Verwaltungsrecht

Asylrecht, Herkunftsland: Nigeria, Bestandskräftiger Drittstaatenbescheid, Spätere Mitteilung über Nichtgewährung internationalen Schutzes in Italien, Änderung des Zielstaates der Abschiebungsandrohung in neuem Bescheid, Fehlende Unzulässigkeitsentscheidung über Zweitantrag, Keine Umdeutung von § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG in § 29 Abs. 1 Nr. 5 AsylG, Keine gerichtliche Entscheidung über Abschiebungsverbote vor Zulässigkeitsentscheidung des Bundesamtes

Aktenzeichen  M 13 K 21.30802

Datum:
21.1.2022
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2022, 1732
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 2
AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 5
VwVfG § 47

 

Leitsatz

Tenor

I. Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 18. März 2021 wird aufgehoben. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen. 
II. Die Parteien tragen die Kosten des Verfahrens je zur Hälfte.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige Kostenschuldner darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der jeweilige Vollstreckungsgläubiger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Die Klage ist im aus dem Tenor ersichtlichen Umfang zulässig und begründet, im Übrigen bereits unzulässig.
Über die Klage konnte trotz des Ausbleibens der Beklagten verhandelt und entschieden werden, da sie ordnungsgemäß geladen und in der Ladung auf die Folge des Ausbleibens gem. § 102 Abs. 2 VwGO hingewiesen worden ist.
I. Die Entscheidung des Bundesamtes über die Feststellung von Abschiebungsverboten sowie die Entscheidung über die Abänderung der Abschiebungsandrohung in eine solche nach Italien ist zum entscheidungserheblichen Zeitpunkt (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 1 AsylG) rechtswidrig und verletzt die Kläger in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
Denn eine Entscheidung über die Feststellung des Nichtvorliegens von Abschiebungsverboten hinsichtlich Nigeria und eine entsprechende Abschiebungsandrohung hätte nach der Prüfungssystematik des Asylverfahrens ohne entsprechende Zulässigkeits- bzw. Unzulässigkeitsentscheidung nicht ergehen dürfen.
1. Das Bundesamt hat gem. § 24 Abs. 2 AsylG und § 31 Abs. 1 Satz 1 AsylG für die Entscheidung über Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 AufenthG und gem. § 34 Abs. 1 Satz 1 AsylG auch für den Erlass einer Abschiebungsandrohung eine Annexkompetenz im Rahmen der Asylantragsprüfung (vgl. Heusch in BeckOK AuslR, Stand 1.10.2021, AsylG, § 31 Rn. 19 ff. und § 34 Rn. 10). Nach § 31 Abs. 3 Satz 1 Alt. 2 AsylG ist in Entscheidungen über unzulässige Asylanträgen festzustellen, ob die Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 und Abs. 7 AufenthG vorliegen. Dadurch wird das gesetzlich fixierte Entscheidungsprogramm des Bundesamtes insoweit gestaffelt, dass über ein Abschiebungsverbot jedenfalls erst nach einer Unzulässigkeitsentscheidung hinsichtlich des Asylantrags zu befinden ist. Dadurch soll grundsätzlich gewährleistet werden, dass Schutz vorrangig auf derjenigen Stufe zu gewähren ist, die den umfangreichsten Schutz vermitteln kann (vgl. BVerwG, U. v. 27. Mai 2021 – 1 C 36.20 – juris Rn 16).
Eine Entscheidung über die im Prüfprogramm des Bundesamtes enthaltenen Abschiebungsandrohungen sowie der Erlass einer Abschiebungsandrohung nach § 34 Abs. 1 Satz 1 AsylG i.V.m. §§ 59 und 60 Abs. 10 AsylG ohne eine entsprechende Unzulässigkeitsentscheidung ist jedenfalls verfrüht ergangen (vgl. BVerwG, U. v. 14.12.2016 – 1 C 4/16 – juris Rn. 21).
2. Eine Unzulässigkeitsentscheidung, die nach diesen Maßstäben einer Entscheidung über ein Abschiebungsverbot und dem Erlass einer Abschiebungsandrohung hinsichtlich Nigerias hätte vorausgehen müssen, wurde vom Bundesamt nicht getroffen.
a. Nach der Mitteilung des Italienischen Innenministeriums vom 9. September 2019 steht hinreichend sicher fest, dass den Kläger in Italien ein internationaler Schutz nicht gewährt, sondern der Asylantrag abgelehnt worden ist. Auch die vorgelegten Pässe („Permesso Di Soggiorno“) weisen eine Schutzgewährung lediglich aus humanitären Gründen („motivi umanitari“) bzw. aus familiären Gründen („motivi familiari“) aus, sodass daraus kein Schluss auf eine Gewährung internationalen Schutzes gezogen werden kann (vgl. BayVGH, U. v. 15.2.2018 – 10 ZB 17.30437 – juris Rn. 7).
Dementsprechend stellt der beim Bundesamt gestellte Asylantrag aufgrund des erfolglosen Abschlusses eines Asylverfahrens in einem sicheren Drittstaat einen Zweitantrag im Sinne des § 71a AsylG dar. Somit hätte eine Entscheidung über die Abschiebungsverbote und die Abschiebungsandrohung hinsichtlich Nigerias erst ergehen können, wenn über den Zweitantrag gem. § 71a AsylG eine Unzulässigkeitsentscheidung nach § 29 Abs. 1 Nr. 5 AsylG getroffen worden wäre. Eine solche Prüfung und Entscheidung lässt sich aber weder dem Tenor noch den Gründen des Bescheides vom 18. März 2021 entnehmen.
