Verwaltungsrecht

Aufenthaltserlaubnis zum Ehegattennachzug

Aktenzeichen  10 B 18.1223

Datum:
17.8.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 20621
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AufenthG § 5 Abs. 2 S. 1, § 10 Abs. 1, Abs. 3, § 28 Abs. 1 S. 1 Nr. 1, § 99 Abs. 1 Nr. 2
AufenthV § 39 S. 1 Nr. 1
AsylG § 71
VwGO § 101 Abs. 2, § 113 Abs. 5 S.1

 

Leitsatz

Entscheidend für die Anwendung des § 39 Satz 1 Nr. 1 AufenthV ist, dass der Ausländer zum Zeitpunkt der Antragstellung eine Aufenthaltserlaubnis besitzt. (Rn. 32)

Verfahrensgang

Au 1 K 16.579 2016-09-20 Urt VGAUGSBURG VG Augsburg

Tenor

I. Die Berufung wird zurückgewiesen.
II. Die Beklagte trägt die Kosten des Berufungsverfahrens.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe des zu vollstreckenden Betrages leistet.
IV. Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe

Die zulässige Berufung, über die der Senat gemäß § 125 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 101 Abs. 2 VwGO ohne mündliche Verhandlung entscheidet, ist nicht begründet. Das Verwaltungsgericht hat mit dem angefochtenen Urteil die Beklagte zu Recht dazu verpflichtet, dem Kläger eine Aufenthaltserlaubnis zum Ehegattennachzug zu erteilen. Der Kläger hat hierauf einen Anspruch (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO), weil die Tatbestandsvoraussetzungen nach § 27 Abs. 1 i.V.m. § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG sowie die allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen nach § 5 Abs. 1 AufenthG vorliegen.
Der Erteilung der Aufenthaltserlaubnis steht nicht die Sperrwirkung des § 10 Abs. 3 Satz 1 AufenthG entgegen, da dem Kläger die Ausnahmeregelung des § 10 Abs. 3 Satz 3 Halbs. 1 AufenthG zugutekommt.
a) Nach § 10 Abs. 3 Satz 1 AufenthG darf einem Ausländer, dessen Asylantrag unanfechtbar abgelehnt worden ist, vor der Ausreise ein Aufenthaltstitel nur nach Maßgabe des Kapitels 2 Abschnitt 5 des Aufenthaltsgesetzes erteilt werden. Diese Vorschrift steht daher grundsätzlich der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zum Familiennachzug entgegen. Die daraus folgende Erteilungssperre wird auch durch die Erteilung und Verlängerung eines humanitären Aufenthaltstitels – hier einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG – nicht aufgehoben (BVerwG, U.v. 26.5.2020 – 1 C 12.19 – juris Rn. 48).
Im Fall des Klägers hat zwar nicht sein im Jahr 1998 erfolglos abgeschlossenes Asylverfahren diese Sperrwirkung ausgelöst, da ihm im Jahr 2004 nach Durchführung eines Visumverfahrens eine Aufenthaltserlaubnis zum Familiennachzug erteilt worden war. Die Sperrwirkung des § 10 Abs. 3 Satz 1 AufenthG wurde aber ausgelöst durch seinen ebenfalls (ohne Durchführung eines weiteren Asylverfahrens) abgelehnten Folgeantrag aus dem Jahr 2007. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist auch ein Folgeantrag nach § 71 AsylG oder ein Zweitantrag nach § 71a AsylG ein „Asylantrag“ im Sinn des § 10 Abs. 1 AufenthG (BVerwG, U.v. 12.7.2016 – 1 C 23.15 – juris Rn. 12 ff.; ebenso OVG LSA, B.v. 26.5.2015 – 2 L 18/14 – juris Rn. 15; OVG MV, U.v. 10.3.2010 – 2 L 18/09 – juris Rn. 9). Für den Begriff des „Asylantrags“ in § 10 Abs. 3 AufenthG kann wegen des einheitlichen Regelungsgehalts der Vorschrift nichts anderes gelten. Auch § 71 Abs. 1 Satz 1 AsylG definiert den Folgeantrag als erneuten „Asylantrag“ nach Rücknahme oder unanfechtbarer Ablehnung eines früheren Asylantrags.
