Verwaltungsrecht

Aufenthaltserlaubnis zum Familiennachzug wegen Pflegebedürftigkeit, „ernstzunehmende Anhaltspunkte“ bei Diagnose „Demenz“, Prüfungsmaßstab im summarischen Verfahren, effektiver Rechtsschutz, Prozesskostenhilfe

Aktenzeichen  10 CS 21.2240

Datum:
23.5.2022
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2022, 12060
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AufenthG § 36 Abs. 2 S. 1
AufenthG § 5 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2
GG Art. 6
GG Art. 19 Abs. 4
VwGO § 166 Abs. 1 S. 1
ZPO § 114, § 115, § 121

 

Leitsatz

Verfahrensgang

Au 6 S 21.1482, Au 6 K 21.1481 2021-07-28 Bes VGAUGSBURG VG Augsburg

Tenor

I. Die Verfahren 10 CS 21.2240 und 10 C 21.2238 werden zu gemeinsamer Entscheidung verbunden.
II. Unter Abänderung von Nr. I. des Beschlusses des Bayerischen Verwaltungsgerichts Augsburg vom 28. Juli 2021 wird die aufschiebende Wirkung der Klage (Au 6 K 21.1481) auch gegen Nr. 1, 3 und 4 des Bescheids des Landratsamts D.-R. vom 1. Juni 2021 angeordnet.
III. Unter Abänderung von Nr. II. des Beschlusses des Bayerischen Verwaltungsgerichts Augsburg vom 28. Juli 2021 hat der Antragsgegner die Kosten in dem Verfahren 10 CS 21.2240 in beiden Rechtszügen zu tragen.
IV. Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren 10 CS 21.2240 wird auf 2.500,- Euro festgesetzt.
V. Unter Abänderung von Nr. IV. des Beschlusses des Bayerischen Verwaltungsgerichts Augsburg vom 28. Juli 2021 wird der Antragstellerin Prozesskostenhilfe für das Antrags- und für das Klageverfahren insgesamt bewilligt und Rechtsanwältin C. H., B., zu den Bedingungen eines im Gerichtsbezirk ansässigen Rechtsanwalts beigeordnet.
VI. Der Antragstellerin wird für das Beschwerdeverfahren 10 CS 21.2240 Prozesskostenhilfe bewilligt und Rechtsanwältin C. H., B., beigeordnet.

