in Art. 2 Buchst. d) RL 2011/95/EU in der Umschreibung „aus der begründeten Furcht vor Verfolgung“ zu Grunde liegt (vgl. BVerwG, U.v. 1.3.2012 – 10 C 7.11 – juris Rn. 12). Dieser Wahrscheinlichkeitsmaßstab setzt voraus, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine qualifizierende Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann (BVerwG, U.v. 20.2.2013 – 10 C 23.12 – juris Rn. 32). Wenn sich aus den Gesamtumständen des Falles die reale Möglichkeit einer Verfolgung ergibt, riskiert kein verständiger Mensch die Rückkehr in das Herkunftsland. Bei der Abwägung aller Umstände bezieht der verständige, besonnen und vernünftig denkende Betrachter auch die besondere Schwere des befürchteten Eingriffs in gewissem Umfang ein (vgl. BVerwG, U.v. 5.11.1991 – 9C 118/90 – juris Rn. 17).
Des Weiteren kommt sog. Vorverfolgten die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 der RL 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 (Qualifikationsrichtlinie) zugute. Danach ist die Tatsache, dass ein Ausländer bereits verfolgt wurde bzw. von solcher Verfolgung unmittelbar bedroht war, ein ernsthafter Hinweis darauf, dass seine Furcht vor Verfolgung begründet ist bzw. dass er tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass er erneut von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden bedroht wird (vgl. BVerwG, B.v. 17.9.2019 – 1 B 43.19 – juris Rn. 7 unter Verweis auf U.v. 27.4.2010 – 10 C 5.09 – juris Rn. 19). Die Beweiserleichterung nach Art. 4 Abs. 4 der Qualifikationsrichtlinie greift auch bei der Prüfung, ob für den Vorverfolgten im Gebiet einer internen Schutzalternative gemäß § 3 AsylG keine begründete Furcht vor Verfolgung besteht. Die hinter der Beweiserleichterung stehende Teleologie – der humanitäre Charakter des Asyls – verbietet es, einem Schutzsuchenden, der das Schicksal der Verfolgung bereits einmal erlitten hat, das Risiko einer Wiederholung solcher Verfolgung aufzubürden (vgl. BVerwG, U.v. 5.5.2009 – 10 C 21.08 – juris Rn. 22 ff. in Bezug auf die Vorgängervorschrift Art. 8 Abs. 1 RL 2004/83/EG).
Das Gericht muss dabei sowohl von der Wahrheit des vom Asylsuchenden behaupte ten individuellen Schicksals als auch von der Richtigkeit der Prognose drohender Verfolgung bzw. Schadens die volle Überzeugung gewinnen. Wegen der häufig bestehenden Beweisschwierigkeiten des Asylbewerbers kann schon allein sein eigener Sachvortrag zur Asylanerkennung führen, sofern sich das Tatsachengericht unter Berücksichtigung aller Umstände von dessen Wahrheit überzeugen kann (BVerwG, B.v. 21.7.1989 – 9 B 239.89 – juris Rn. 3). Dem persönlichen Vorbringen des Rechtssuchenden und dessen Würdigung kommt dabei besondere Bedeutung zu. Es ist Sache des Ausländers, die Gründe seiner Verfolgung und Bedrohung in schlüssiger Form vorzutragen (vgl. §§ 15, 25 AsylG). Dabei hat er unter Angabe genauer Einzelheiten einen in sich stimmige Sachverhalt zu schildern, aus dem sich bei dessen Wahrunterstellung ergibt, dass bei verständiger Würdigung Verfolgung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu befürchten hat. Hierzu gehört, dass der Asylbewerber zu den in seine eigene Sphäre fallenden Ereignissen, insbesondere zu seinen persönlichen Erlebnissen, eine Schilderung gibt, die geeignet ist, den behaupteten Asylanspruch lückenlos zu tragen (BVerwG, B.v. 26.10.1989 – 9 B 405.89 – juris Rn. 8). Daran fehlt es in der Regel, wenn der Schutzsuchende im Lauf des Verfahrens unterschiedliche Angaben macht und sein Vorbringen nicht auflösbare Widersprüche enthält, wenn seine Darstellungen nach der Lebenserfahrung oder aufgrund der Kenntnis entsprechender vergleichbarer Geschehensabläufe nicht nachvollziehbar erscheinen, und auch dann, wenn er sein Vorbringen im Laufe des Verfahrens steigert, insbesondere wenn er Tatsachen, die er für sein Begehren als maßgeblich bezeichnet, ohne vernünftige Erklärung erst sehr spät in das Verfahren einführt (HessVGH, U.v. 4.9.2014 – 8 A 2434/11.A – juris Rn. 15).