b) Nach § 10 Abs. 3 Satz 3 Halbs. 1 AufenthG findet die Sperrwirkung des § 10 Abs. 3 Satz 1 AufenthG jedoch im Fall eines Anspruchs auf Erteilung eines Aufenthaltstitels keine Anwendung.
Der Begriff des Anspruchs auf Erteilung bezeichnet allein den gesetzlichen Anspruch, mithin einen strikten Rechtsanspruch, der sich unmittelbar aus dem Gesetz ergibt und der voraussetzt, dass alle zwingenden und regelhaften Tatbestandsvoraussetzungen erfüllt sind. Nur dann hat der Gesetzgeber selbst eine Entscheidung über das zu erteilende Aufenthaltsrecht getroffen. Regelansprüche oder Ansprüche aufgrund von Soll-Vorschriften unterfallen diesem Begriff des Anspruchs ebenso wenig wie eine Ermessensreduzierung auf Null (BVerwG, U.v. 26.5.2020 – 1 C 12.19 – juris Rn. 52, m.w.N.; BayVGH, B.v. 4.5.2020 – 10 ZB 20.666 – juris Rn. 7).
c) Im Fall des Klägers besteht ein solcher zwingender Rechtsanspruch.
Die Tatbestandsvoraussetzungen für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zum Ehegattennachzug gemäß § 27 Abs. 1 i.V.m. § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG sowie die allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen nach § 5 Abs. 1 AufenthG liegen in der Person des Klägers unbestritten vor. Nach Aktenlage ist insbesondere sein Lebensunterhalt gesichert, er besitzt einen Nationalpass, und einige kleinere Rechtsverstöße aus früheren Jahren können ihm nicht mehr als Ausweisungsinteresse entgegengehalten werden (§ 5 Abs. 1 Nr. 1, Nr. 2, Nr. 4 AufenthG); die Beklagte hat insoweit auch nichts Gegenteiliges vorgetragen.
Der Erteilung steht auch nicht die mangelnde Durchführung eines Visumverfahrens im Sinn des § 5 Abs. 2 Satz 1 AufenthG entgegen. Denn ein Visum ist nicht im Sinn dieser Vorschrift „erforderlich“, weil der Kläger nach § 39 Satz 1 Nr. 1 AufenthV (i.d.F. durch die Änderung vom 1.8.2017, BGBl I S. 3066) die Aufenthaltserlaubnis im Bundesgebiet einholen kann. Danach kann ein Ausländer über die im Aufenthaltsgesetz geregelten Fälle hinaus einen Aufenthaltstitel im Bundesgebiet einholen oder verlängern lassen, wenn er ein nationales Visum oder eine Aufenthaltserlaubnis besitzt.
Diese Voraussetzung lag im Fall des Klägers vor. Er besaß im Zeitpunkt der Antragstellung am 26. Januar 2015 eine noch bis zum 19. März 2015 gültige (und im Anschluss nochmals bis zum 16. Juli 2016 verlängerte) Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG.
d) Entscheidend für die Anwendung des § 39 Satz 1 Nr. 1 AufenthV ist insoweit der Zeitpunkt der Antragstellung. Ein Ausländer kann einen Antrag auf Verlängerung seiner Aufenthaltserlaubnis oder auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zu einem anderen Aufenthaltszweck ohne die Durchführung eines Visumverfahrens im Bundesgebiet beantragen, wenn er zu diesem Zeitpunkt im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis ist (so auch Funke-Kaiser in GK-AufenthG, Stand Sept. 2018, § 5 AufenthG Rn. 115, und GK-AufenthG, Stand März 2020, § 4 AufenthG Rn. 90; Samel in Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Auflage 2020, § 5 AufenthG Rn. 87, 115, 118; Maor