Gründe

I.
Die Antragstellerin verfolgt im Verfahren 10 CS 21.2240 mit ihrer Beschwerde ihren Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung ihrer beim Verwaltungsgericht anhängigen Klage (Au 6 K 21.1481) gegen den Bescheid des Landratsamts D.-R. vom 1. Juni 2021, soweit mit diesem ihr Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis abgelehnt und ihr die Abschiebung angedroht wurde, weiter. Mit ihrer Beschwerde im Verfahren 10 C 21.2238 verfolgt sie ihren Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das Klage- und das Antragsverfahren weiter.
Die Antragstellerin ist eine 1948 geborene georgische Staatsangehörige; sie reiste am 24. August 2020 im visumfreien Reiseverkehr ein. Im Bundesgebiet leben ihr Sohn und ihre Tochter mit ihren Familien. Aufgrund einer durch ärztliche Bescheinigungen und eine amtsärztliche Untersuchung glaubhaft gemachten Reiseunfähigkeit gewährte ihr die Ausländerbehörde nach Ablauf des visumfreien Aufenthalts eine Verlängerung der Ausreisefrist. Mit Formularen vom 9. März 2021 und Schreiben vom 20. Mai 2021 beantragte sie die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zum Zweck des Besuchs der Kinder bzw. gemäß § 36 Abs. 2 AufenthG. Es wurde vorgetragen, dass die bisher in Georgien allein lebende Antragstellerin aufgrund ihrer Erkrankungen dringend auf familiäre Lebenshilfe angewiesen sei und diese in zumutbarer Weise nur im Bundesgebiet erbracht werden könne.
Mit Bescheid vom 1. Juni 2021 lehnte das Landratsamt D.-R. die Anträge auf Aufenthaltserlaubnis sowie die Erteilung einer Duldung ab und drohte der Antragstellerin unter Bestimmung einer Ausreisefrist die Abschiebung an; für den Fall einer Abschiebung ordnete es ein auf ein Jahr befristetes Einreise- und Aufenthaltsverbot an.
Die Antragstellerin erhob hiergegen Klage mit dem Begehren, den Antragsgegner zur Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 36 Abs. 2 Satz 1 AufenthG, hilfsweise zu einer erneuten Entscheidung hierüber, zu verpflichten (Au 6 K 21.1481). Zugleich beantragte sie, insoweit die aufschiebende Wirkung der Klage anzuordnen (Au 6 S 21.1482). Für beide Verfahren beantragte sie die Bewilligung von Prozesskostenhilfe unter Beiordnung ihrer Bevollmächtigten.
Mit dem hier angefochtenen Beschluss vom 28. Juli 2021 ordnete das Verwaltungsgericht die aufschiebende Wirkung der Klage nur gegen Nr. 5 des Bescheids (Anordnung eines befristeten Einreise- und Aufenthaltsverbots) an, lehnte den Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO im Übrigen (bezüglich der Ablehnung der Aufenthaltserlaubnis und der Abschiebungsandrohung) jedoch ab (Nr. I.). Weiter bewilligte es Prozesskostenhilfe unter Beiordnung der Bevollmächtigten lediglich hinsichtlich Nr. 5 des Bescheids und lehnte den Antrag auf Prozesskostenhilfe im Übrigen ab (Nr. IV).
Hinsichtlich der Ablehnung der Anträge wurde im Wesentlichen ausgeführt, die Verpflichtungsklage werde aller Voraussicht nach keinen Erfolg haben, da ein Anspruch auf die hier einzig in Betracht kommende Aufenthaltserlaubnis nach § 36 Abs. 2 Satz 1 AufenthG sowohl mangels Vorliegens einer außergewöhnlichen Härte als auch wegen einer fehlenden allgemeinen Erteilungsvoraussetzung nach § 5 Abs. 2 AufenthG nicht bestehe. Eine außergewöhnliche Härte gemäß § 36 Abs. 2 AufenthG setze voraus, dass der schutzbedürftige Familienangehörige ein eigenständiges Leben nicht führen könne und dass diese Hilfe in zumutbarer Weise nur in Deutschland erbracht werden könne. Hierbei sei der Einfluss von Art. 6 Abs. 1 GG und Art. 8 EMRK zu beachten. Eine umfassende Betrachtung aller Umstände des Einzelfalls sei geboten.
Ein solcher Betreuungsbedarf sei zum Entscheidungszeitpunkt nicht in einer Weise dargetan, dass von einer außergewöhnlichen Härte auszugehen sei. Die Antragstellerin habe bereits vor ihrer Einreise allein in Georgien gelebt, und es sei nicht ersichtlich, dass bereits bei ihrer Einreise eine eigenständige Lebensführung nicht mehr möglich gewesen wäre. Eine wesentliche Verschlechterung ihres gesundheitlichen Zustands in Deutschland sei nicht dargetan. In Bezug auf die diagnostizierte Depression und die festgestellten Symptome einer schweren Demenz gebe es zumutbare Behandlungs- und Betreuungsmöglichkeiten in Georgien, so dass ein Verweis auf das georgische Gesundheitssystem zumutbar erscheine.