II. Unter Zugrundelegung dieser Maßstäbe ist das Gericht davon überzeugt, dass dem Kläger in seinem Heimatland nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung im vorstehenden Sinn droht.
Das Gericht ist aufgrund der Angaben des Klägers beim Bundesamt und im gerichtlichen Verfahren unter Berücksichtigung des persönlichen Eindrucks, den das Gericht von dem Kläger in der mündlichen Verhandlung gewonnen hat, nicht davon überzeugt, dass der Kläger vorverfolgt ausgereist ist bzw. ihm bei der Rückkehr in den Jemen eine Verfolgung i.S.v. § 3 AsylG droht.
1. Der Kläger ist nicht vorverfolgt aus den in § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG genannten flüchtlingsrelevanten Gründen ausgereist.
Maßgeblich für die Beurteilung einer Vorverfolgung sind hier allein die Vorfälle im Jahr 2018. Nicht relevant für die Vorverfolgung sind hingegen die geschilderten Vorkommnisse vor 2015, da der Kläger im Jahr 2015 erstmals ausreiste und im Mai 2018 aus freien Stücken wieder in den Jemen einreiste.
Der vom Kläger geschilderte Sachverhalt in S* …g (Beobachtung der Wohnung; Wohnungsdurchsuchung) erfüllt schon bei Wahrunterstellung nicht die Voraussetzungen des § 3a AsylG. Weder die einzelnen Vorfälle noch die Kumulierung mehrerer Vorfälle erreicht die für § 3a Abs. 1 AsylG notwendige Intensität. Darüber hinaus fehlt es auch nach Ansicht des Gerichts an der notwendigen Verknüpfung mit einem Verfolgungsgrund, § 3a Abs. 3 AsylG. Das klägerische Vorbringen in der Klagebegründung führt zu keinem abweichenden Ergebnis. Hierin wird lediglich darauf abgestellt, dass es sehr naheliege, dass der geschilderte Überfall in der Wohnung mit der Tätigkeit des Klägers in der Jugendorganisation des Stammes im Zusammenhang stehe. Eine konkrete Begründung hierfür fehlt indes.
Darüber hinaus bleiben die Angaben des Klägers zu den „Verfolgern“ vage und oberflächlich. Dass die Wohnungsdurchsuchung von den Südseparatisten durchgeführt worden sei, habe der Kläger lediglich aus einem späteren – nicht näher konkretisiertem – Schreiben erfahren.
2. Eine flüchtlingsrelevante Verfolgung lässt sich auch nicht aus der vorgetragenen Befürchtung des Klägers folgern, im Falle einer Rückkehr von den Huthis oder den Südseparatisten getötet zu werden.
a) Es ist nicht beachtlich wahrscheinlich, dass der Kläger Verfolgungshandlungen seitens der Huthis ausgesetzt sein wird.
