Verwaltungsrecht

Augenerkrankung (Opticusatropie) als Grund für Abschiebungsverbot.

Aktenzeichen  5 A 289/18 MD

Datum:
17.5.2022
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG Magdeburg 5. Kammer
Dokumenttyp:
Urteil
ECLI:
ECLI:DE:VGMAGDE:2022:0517.5A289.18MD.00
Normen:
§ 60 Abs 7 AufenthG
§ 3 AsylVfG 1992
Spruchkörper:
undefined

Leitsatz

Verschleiert ein Flüchtling seinen Fluchtweg, so können ihm im Regelfall auch die von ihm angeführten Gründe für die Ausreise aus dem Heimatland nicht geglaubt werden.Ein Glaukom und eine Opticusatropie begründen die Gefahr einer Erblindung und stellen eine schwerwiegende Erkrankung dar, wegen derer in Indien medizinische Behandlungsmöglichkeiten ohne finanzielle Rücklagen nicht verfügbar sind.

Tenor

Die Beklagte wird verpflichtet, zugunsten des Klägers ein Abschiebung Verbot nach § 60 Abs. 7 AufenthG festzustellen. Der Bescheid der Beklagten vom 31.08.2018 wird insoweit in den Ziffern 4 und 5 aufgehoben.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Die Kosten des Verfahrens tragen der Kläger zu 2/3 und die Beklagte zu 1/3.
Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Schuldner darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des beizutreibenden Betrages abwenden, wenn nicht der Gläubiger vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Tatbestand

Der 1986 geborene Kläger wendet sich gegen die Ablehnung seines Asylantrages durch die Beklagte. Er ist indischer Staatsangehöriger und reiste im Juni 2018 auf dem Luftweg über den Flughafen Bengaluru aus Indien aus. Den Zielflughafen könne er, ebenso wie die weiteren Länder, durch die er gereist sei, nicht benennen. Sie seien „viel unterwegs“ gewesen, „durch die Berge“ gelaufen und auch „mit dem Boot“ gefahren. Am 03.08.2018 reiste er auf dem Landweg in die Bundesrepublik ein. Bei der Stellung des Asylantrages gab der Kläger an, er sei punjabischer Volkszugehöriger und gehören der Glaubensgemeinschaft Sikh an. Er habe bis 2013 mit seinen Eltern im Bundesstaat Uttar Pradesh gelebt. Nachdem es dort zu Unruhen gekommen sei, zu deren Ursachen er indes nichts sagen könne, sei er mit seinen Eltern in die Stadt Fateh Garrh Sahib in den Punjab umgezogen. Am 24. oder 25.12.2017 habe er sich als Tagelöhner auf den Platz begeben, wo sich Auftraggeber und Tagelöhner treffen, und sei von einem Mann für einen Lohn von 300 Rupien beauftragt worden, Plakate zu kleben. Was auf den Plakaten gestanden habe könne er nicht sagen, weil er nur hindi, nicht aber punjabi lesen könne. Gegen 14:00 Uhr am Nachmittag seien sie von der Polizei gefasst worden. Sie seien geschlagen und in eine Polizeizelle gesteckt worden. Dort habe man sie 2 Nächte festgehalten. Die Polizei habe ihm vorgeworfen, Unterstützer der Khalistan-Bewegung zu sein. Im April 2018 sei die Polizei zu seinem Haus gekommen, habe ihn