Jedenfalls stehe der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis das Fehlen eines Visumverfahrens entgegen; dessen Nachholung sei auch unter Beachtung von Art. 6 GG nicht gemäß § 5 Abs. 2 Satz 2 AufenthG unzumutbar. Im Hinblick auf die vorhandene gesundheitliche Versorgung in Georgien und die unter Begleitung bestehende Reisefähigkeit der Antragstellerin sei eine aufgrund der Nachholung des Visumverfahrens bewirkte Trennung von der Familie nicht unzumutbar.
Die Antragstellerin hat hiergegen Beschwerden erhoben, soweit ihre Anträge abgelehnt wurden, und wiederholt und vertieft zur Begründung ihr erstinstanzliches Vorbringen. Sie beantragt (sinngemäß),
den Beschluss des Verwaltungsgerichts Augsburg vom 28. Juli 2021 abzuändern und die aufschiebende Wirkung der Klage auch im Übrigen anzuordnen,
der Antragstellerin auch im Übrigen für das Klage- und Antragsverfahren Prozesskostenhilfe zu bewilligen, und
der Antragstellerin für das Beschwerdeverfahren 10 CS 21.2240 Prozesskostenhilfe zu bewilligen und ihre Bevollmächtigte beizuordnen.
Der Antragsgegner beantragt (sinngemäß),
die Beschwerden zurückzuweisen.
Im Übrigen wird auf die vorgelegten Behördenakten und die Gerichtsakten beider Instanzen Bezug genommen.
II.
Die Beschwerden, die gemäß § 93 Satz 1 VwGO zu gemeinsamer Entscheidung verbunden wurden, sind zulässig und begründet.
Nicht Gegenstand der vorliegenden Verfahren ist der Bescheid der Ausländerbehörde vom 16. September 2021, mit dem Nr. 5 des Bescheids vom 1. Juni 2021 (Anordnung eines befristeten Einreise- und Aufenthaltsverbots) geändert wurde. Die Klageänderung durch die Antragstellerin bezieht sich nur auf die beim Verwaltungsgericht anhängige Klage Au 6 K 21.1481.
1. Die Beschwerde gegen Nr. I. des Beschlusses vom 28. Juli 2021, soweit die Anordnung der aufschiebenden Wirkung abgelehnt wurde, ist begründet; die aufschiebende Wirkung der Klage gegen den Bescheid vom 1. Juni 2021 ist auch in Bezug auf die Ablehnung der Aufenthaltserlaubnis und die Abschiebungsandrohung (Nr. 1, 3 und 4 des Bescheids) anzuordnen. Die Erfolgsaussichten der Klage sind insoweit als offen anzusehen; in der Interessenabwägung überwiegen die Interessen der Antragstellerin an einem einstweiligen Verbleiben im Bundesgebiet.
Das Verwaltungsgericht hat in Bezug auf die Tatbestandsvoraussetzungen einer Aufenthaltserlaubnis nach § 36 Abs. 2 Satz 1 AufenthG den zutreffenden, in der höchstrichterlichen Rechtsprechung geklärten rechtlichen Maßstab zugrunde gelegt.
Nach dieser Vorschrift kann sonstigen Familienangehörigen eines Ausländers zum Familiennachzug eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden, wenn es zur Vermeidung einer außergewöhnlichen Härte erforderlich ist. Dies setzt nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts voraus, dass der im Ausland lebende Familienangehörige kein eigenständiges Leben mehr führen kann, sondern auf die Gewährung familiärer Lebenshilfe angewiesen ist und diese Hilfe in zumutbarer Weise nur in Deutschland erbracht werden kann (BVerwG, U.v. 18.4.2013 – 10 C 10.12 – juris Rn. 37 ff.; BVerwG, U.v. 10.3.2011 – 1 C 7.10 – juris Rn. 10; BVerwG, B.v. 25.6.1997 – 1 B 236.96 – juris Rn. 8; ferner VGH BW, B.v. 17.8.2021 – 11 S 42/20 – juris Rn. 11 ff. u. 37; OVG Berlin-Bbg, B.v. 25.1.2022 – OVG 3 S 87/21 – juris Rn. 4).