Aus den dem Gericht vorliegenden Erkenntnismitteln ergibt sich, dass die Huthi-Rebellen politische Gegner in zahlreichen Fällen gefangen genommen und inhaftiert haben. Der „Specialized Cirminal Court“ wird dafür benutzt, abweichende Meinungen zu unterdrücken und politische Gegner einzuschüchtern (US DOS, Country Report on Human Rights Practices 2020, 30.3.2021, S. 11 f.). Meinungsfreiheit wird von allen Konfliktparteien eingeschränkt. Es wird von Fällen berichtet, in denen Huthis zu den Häusern von Huthikritischen Aktivisten gingen und mit Verhaftung und anderen Mitteln drohten, um vermeintliche Gegner einzuschüchtern und abweichende Meinungen zum Schweigen zu bringen (US DOS, Country Report on Human Rights Practices 2020, 30.3.2021, S. 20). Aktivisten sind mit gewaltsamen Angriffen und Verschwindenlassen vonseiten aller Konfliktparteien konfrontiert (BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, 16.12.2019, S. 22).
Der Stamm Hasched ist – neben dem Bakil Stamm – einer der beiden größten Stämme im Nordjemen. Er wird als Stamm mit geographischem und politischen Einfluss beschrieben. Stammesmitglieder dominieren seit 1962 die politischen und militärischen Eliten des Jemen; so gehört auch der frühere Präsident Saleh diesem Stamm an. Die Huthis sehen den Stamm aufgrund dessen Engagement auf Seiten der Regierung als Gegner an. Zuletzt hat der Stamm allerdings an politischem Einfluss verloren (The Assessment Capacities Project (ACAPS), Tribes in Yemen, 1.8.2020, S. 15).
aa) Die bloße Zugehörigkeit zum Stamm Hasched führt nicht zu einer beachtlich wahrscheinlichen Verfolgung durch die Huthis.
Die Gefahr eigener Verfolgung für einen Ausländer, der die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 AsylG begehrt, kann sich nicht nur aus gegen ihn selbst gerichteten Maßnahmen ergeben (anlassgeprägte Einzelverfolgung), sondern auch aus gegen Dritte gerichteten Maßnahmen, wenn diese Dritten wegen eines asylerheblichen Merkmals verfolgt werden, das er mit ihnen teilt, und wenn er sich mit ihnen in einer nach Ort, Zeit und Wiederholungsträchtigkeit vergleichbaren Lage befindet (Gefahr der Gruppenverfolgung). Dabei ist je nach den tatsächlichen Gegebenheiten auch zu berücksichtigen, ob die Verfolgung allein an ein bestimmtes unverfügbares Merkmal wie die Religion anknüpft oder ob für die Bildung der verfolgten Gruppe und die Annahme einer individuellen Betroffenheit weitere Umstände oder Indizien hinzutreten müssen. Die Annahme einer alle Gruppenmitglieder erfassenden gruppengerichteten Verfolgung setzt – abgesehen von den Fällen eines (staatlichen) Verfolgungsprogramms – ferner eine bestimmte „Verfolgungsdichte“ voraus, welche die „Regelvermutung“ eigener Verfolgung rechtfertigt. Hierfür ist die Gefahr einer so großen Vielzahl von Eingriffshandlungen in flüchtlingsrechtlich geschützte Rechtsgüter erforderlich, dass es sich dabei nicht mehr nur um vereinzelt bleibende individuelle Übergriffe oder um eine Vielzahl einzelner Übergriffe handelt. Die Verfolgungshandlungen müssen vielmehr im Verfolgungszeitraum und Verfolgungsgebiet auf alle sich dort aufhaltenden Gruppenmitglieder zielen und sich in quantitativer und qualitativer Hinsicht so ausweiten, wiederholen und um sich greifen, dass daraus für jeden Gruppenangehörigen nicht nur die Möglichkeit, sondern ohne weiteres die aktuelle Gefahr eigener Betroffenheit entsteht. Voraussetzung für die Annahme einer Gruppenverfolgung ist ferner, dass die festgestellten Verfolgungsmaßnahmen die von ihnen Betroffenen gerade in Anknüpfung an asylerhebliche Merkmale treffen. Ob eine in dieser Weise spezifische Zielrichtung vorliegt, die Verfolgung mithin „wegen“ eines der in § 3b AslyG genannten Merkmale erfolgt, ist anhand ihres inhaltlichen Charakters nach der erkennbaren Gerichtetheit der Maßnahme selbst zu beurteilen, nicht nach den subjektiven Gründen oder Motiven, die den Verfolgenden dabei leiten. Darüber hinaus gilt auch für die Gruppenverfolgung, dass sie mit Rücksicht auf den allgemeinen Grundsatz der Subsidiarität des Flüchtlingsrechts den Betroffenen einen Schutzanspruch im Ausland nur vermittelt, wenn sie im Herkunftsland landesweit droht, d.h. wenn auch keine innerstaatliche Fluchtalternative besteht, die vom Zufluchtsland aus erreichbar sein muss (BVerwG, U.v. 21.4.2009 – 10 C 11.08 – juris Rn. 13 m.w.N.)