zusammengeschlagen und erneut verhaftet. Erst auf die Zahlung von 20.000 Rupien Bestechungsgeld durch die Familie sei er schließlich freigelassen worden. Die Polizei habe ihn danach immer wieder belästigt. Im Juni 2018 sei er noch einmal verhaftet worden. Dann habe er das Land verlassen. Nach Uttar Pradesh sei er nicht zurückgekehrt, weil er von dort im Jahr 2013 wegen der Unruhen weggezogen sei. In andere Bundesstaaten habe er nicht ausweichen können, weil die Sikhs dort von den Hindus oder den Leuten der RSI belästigt würden.
Mit Bescheid vom 31.08.2018 lehnte die Beklagte den Asylantrag und die Zuerkennung subsidiären Schutzes ab, stellte fest, dass Abschiebungsverbote nicht bestünden und forderte den Antragsteller unter Androhung der Abschiebung nach Indien auf, die Bundesrepublik zu verlassen. Flüchtlingsschutz stehe dem Kläger nicht zu, weil angesichts der nur kurzzeitigen Festnahmen und der auf Zahlung von Bestechungsgelder erfolgten Freilassungen davon auszugehen sei, dass die indischen Sicherheitsbehörden kein relevantes Verfolgungsinteresse hätten. Ungeachtet dessen sei es ihm zuzumuten, sich der Verfolgung am Heimatort durch Ausweichen in einen anderen Landesteil zu entziehen.
Mit der dagegen am 14.09.2018 erhobenen Klage macht der Kläger geltend, ihm stehe Flüchtlingsschutz zu, weil die staatlichen Behörden in Indien wegen der Unterstützung Tätigkeiten des Klägers davon ausgingen, dass er der Khalistan-Bewegung zuzurechnen sei. Ferner legte der Kläger einen Schwerbehindertenausweis vor, wonach er einen Grad der Behinderung von 90 habe (Merkzeichen G und RF). Nach den vorgelegten Befundberichten litt der Kläger (u.a.) unter einer Netzhautblutung rechts, einer Degeneration der Makula und des hinteren Poles links. Für den 10.12.2020 war eine Augenoperation vorgesehen. Der letzte augenärztliche Befundbericht des Facharztes für Augenheilkunde Meißner vom 19.04.2022 beschreibt einen Zustand nach Netzhautblutung rechts, nach einer Entzündung der Regenbogenhaut links und nach Traktionsablösung der Netzhaut sowie ein sekundäres Glaukom nach sonstiger Affektion des Auges rechts. Der Visus betrage rechts 0,3 psc und links 1 / 25 sc (ohne Korrektur). Links bestehe eine Opticusatrophie. Im hinteren zentralen Bereich des linken Auges sei die Netzhaut vernarbt. Rechts bestünden erhebliche Traktionen, sodass eine YAG-Laser-Kapsulotomie zur Zeit nicht empfohlen werde.
Der Kläger beantragt,
die Beklagte unter Aufhebung ihres Bescheides vom 31.08.2018 zu verpflichten, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft, hilfsweise subsidiären Schutz, zuzuerkennen, weiter hilfsweise festzustellen, dass Abschiebungsverbote im Sinne des §§ 60 Abs. 5 und 7 AufenthG bestehen.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Zur Begründung verweist sie auf den Inhalt des angefochtenen Bescheides.