Die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zum Familiennachzug wegen Pflegebedürftigkeit gemäß § 36 Abs. 2 Satz 1 AufenthG setzt demgemäß die spezifische Angewiesenheit auf familiäre Hilfe voraus. Das ist nicht bei jedem Betreuungsbedarf der Fall, sondern kann nur dann in Betracht kommen, wenn die geleistete Nachbarschaftshilfe oder im Herkunftsland angebotener professioneller pflegerischer Beistand den Bedürfnissen des Nachzugswilligen qualitativ nicht gerecht werden können. Wenn der alters- oder krankheitsbedingte Autonomieverlust einer Person so weit fortgeschritten ist, dass ihr Wunsch auch nach objektiven Maßstäben verständlich und nachvollziehbar erscheint, sich in die familiäre Geborgenheit der ihr vertrauten persönlichen Umgebung engster Familienangehöriger zurückziehen zu wollen, spricht dies dagegen, sie auf die Hilfeleistungen Dritter verweisen zu können. Denn das humanitäre Anliegen des § 36 Abs. 2 Satz 1 AufenthG respektiert den in den unterschiedlichen Kulturen verschieden stark ausgeprägten Wunsch nach Pflege vorrangig durch enge Familienangehörige, zu denen typischerweise eine besondere Vertrauensbeziehung besteht. Pflege durch enge Verwandte in einem gewachsenen familiären Vertrauensverhältnis, das geeignet ist, den Verlust der Autonomie als Person infolge körperlicher oder geistiger Gebrechen in Würde kompensieren zu können, erweist sich auch mit Blick auf die in Art. 6 GG enthaltene wertentscheidende Grundsatznorm als aufenthaltsrechtlich schutzwürdig. Dabei ist grundsätzlich eine umfassende Betrachtung aller Umstände des Einzelfalles geboten, bei der sowohl der Grad des Autonomieverlusts des nachzugswilligen Ausländers als auch das Gewicht der familiären Bindungen zu den in Deutschland lebenden Familienangehörigen und deren Bereitschaft und Fähigkeit zur Übernahme der familiären Pflege zu berücksichtigen sind (BVerwG, U.v. 18.4.2013 – 10 C 10.12 – juris Rn. 38 f.).
Nach diesen Maßstäben sind die Erfolgsaussichten im vorliegenden Fall als offen anzusehen. Die hier aufgrund der grundrechtlichen Vorgaben des Art. 6 Abs. 1 GG und des Art. 19 Abs. 4 GG erforderliche umfassende Würdigung des Einzelfalls kann nur in klar gelagerten Fällen bereits im summarischen Verfahren erfolgen; liegen dagegen ernstzunehmende Anhaltspunkte dafür vor, dass der betroffene Ausländer kein eigenständiges Leben mehr führen kann, sondern auf die Gewährung familiärer Lebenshilfe angewiesen ist und diese Hilfe in zumutbarer Weise nur in Deutschland erbracht werden kann, so muss dem in einem Hauptsacheverfahren weiter nachgegangen werden (so BVerfG, B.v. 20.6.2013 – 2 BvR 748/13 – juris Rn. 14), zumal im Anschluss daran noch weitere Rechtsfragen wie das Vorliegen der allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen bzw. die Möglichkeiten, hiervon abzusehen (§ 5 Abs. 1, Abs. 2 AufenthG), und etwaige Ermessensgesichtspunkte zu prüfen sind.
Der Senat kommt – anders als das Verwaltungsgericht – zu der Einschätzung, dass nach dem bisherigen Verfahrensstand hinreichende Anhaltspunkte dafür bestehen, dass die anhängige Verpflichtungsklage auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 36 Abs. 2 Satz 1 AufenthG bzw. jedenfalls auf eine diesbezügliche Neuverbescheidung erfolgreich sein könnte.
Aus den vorgelegten ärztlichen Bescheinigungen eines Facharztes für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie vom 16. April 2021 (Bl. 26 der Beschwerdeakte), vom 4. Mai 2021 (Bl. 64 der Behördenakte) und vom 20. Juli 2021 (Bl. 62 der VG-Akte) geht hervor, dass bei der Antragstellerin Symptome einer schweren Demenz vorliegen; weitere Diagnosen lauten auf reaktive Angsterkrankung bzw. schwere Depression mit Pseudodemenz. Es wird bestätigt, dass die Antragstellerin aufgrund der genannten Symptome nicht mehr alleine das Haus verlasse und auch in der Selbstversorgung erheblich eingeschränkt und hilfsbedürftig sei.
Es mag zutreffen, dass in der ersten Zeit des Aufenthalts der Antragstellerin im Bundesgebiet ihr Gesundheitszustand noch nicht – über eine vorübergehende Reiseunfähigkeit hinaus – dazu geführt hat, dass eine eigenständige Lebensgestaltung nicht mehr möglich war. Die Einschätzung des Verwaltungsgerichts, dass keine Verschlechterung ihres Gesundheitszustandes während ihres Aufenthalts im Bundesgebiet festzustellen sei, teilt der Senat allerdings nicht. Angesichts des vom Antragsgegner nicht in Frage gestellten fachärztlichen Attests vom 20. Juli 2021 mit der eindeutigen Feststellung der „Symptome einer schweren Demenz“ sowie der allgemein bekannten Auswirkungen und möglichen Verlaufsformen dieser Erkrankung (siehe etwa: Robert Koch-Institut in Zusammenarbeit mit dem Statistischen Bundesamt, Altersdemenz, Gesundheitsberichterstattung des Bundes Heft 28, November 2005, abrufbar unter https://edoc.rki.de/bitstream/handle/ 176904/3179/22wKC7IPbmP4M_43.pdf) liegt es vielmehr durchaus nahe, dass die Antragstellerin – wie im erstinstanzlichen und im Beschwerdeverfahren vorgetragen – in Georgien aktuell nicht (mehr) in der Lage wäre, sich selbst zu versorgen.