in Kluth/Heusch, BeckOK Ausländerrecht, Stand 1.3.2020, § 5 AufenthG Rn. 21 ff; zu dem analog strukturierten § 39 Satz 1 Nr. 3 AufenthV ebenso: BVerwG, U.v. 11.1.2011 – 1 C 23.09 – juris Rn. 24; BVerwG, U.v. 16.11.2010 – 1 C 17.09 – juris Rn. 23; OVG LSA, B.v. 21.11.2019 – 2 M 113/19 – juris Rn. 15; OVG RP, B.v. 20.4.2009 – 7 B 10037/09 – juris Ls. 2 u. Rn. 8 u. 11); erforderlich ist dabei der tatsächliche „Besitz“ einer Aufenthaltserlaubnis im Zeitpunkt der Antragstellung, die Fortgeltungsfiktion nach § 81 Abs. 4 Satz 1 AufenthG genügt nicht (OVG SH, B.v. 9.2.2016 – 4 MB 6/16 – juris Rn. 13).
Insoweit kommt es – abweichend vom Regelfall bei einer Verpflichtungsklage – nicht entscheidend darauf an, dass der Ausländer (auch noch) im Zeitpunkt der behördlichen oder der gerichtlichen Entscheidung im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis ist. Denn § 39 Satz 1 Nr. 1 AufenthV bedeutet im Grunde die „Klarstellung einer Selbstverständlichkeit“ (Maor in Kluth/Heusch, BeckOK Ausländerrecht, Stand 1.3.2020, § 5 AufenthG Rn. 21 ff.), dass ein Ausländer vor Ablauf seiner bestehenden Aufenthaltserlaubnis deren Verlängerung und – soweit es nicht im Einzelfall ausgeschlossen ist – auch eine Aufenthaltserlaubnis zu einem anderen Aufenthaltszweck bei der Ausländerbehörde im Inland beantragen kann, ohne auszureisen und ein Visumverfahren durchlaufen zu müssen. Es ist, wenn nicht der Regelfall, so doch sehr häufig der Fall, dass auch bei einem rechtzeitig gestellten Verlängerungsantrag die Behörde erst nach Ablauf der Geltungsdauer der vorherigen Aufenthaltserlaubnis entscheidet (was der gesetzgeberische Hintergrund für die Regelung des § 81 Abs. 4 AufenthG ist). Wenn man auf den Zeitpunkt der Behördenentscheidung oder gar einen noch späteren Zeitpunkt wie den der gerichtlichen Entscheidung abstellen würde, würde nachträglich aber eine Erteilung nicht mehr möglich und der Antragsteller in diesen Fällen auf das Visumverfahren zu verweisen sein. Die Fiktion der Fortgeltung nach § 81 Abs. 4 AufenthG würde hier nicht weiterhelfen, weil diese kein „Besitz“ einer Aufenthaltserlaubnis ist und außerdem mit der Entscheidung der Ausländerbehörde (nicht des Gerichts) endet. Nach seiner Antragstellung hat der Ausländer keinen Einfluss mehr auf die Entscheidung der Behörde und insbesondere auf deren Zeitpunkt, so dass es vom Zufall abhängen würde, ob trotz rechtzeitiger Antragstellung doch noch ein Visumverfahren durchzuführen wäre.
Der Zweck des Visumverfahrens als „wichtiges Steuerungsinstrument der Zuwanderung“ (BVerwG, U.v. 16.11.2010 – 1 C 17.09 – juris Rn. 19) ist, vorab – also schon vor der Einreise des Ausländers – zu klären, ob der Ausländer das Bundesgebiet betreten darf, also zu verhindern, dass ein Ausländer durch eine bereits erfolgte Einreise vollendete Tatsachen oder jedenfalls „tatsächlichen Druck“ schafft. Dieser Zweck ist aber bereits erfüllt, wenn dem Ausländer eine Aufenthaltserlaubnis erteilt worden ist, weil dann sein Aufenthaltsrecht schon geprüft worden und nur noch über sein weiteres Verbleiben im Bundesgebiet zu befinden ist.