Entscheidungsgründe

Die zulässige Klage, über die trotz Ausbleibens der Beklagten im Termin verhandelt und entschieden werden konnte, weil sie über diese Möglichkeit mit der Ladung zum Termin belehrt worden ist (vgl. § 102 Abs. 2 VwGO), ist begründet, soweit der Kläger die Verpflichtung der Beklagten zur Feststellung eines Abschiebungsverbots erstrebt, weil die Ablehnung des beantragten Verwaltungsaktes insoweit rechtswidrig ist und den Kläger in seinen Rechten verletzt (vgl. § 113 Abs. 5 S. 1 VwGO). Im Übrigen ist die Klage unbegründet.
Dem Kläger steht im hier maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (vgl. § 77 Abs. 1 AsylG) weder ein Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 AsylG zu, noch hat er einen Anspruch auf subsidiären Schutz nach § 4 AsylG.
Der Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 AsylG steht dem Kläger nicht zu, weil er nicht wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung eine durch Tatsachen begründete Furcht vor Verfolgung hegen müssen, die mit Gefahr für Leib, Leben, persönliche Freiheit oder mit einem die Menschenwürde verletzenden Eingriff in sonstige Rechtsgüter verbunden ist, so dass es ihm nicht zuzumuten ist, in seinem Heimatland zu bleiben oder dorthin zurückzukehren.
Die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft kommt nicht in Betracht, weil sein Vorbringen zu den behaupteten Asylgründen unglaubhaft ist. Der Kläger macht geltend, er sei von der Polizei verhaftet worden, als diese ihn dabei ertappt habe, wie er gemeinsam mit anderen Plakate für die Khalistan-Bewegung geklebt habe. Auch nach seiner Freilassung habe die Polizei ihn weiter drangsaliert und 2 weitere Male verhaftet. Gegen die Zahlung von Bestechungsgeldern sei er freigekommen. Das Gericht ist davon überzeugt, dass dieser Vortrag frei erfunden ist. Das Gericht glaubt dem Kläger schon nicht, dass er ein Sikh ist. Nach seinem äußeren Erscheinungsbild ist der Kläger als Mitglied der Sikh-Glaubensgemeinschaft nicht zu erkennen. Auch in der mündlichen Verhandlung trug er weder langes Haar noch einen Turban. Für Sikhs, die diesen Glauben leben, gehören solche Merkmale indes zur Glaubensausübung. Soweit der Kläger geltend macht, er habe sich die Haare in Indien abschneiden lassen, weil er dort wegen dieser äußeren Merkmale als Sikh erkennbar gewesen und deshalb immer wieder in Schwierigkeiten geraten sei, ändert das an der Unglaubhaftigkeit seines Vortrages nichts. Wenn er ein gläubiger Sikh wäre, so hätte es ihm in den nun annähernd 4 Jahren seines Aufenthalts in der Bundesrepublik freigestanden, sich die traditionelle Haartracht wieder wachsen zu lassen und seinen Turban anzulegen. Dieses Bild vermittelt der Kläger indes auch in der mündlichen Verhandlung nicht. Vielmehr ist er nach seinem Äußeren mit kurz geschnittenen Haaren von seinem äußeren Erscheinungsbild nicht als Angehöriger der Sikh-Glaubensgemeinschaft erkennbar. Dies zeigt, dass er diesen Glauben auch hier in Deutschland nicht lebt und belegt nach Auffassung des Gerichts, dass er dieser Glaubensgemeinschaft auch schon in Indien nicht angehört hat.
Auch im Übrigen ist der Vortrag des Klägers zu seinen Asylgründen sehr vage geblieben. Die von ihm geschilderten Fluchtgründe sind detailarm und vermitteln nicht den Eindruck einer tatsächlich erlittenen Verfolgung. Das Gericht hält es für unglaubhaft, dass ein im Punjab lebender junger Erwachsener Sikh nicht weiß, was im Einzelnen es mit der Khalistan-Bewegung auf sich hat. Dass der Kläger seinen Angaben zufolge nicht in Punjab, sondern in Uttar Pradesh aufgewachsen ist, ändert daran nichts, weil sich der Kläger mit seinen Eltern bereits seit 2013 im Punjab aufgehalten hat und somit bereits seit 4 Jahren im Punjab lebte, sodass es unglaubhaft erscheint, dass der Kläger in diesen 4 Jahren als Sikh keine Vorstellung von den politischen Verhältnissen in dieser Region, namentlich von der Khalistan-Bewegung und deren unterschiedlichen politischen Strömungen bekommen haben will.
Ungeachtet dessen ist der Vortrag des Klägers insgesamt unglaubhaft, weil er mit seinen Angaben zur Ausreise und der weiteren Flucht in die Bundesrepublik den Reiseweg bewusst verschleiert hat, um der Beklagten die Möglichkeit zu nehmen, den Kläger auf der Grundlage der Dublin-III Verordnung in einen anderen Staat der Europäischen Union als zuständigen Staat abzuschieben. Der Kläger hat angegeben, er sei über den Flughafen Bengaluru aus Indien ausgereist. Über den Zielflughafen könne er ebenso wie über die weiteren Länder, durch die er gereist sei, nichts sagen. Sie seien „viel unterwegs“ gewesen, „durch die Berge“ gelaufen und auch „mit dem Boot“ gefahren. Das Gericht hält es für abwegig, dass der im Zeitpunkt der Ausreise aus Indien 22 Jahre alte Kläger nicht mitbekommen haben will, auf welchem Flughafen er gelandet und durch welche Drittländer er in die Bundesrepublik gelangt