Dem kann auch nicht, wie das Verwaltungsgericht meint, durch einen Verweis auf möglicherweise zumutbare Behandlungs- und Betreuungseinrichtungen für psychisch erkrankte Personen in Georgien begegnet werden. Es trifft nicht zu, dass der subjektive Wunsch der Antragstellerin, die Nähe (und Geborgenheit) ihrer Familie in Deutschland zu suchen, für die gesetzliche Wertung des § 36 Abs. 2 Satz 1 AufenthG „nicht maßgeblich“ (BA Rn. 44) sei. Denn wie das Bundesverwaltungsgericht betont hat, respektiert das humanitäre Anliegen des § 36 Abs. 2 Satz 1 AufenthG den in den unterschiedlichen Kulturen verschieden stark ausgeprägten Wunsch nach Pflege vorrangig durch enge Familienangehörige, zu denen typischerweise eine besondere Vertrauensbeziehung besteht. Die Pflege durch enge Verwandte in einem gewachsenen familiären Vertrauensverhältnis, das geeignet ist, den Verlust der Autonomie als Person infolge körperlicher oder geistiger Gebrechen in Würde kompensieren zu können, erweise sich auch mit Blick auf die in Art. 6 GG enthaltene wertentscheidende Grundsatznorm als aufenthaltsrechtlich schutzwürdig. Dies spreche dagegen, die betroffene Person auf die Hilfeleistungen Dritter (im Heimatland) verweisen zu können (BVerwG, U.v. 18.4.2013 – 10 C 10.12 – juris Rn. 38; ferner VGH BW, B.v. 17.8.2021 – 11 S 42/20 – juris Rn. 14).
Somit liegen zur Überzeugung des Senats ernstzunehmende Anhaltspunkte dafür vor, dass aufgrund einer Demenzerkrankung der Antragstellerin im Hinblick auf Art. 6 GG die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 36 Abs. 2 Satz 1 AufenthG geboten sein könnte. Ihnen wäre im Hauptsacheverfahren – etwa durch aktuelle ärztliche Unterlagen bzw. durch eine Begutachtung, gegebenenfalls auch durch einen persönlichen Eindruck von der Antragstellerin – weiter nachzugehen.
Bestehen aber ernstzunehmende Anhaltspunkte dafür, dass der Antragstellerin wegen ihrer Demenzerkrankung ein eigenständiges Leben im Heimatland nicht mehr möglich ist, würde dies ebenso dafür sprechen, dass es ihr auf Grund besonderer Umstände des Einzelfalls nicht zumutbar ist, das Visumverfahren nachzuholen, weshalb ein Absehen von dem Visumerfordernis des § 5 Abs. 2 AufenthG geboten wäre. Die Antragstellerin hat glaubhaft und unwidersprochen vorgetragen, dass sie im Heimatland keine Familienangehörigen mehr hat. Insoweit wäre aufzuklären, ob eine (vorübergehende) Rückkehr der Antragstellerin in Begleitung eines ihrer Kinder in Betracht kommt (siehe dazu BayVGH, B.v. 20.10.2021 – 10 ZB 21.2084 – BeckRS 2021, 33533 Rn. 10 f.); allerdings hat die Tochter der Antragstellerin unter Vorlage ärztlicher Unterlagen substantiiert vorgetragen, dass ihr dies aus gesundheitlichen Gründen nicht möglich sei.
Im Hauptsacheverfahren wird gegebenenfalls auch die bisher von der Ausländerbehörde und vom Verwaltungsgericht noch nicht geprüfte allgemeine Erteilungsvoraussetzung der Sicherung des Lebensunterhalts (§ 5 Abs. 1 Nr. 1, § 2 Abs. 3 AufenthG) bzw. die Möglichkeit, hiervon ausnahmsweise abzusehen, zu klären sein (zu dieser Prognoseentscheidung insbesondere im Hinblick auf Krankenversicherungsschutz siehe BVerwG, U.v. 18.4.2013 – 10 C 10.12 – juris Rn. 13 ff.; vgl. auch BayVGH, B.v. 20.10.2021 – 10 ZB 21.2084 – BeckRS 2021, 33533 Rn. 9; BayVGH, B.v. 27.5.2021 – 19 ZB 20.209 – juris Rn. 9 ff.).
Im Rahmen der Interessenabwägung bei jedenfalls offenen Erfolgsaussichten überwiegt das Interesse der Antragstellerin, einstweilen im Bundesgebiet zu verbleiben, das öffentliche Vollzugsinteresse. Müsste die Antragstellerin das Bundesgebiet verlassen, wäre ihr eine effektive Rechtsverfolgung im Rahmen des anhängigen Klageverfahrens zumindest erheblich erschwert. Kann sie jedoch während des Klageverfahrens hier verbleiben, verlängert sich lediglich ihr ohnehin schon geraume Zeit andauernder Aufenthalt bei ihren Familienangehörigen.