Insofern liegt der Fall anders als bei den Tatbeständen der § 39 Satz 1 Nr. 4 und Nr. 5 AufenthV, in denen der Besitz einer Aufenthaltsgestattung bzw. einer Duldung erforderlich ist. Hier wird in der obergerichtlichen Rechtsprechung der Besitz der Aufenthaltsgestattung bzw. der Duldung nicht nur bei Antragstellung, sondern auch noch zum Zeitpunkt der Entscheidung des (Tatsachen-)Gerichts verlangt (vgl. OVG Berlin-Bbg, B.v. 12.2.2013 – OVG 7 N 63.13 – juris Rn. 5; OVG NW, B.v. 30.4.2010 – 18 B 180/10 – juris Ls. 2 u. Rn. 20 ff.).
In den Fällen von § 39 Satz 1 Nr. 4 und Nr. 5 AufenthV wird jedoch deswegen auf das Visumverfahren verzichtet, weil eine Ausreise ins Heimatland zur Durchführung des Visumverfahrens während eines laufenden Asylverfahrens bzw. wegen Unmöglichkeit der Abschiebung oder Unzumutbarkeit der Ausreise als unzumutbar anzusehen ist. Wird aber im Lauf des Antragsverfahrens auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis das Asylverfahren abgeschlossen oder entfallen die Duldungsgründe, dann entfällt auch der Grund für den Verzicht auf das Visumverfahren. Insofern hat sich der objektive Sachverhalt in der Person des Ausländers geändert. Daher liegt ein Widerspruch zum maßgeblichen Zeitpunkt der Antragstellung im Fall des § 39 Satz 1 Nr. 1 AufenthV nicht vor.
e) § 39 Satz 1 Nr. 1 AufenthV findet auch für den Fall Anwendung, dass dem Ausländer nach Abschluss des Asylverfahrens zunächst eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG erteilt wurde und dieser nunmehr die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zum Familiennachzug nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG begehrt.
Diese im Verlauf des vorliegenden Verfahrens vor allem umstrittene Frage ist durch die neueste Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts nunmehr geklärt (BVerwG, U.v. 26.5.2020 – 1 C 12.19 – juris Rn. 54 ff.; ebenso: OVG Berlin-Brandenburg, U.v. 20.3.2019 – 11 B 5.17 – juris Rn. 41; VG Aachen, U.v. 10.2.2010 – 8 K 2258/08 – juris Rn. 24 f.; a.A.: VG Potsdam, U.v. 12.1.2016 – 8 K 2622/14 – juris Rn. 25, U.v. 31.5.2017 – 8 K 2926/14 – juris Rn. 20).
Die fehlende Erfüllung der Voraussetzungen des § 5 Abs. 2 Satz 1 AufenthG bei der ursprünglichen Einreise steht in den Fällen des § 39 Satz 1 Nr. 1 AufenthV einem Anspruch auf Erteilung oder Verlängerung eines Aufenthaltstitels nicht entgegen (BR-Drs. 731/04 S. 182). Macht die Ausländerbehörde von der ihr im Zuge der Erteilung der Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG eröffneten Möglichkeit eines Absehens von der Verweisung des Ausländers auf das Visumverfahren Gebrauch und erteilt sie diesem nicht allein eine Duldung nach § 60a Abs. 2 AufenthG, sondern legalisiert sie dessen Aufenthalt, so verbleibt für eine einschränkende Anwendung des § 39 Satz 1 Nr. 1 AufenthV mit dem Ziel, das Erfordernis der Zuzugssteuerung nicht zu entwerten, kein Raum. Für ein derartiges einschränkendes Normverständnis gibt es weder aus dem Wortlaut noch aus Sinn und Zweck oder aus der Systematik einen Anhaltspunkt (siehe zu den Einzelheiten BVerwG, U.v. 26.5.2020 – 1 C 12.19 – juris Rn. 56 ff.).
Nach alldem war die Berufung der Beklagten zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung beruht auf § 167 VwGO in Verbindung mit §§ 708 ff. ZPO.
Die Revision war nicht zuzulassen, weil keine der Voraussetzungen des § 132 Abs. 2 VwGO vorliegt.


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