Ob Verfolgungshandlungen gegen eine bestimmte Gruppe von Menschen in deren Herkunftsstaat die Voraussetzungen der Verfolgungsdichte erfüllen, ist von den Tatsachengerichten aufgrund einer wertenden Betrachtung im Sinne der Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung zu entscheiden. Dabei muss zunächst die Gesamtzahl der Angehörigen der von Verfolgungshandlungen betroffenen Gruppe ermittelt werden. Weiter müssen Anzahl und Intensität aller Verfolgungsmaßnahmen, gegen die Schutz weder von staatlichen Stellen noch von staatsähnlichen Herrschaftsorganisationen einschließlich internationaler Organisationen zu erlangen ist, möglichst detailliert festgestellt und hinsichtlich der Anknüpfung an ein oder mehrere unverfügbare nach ihrer objektiven Gerichtetheit zugeordnet werden. Alle danach gleichgearteten, auf eine nach denselben Merkmalen zusammengesetzte Gruppe bezogenen Verfolgungsmaßnahmen müssen schließlich zur ermittelten Größe dieser Gruppe in Beziehung gesetzt werden, weil eine bestimmte Anzahl von Eingriffen, die sich für eine kleine Gruppe von Verfolgten bereits als bedrohlich erweist, gegenüber einer großen Gruppe vergleichsweise geringfügig erscheinen kann (BVerwG, U.v. 21.4.2009 – 10 C 11.08 – juris Rn. 15 m.w.N.) Dabei ist es häufig nicht möglich, aber auch nicht erforderlich, die zahlenmäßigen Grundlagen der gebotenen Relationsbetrachtung zur Verfolgungsdichte mit quasi naturwissenschaftlicher Genauigkeit festzustellen. Vielmehr reicht es aus, die ungefähre Größenordnung der Verfolgungsschläge zu ermitteln und sie in Beziehung zur Gesamtgruppe der von Verfolgung Betroffenen zu setzen. Bei unübersichtlicher Tatsachenlage und nur bruchstückhaften Informationen aus einem Krisengebiet darf ein Tatsachengericht auch aus einer Vielzahl ihm vorliegender Einzelinformationen eine zusammenfassende Bewertung des ungefähren Umfangs der asylerheblichen Verfolgungsschläge und der Größe der verfolgten Gruppe vornehmen. Auch für die Annahme einer erheblichen Dunkelziffer nicht bekannter Übergriffe müssen die gerichtlichen Feststellungen zur Größenordnung der Gesamtheit der Anschläge aber in nachvollziehbarer und überprüfbarer Weise begründet werden (BayVGH, U.v. 19.4.2021 – 11 B 19.30575 – juris Rn. 50 mit Verweis auf BVerwG, U.v. 21.4.2009 – 10 C 11.08 – juris Rn. 19).
Nach Angaben des Klägers hat der Stamm ca. 100.000 Mitglieder. Aus den dem Gericht vorliegenden Erkenntnismitteln ergibt sich schon nicht, dass Stammesmitglieder aufgrund ihrer Stammeszugehörigkeit Verfolgungshandlungen seitens der Huthis ausgesetzt sind. Das pauschale Vorbringen des Klägers, dass die Huthis bereits viele Freunde und Stammesmitglieder getötet hätten, genügt, gerade vor dem Hintergrund des jedenfalls in der Vergangenheit andauernden Konflikts in der Region um S* …, für eine andere Bewertung nicht. Von einer großen Vielzahl von Eingriffshandlungen in flüchtlingsrechtlich geschützte Rechtsgüter kann daher nicht ausgegangen werden.
bb) Eine Verfolgung des Klägers durch die Huthis ist auch nicht aufgrund seines Engagements im Jugendforum seines Stammes beachtlich wahrscheinlich.