2. Die Kostenentscheidung im Verfahren 10 CS 21.2240 beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO, die Streitwertfestsetzung auf § 63 Abs. 2 Satz 1, § 47 Abs. 1, § 53 Abs. 2 Nr. 2, § 52 Abs. 2 GKG in Verbindung mit dem Streitwertkatalog für die Verwaltungsgerichtsbarkeit.
3. Die zulässige Beschwerde im Verfahren 10 C 21.2238 ist ebenfalls begründet. Der Antragstellerin ist Prozesskostenhilfe für das Klage- und das Eilverfahren insgesamt zu bewilligen und ihre Bevollmächtigte beizuordnen; die Entscheidung des Verwaltungsgerichts ist insoweit abzuändern
Nach § 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO ist einer Partei, die nach ihren persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht aufbringen kann, Prozesskostenhilfe zu bewilligen, wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint.
Hinsichtlich der Erfolgsaussichten dürfen die Anforderungen nicht überspannt werden. Eine überwiegende Wahrscheinlichkeit in dem Sinn, dass der Prozesserfolg schon gewiss sein muss, ist nicht erforderlich, sondern es genügt bereits eine sich bei summarischer Überprüfung ergebende Offenheit des Erfolgs. Die Prüfung der Erfolgsaussichten soll nicht dazu dienen, die Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung selbst in das summarische Verfahren der Prozesskostenhilfe zu verlagern und dieses an die Stelle des Hauptsacheverfahrens treten lassen. Das Prozesskostenhilfeverfahren will den Rechtsschutz, den der Rechtsstaatsgrundsatz erfordert, nämlich nicht selbst bieten, sondern ihn erst zugänglich machen. Deshalb dürfen bislang ungeklärte oder im Einzelfall schwierige Rechts- und Tatfragen nicht im Prozesskostenhilfeverfahren entschieden werden, sondern müssen auch von Unbemittelten einer prozessualen Klärung zugeführt werden können (stRspr d. BVerfG, vgl. z.B. B.v. 4.8.2016 – 1 BvR 380/16 – juris Rn. 12; B.v. 28.7.2016 – 1 BvR 1695/15 – juris Rn. 16 f.; B.v. 13.7.2016 – 1 BvR 826/13 – juris Rn. 11 f.; B.v. 20.6.2016 – 2 BvR 748/13 – juris Rn. 12).
Gemessen an diesen Grundsätzen bestehen für die Klage und den Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO im maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidungsreife hinreichende Erfolgsaussichten. Wie bereits dargelegt, liegen ernstzunehmende Anhaltspunkte dafür vor, dass aufgrund einer Demenzerkrankung der Antragstellerin im Hinblick auf Art. 6 GG die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 36 Abs. 2 Satz 1 AufenthG geboten sein könnte, so dass diesen im Hauptsacheverfahren weiter nachzugehen ist und sich nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts eine umfassende Prüfung bereits im Nebenverfahren über die Bewilligung von Prozesskostenhilfe verbietet (BVerfG, B.v. 20.6.2013 – 2 BvR 748/13 – juris Rn. 12 ff.).
Bedürftigkeit im Sinn von § 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. § 114 Abs. 1 Satz 1, § 115 ZPO liegt vor. Der Senat hat davon abgesehen, die Vorlage von aktuellen Belegen zu verlangen, da nicht ersichtlich ist, inwieweit sich in den persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen der Antragstellerin etwas geändert haben könnte.
Da die Vertretung durch einen Rechtsanwalt erforderlich erscheint, ist der Antragstellerin ihre Bevollmächtigte beizuordnen (§ 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. § 121 Abs. 2 ZPO).
Einer Kostenentscheidung im Verfahren 10 C 21.2238 bedarf es nicht. Die Kosten des Beschwerdeverfahrens werden nicht erstattet (§ 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. § 127 Abs. 4 ZPO), Gerichtsgebühren fallen nicht an.
4. Ebenso ist der Antragstellerin für das vorliegenden Beschwerdeverfahren 10 CS 21.2440 zu bewilligen und ihre Bevollmächtigte beizuordnen (§ 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. § 114 Abs. 1 Satz 1, § 121 Abs. 1 ZPO).
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).


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