Die bestandskräftige Unzulässigkeitsentscheidung nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG bietet keine Grundlage für eine Entscheidung über Abschiebungsverbote und den Erlass einer Abschiebungsandrohung hinsichtlich Nigerias. Denn das nationale Abschiebungsverbot ist zielstaatsbezogen. Dabei können abhängig vom Ausgang des Asylverfahrens unterschiedliche Staaten in den Blick zu nehmen sein (vgl. BVerwG, U. v. 27.5.2021 – 1 C 36.20 – juris Rn. 17). So ist bei einer Unzulässigkeitsentscheidung nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG wegen der Annahme einer Schutzgewährung in einem Mitgliedsstaat die Abschiebung nicht in den Herkunftsstaat, sondern gem. § 35 AsylG in den Mitgliedstaat anzudrohen, sodass sich auch die Prüfung eines Abschiebungsverbots auf diesen Staat zu beziehen hat.
b. Es ist auch keine Umdeutung der Unzulässigkeitsentscheidung der Nr. 1 des Bescheids vom 22. August 2017 (Az. …-232) möglich.
Nach § 47 Abs. 1 VwVfG kann ein fehlerhafter Verwaltungsakt in einen anderen Verwaltungsakt umgedeutet werden, wenn er auf das gleiche Ziel gerichtet ist, von der erlassenden Behörde in der geschehenen Verfahrensweise und Form rechtmäßig hätte erlassen werden können und wenn die Voraussetzungen für dessen Erlass vorliegen. Nach § 47 Abs. 2 Satz 1 Alt. 2 VwVfG ist eine Umdeutung nicht möglich, wenn die Rechtsfolgen des Verwaltungsakts ungünstiger wäre als die des fehlerhaften Verwaltungsakts.
Letzteres ist bei einer Unzulässigkeitsentscheidung nach § 29 Abs. 1 Nr. 5 AsylG im Vergleich zu einer Unzulässigkeitsentscheidung nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG der Fall, da dem oder der Betroffenen statt einer Abschiebung in einen Mitgliedsstaat, der bereits Schutz gewährt hat, eine Abschiebung in jeden zur Aufnahme bereiten Staat einschließlich seines Herkunftsstaates droht (vgl. BVerwG, U. v. 21.11.2017 – 1 C 39/16 – juris Rn. 45).
Der Bescheid vom 22. August 2017 (Az. …-232) stützt sich ausweislich der Gründe wegen einer angenommenen Schutzgewährung in Italien auf eine Unzulässigkeit des Asylantrags nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG. Aufgrund der rechtlichen Schlechterstellung durch eine Unzulässigkeitsentscheidung nach § 29 Abs. 1 Nr. 5 AsylG kann die ursprüngliche Unzulässigkeitsentscheidung nicht in die fehlende Entscheidung des Bundesamtes nach § 71a i.V.m. § 29 Abs. 1 Nr. 5 AsylG umgedeutet werden.
II. Hinsichtlich des unbedingt gestellten Verpflichtungsanspruchs auf Feststellung von Abschiebungsverboten ist die Klage damit bereits unzulässig, da die Kläger zum Entscheidungszeitpunkt (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG) keinen Anspruch auf eine gerichtliche Sachentscheidung zu einer Feststellung von Abschiebungsverboten hinsichtlich Nigeria geltend machen können (§ 42 Abs. 2 VwGO). Denn eine Entscheidung über die Zulässigkeit und/oder Begründetheit des Zweitantrags als zwingend erforderliche Vorstufe einer Entscheidung über nationale Abschiebungsverbote hinsichtlich Nigerias ist noch nicht ergangen. Eine Entscheidung über ein Abschiebungsverbot wäre damit verfrüht (vgl. BVerwG, U. v. 14.12.2016 – 1 C 4/16 – juris Rn. 21).
Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist es nicht Aufgabe des Tatsachengerichts, eine zu Unrecht verweigerte Sachprüfung erstmals vorzunehmen; vielmehr hat diese Prüfung vorrangig das Bundesamt als mit besonderem Sachverstand ausgestattete Fachbehörde nachzuholen (vgl. BVerwG, U. v. 27.5.2021 – 1 C 36/20 – juris Rn. 12 ff.; U. v. 14.12.2016 – 1 C 4/16 – juris Rn. 19 ff.). Gleiches muss für eine Zulässigkeitsprüfung auf erster Stufe des Asylverfahrens gelten, wenn eine Unzulässigkeitsentscheidung nicht zu Unrecht verweigert, sondern die Zulässigkeit des Zweitantrags nach § 71a i.V.m. § 29 Abs. 1 Nr. 5 AsylG noch gar nicht geprüft worden ist. Es ist somit nicht Aufgabe des Gerichts, anstelle des Bundesamts über eine Unzulässigkeit des Asylantrags gem. § 71a i.V.m. § 29 Abs. 1 Nr. 5 AsylG und in der Folge über das Bestehen von Abschiebungsverboten hinsichtlich Nigerias zu entscheiden.
III. Die Kostenentscheidung beruht auf § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Aufgrund des jeweiligen Unterliegens in einem der zwei Streitgegenständen sind die Kosten hälftig zu teilen. Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83b AsylG).
IV. Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit der Kosten und zur Abwendungsbefugnis beider Beteiligter beruht auf § 167 Abs. 2 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 VwGO.


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