Von einem übergeordneten Interesse der Huthis an dem Kläger und einer Verfolgung im Fall einer Rückkehr ist nicht auszugehen. Das gilt umso mehr, als dass der Kläger nach eigenen Angaben seit seiner Zeit in Deutschland nicht mehr (so) aktiv für seinen Stamm tätig ist und seit seiner Ausreise aus dem Huthi-Gebiet mittlerweile knapp sieben Jahre vergangen sind. Weiterhin konnte sich der Kläger – trotz seiner vorgetragenen exponierten Person innerhalb des Stammes – über Monate in Huthi-Gebieten versteckt halten und mehrmals seinen Standort wechseln, ohne angegriffen zu werden.
Die Begründung des Klägers, wie er A* … im Juni 2015 verlassen haben will (vgl. Bl. 94 d. BA), ist nicht schlüssig. So gab der Kläger an, dass A* … in dem Zeitraum, in dem er sich dort befunden habe, unter der Kontrolle der Huthis gestanden habe (S. 4 d. Niederschrift). Er habe A* … dann am Fest des Fastenbrechens in einem Auto mit vielen Frauen verlassen, wodurch er sich einer Kontrolle durch die Huthis entzogen habe. Allerdings dauerte der Fastenmonat Ramadan im Jahr 2015 von Mitte Juni bis Mitte Juli (https://de.wikipedia.org/wiki/Ramadan; zuletzt abgerufen am 27.04.2022), wodurch das Fest des Fastenbrechens nicht im Juni 2015, sondern erst im Juli 2015 stattgefunden hat.
Hinsichtlich des Zwangsvorführungsbefehls, den der Kläger bereits beim Bundesamt vorlegte, existieren unauflösbare Widersprüche. So gab der Kläger beim Bundesamt zunächst an, dass er sich schon vor Erhalt des Schreibens in S* … versteckt gehalten habe (Bl. 91 d. BA). Später führt der Kläger aus, dass er sich in A* … bei Verwandten versteckt habe (Bl. 94 d. BA). In der mündlichen Verhandlung wiederum gab der Kläger an, dass er sich zu diesem Zeitpunkt bei einem Freund in A* … versteckt habe (S. 3 d. Niederschrift).
Keine andere Prognose ergibt sich aus dem vom Kläger im gerichtlichen Verfahren erstmals vorgelegten Unterlagen. Dabei ist schon nicht ersichtlich, warum diese so spät in das Verfahren eingeführt wurden. Die pauschale Behauptung, dass sich die Unterlagen auf einem USB-Stick befunden hätten, die dem Kläger erst nach Klageerhebung zugespielt worden seien, genügt hierfür nicht. Dies gilt insbesondere vor dem Hintergrund, dass der Kläger schon beim Bundesamt eine Vielzahl von Unterlagen vorlegte und insbesondere hinsichtlich des Telegramms beim Bundesamt keinerlei Ausführungen machte.
Hinsichtlich der Bescheinigung des Jugendforums Hasched ist zudem auszuführen, dass diese widersprüchliche Datumsangaben enthält. Während das Schreiben auf den „01.10.2020“ datiert ist, bescheinigt es die Positionierung des Klägers als Leiter des Jugendforums „seit 01.2014 bis zum heutigen Datum 01.10.2014“. Selbst wenn man zugunsten des Klägers davon ausgeht, dass die Tätigkeit bis 1. Oktober 2020 als „heutigen Datum“ bestätigt werden soll, steht dies im Widerspruch zu den Angaben des Klägers beim Bundesamt, wonach er zwar „noch eine Funktion Medien und Veröffentlichen“ innehabe, aber seit seiner Ankunft in Deutschland nichts mache (Bl. 95 d. BA). In der mündlichen Verhandlung gab der Kläger auf Nachfrage des Gerichts an, dass „in letzter Zeit weniger Aktivität geschehen sei aufgrund seines Schulbesuchs“ (S. 5 d. Niederschrift). Inwiefern sich hieraus eine leitende Position ergeben soll, erschließt sich dem Gericht nicht.
Auch das erstmals vorgelegte Schreiben vom 4. Januar 2020, in dem die Lohnpfändung des Bruders des Klägers thematisiert wird, macht eine Verfolgung i.S.v. § 3 AsylG nicht beachtlich wahrscheinlich. Hieraus ergibt sich schon nicht, was dem Kläger vorgeworfen wird.
b) Es ist nicht beachtlich wahrscheinlich, dass der Kläger Verfolgung seitens der Südseparatisten ausgesetzt sein wird. Insgesamt blieb der Vortrag des Klägers in der mündlichen Verhandlung in diesem Zusammenhang vage und oberflächlich.
Die bloße Zugehörigkeit zum Stamm Hasched führt nicht zu einer beachtlich wahrscheinlichen Verfolgung durch die Südseparatisten. Aus den dem Gericht vorliegenden Erkenntnismitteln ergibt sich schon nicht, dass Stammesmitglieder aufgrund ihrer Stammeszugehörigkeit Verfolgungshandlungen seitens der Südseparatisten ausgesetzt sind. Auch der Kläger bringt hierzu nichts vor. Von einer großen Vielzahl von Eingriffshandlungen in flüchtlingsrechtlich geschützte Rechtsgüter kann daher nicht ausgegangen werden.
Eine Verfolgung des Klägers durch die Südseparatisten ist auch nicht aufgrund seines Engagements im Jugendforum seines Stammes beachtlich wahrscheinlich. Es ist nicht erkennbar, dass die Südseparatisten ein besonderes Interesse an dem Kläger haben. Hinsichtlich der vorgetragenen Vorfälle in S* …g steht schon nicht zur Überzeugung des Gerichts fest, dass diese von den Südseparatisten ausgingen, vgl. Rn. 30. Auch das Telegramm führt zu keiner anderen Bewertung. Hinsichtlich der späten Vorlage des Telegramms und dessen Nichterwähnung in der Bundesamtsanhörung wird auf Rn. 43 verwiesen. Inhaltlich ist jedenfalls die Übersetzung des Telegramms lückenhaft: Während oben als Datum „25.09.201“ ohne Kenntlichmachen einer Unlesbarkeit etc. genannt wird, wird weiter unten der „25.09.2018“ ausgeführt. Selbst wenn man auch insofern von einer Übersetzungsungenauigkeit ausgeht, ist nicht nachvollziehbar, wie der Kläger das Telegramm erhalten haben will. Auf ausdrückliche Nachfrage des Gerichts gab der Kläger nur an, dass er Bestechungsgelber bezahlt habe und es sich um ein internes Dokument gehandelt habe (S. 5 d. Niederschrift). Weitere Angaben, wen er bestochen habe, machte der Kläger nicht. Weiterhin gab der Kläger an, dass er am 10. oder 11. September 2018 aus dem Jemen ausgereist sei (S. 4 d. Niederschrift). Wie er von Saudi-Arabien aus, wohin er nach eigenen Angaben ausreiste (Bl. 2 d. BA), jemanden bestochen haben will, der ihm ein auf den 25. September 2018 datiertes Telegramm zukommen ließ, erschließt sich dem Gericht nicht.
III. Nach alledem ist auch die Ablehnung des Antrags auf Anerkennung als Asylberechtigter nach Art. 16a Abs. 1 GG nicht zu beanstanden, da nach Ablehnung des (weiteren) internationalen Schutzes auch die engeren Voraussetzungen für eine Anerkennung als Asylberechtigter nicht vorliegen können.
IV. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.
Das Verfahren ist gemäß § 83b AsylG gerichtskostenfrei.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 Abs. 2 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.


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