ist. Es ist weder ersichtlich noch schlüssig vorgetragen, weshalb der Kläger nicht in der Lage gewesen sein sollte, zu erfassen, wo das Flugzeug, das erste, dass der Kläger in seinem jungen Leben bestiegen hat, gelandet ist. Ebenso frei erfunden erscheint dem Gericht die Behauptung des Klägers, er habe nicht mitbekommen, durch welche Drittländer er schließlich in die Bundesrepublik gelangt ist. Es ist unglaubhaft, wenn der Kläger den Eindruck vermitteln will, er habe nicht mitbekommen, wo er sich während der 2-monatigen Reise von Indien nach Deutschland aufgehalten und auf welcher Route er in die Bundesrepublik gelangt ist. Sind seine Angaben zum Reiseweg aber schon ersichtlich unwahr, so vermag das Gericht ihm auch seine vermeintliche Verfolgungsgeschichte nicht zu glauben. Denn wer über den Reiseweg täuscht oder ihn verschleiert, weil er eine Abschiebung in den für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat vereiteln und sich einen Aufenthalt in der Bundesrepublik erhalten will, der ihm von Rechts wegen nicht zusteht, dem kann grundsätzlich auch eine behauptete Verfolgung im Heimatland nicht geglaubt werden, weil die zur Sicherung seines Aufenthalts erfolgte Verschleierung des Reiseweges die Annahme nahelegt, dass auch die behauptete Verfolgung im Heimatland letztlich nur dazu dient, sich einen Aufenthalt in der Bundesrepublik zu erhalten und zu verfestigen, ohne dass ihm ein solcher zustünde.
Selbst wenn man dem Kläger glauben wollte, stünde ihm ein Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nicht zu, weil die indischen Sicherheitsbehörden offenbar kein Interesse an einer landeswieten Verfolgung des Klägers haben. Es mag sein, dass lokale Amtsträger der Polizei ihre Stellung missbraucht und mit den Verhaftungen die Zahlung von Bestechungsgeldern haben erreichen wollen. Wäre der Kläger indes tatsächlich in den Fokus der indischen Sicherheitsbehörden geraten, so hätte er angesichts der in Indien üblichen gründlichen Identitätskontrollen im internationalen Luftverkehr nicht unbehelligt über den Flughafen Bengaluru ausreisen können.
Ungeachtet dessen ist es dem Kläger jedenfalls zuzumuten, sich befürchteten Nachstellungen zu entziehen, indem er in einen anderen Landesteil Indiens ausweicht. Die Zuerkennung von Flüchtlingsschutz kommt gemäß § 3e Abs. 1 AsylG nicht in Betracht, wenn der Ausländer in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung hat, in diesen Landsteil sicher und legal reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt. Diese Voraussetzungen liegen hier vor. Es gibt in Indien kein staatliches Melde- oder Registrierungssystem, so dass ein Großteil der Bevölkerung auch keinen Ausweis besitzt. Das begünstigt die Niederlassung in einem anderen Landesteil. Selbst bei strafrechtlicher staatlicher Verfolgung ist ein unbehelligtes Leben in ländlichen Bezirken eines anderen Landesteils möglich, ohne dass die Person ihre Identität verbergen muss (Auswärtiges Amt, Lagebericht v. 16.06.2016, S. 15). Ob der Betreffende nach der Umsiedlung dort die Möglichkeit hat, sich ein wirtschaftliches Auskommen zu sichern, hängt ausschließlich von seiner Eigeninitiative ab (AA, Lagebericht v. 03.03.2014, S. 22).
Dem Kläger ist auch nicht gemäß § 4 Abs. 1 AsylG subsidiärer Schutz zuzuerkennen. Subsidiär schutzberechtigt ist nach dieser Vorschrift, wer stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, ihm drohe in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden. Als ernsthafter Schaden gilt die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe (Nr. 1), Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung (Nr. 2) oder eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts (Nr. 3). Es ist nichts dafür ersichtlich, dass dem Kläger eine solche Gefahr drohen könnte. Ungeachtet dessen kommt auch die Gewährung subsidiären Schutzes nach den §§ 4 Abs. 3 Satz 1, 3e Abs. 1 AsylG nicht in Betracht, wenn dem Ausländer – wie hier (s. o.) – zumutet werden kann, im Heimatland internen Schutz in Anspruch zu nehmen und der Gefahr durch Niederlassung in einem sicheren Landesteil auszuweichen.
Die Klage ist indes begründet, soweit die Beklagte die Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 7 AufenthG abgelehnt hat. Nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Nach § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG liegt eine erhebliche konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen nur bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen vor, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden. Dabei ist nicht erforderlich, dass die medizinische Versorgung im Zielstaat mit der Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland gleichwertig ist (vgl. § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG). Eine ausreichende medizinische Versorgung liegt in der Regel auch vor, wenn diese nur in einem Teil des Zielstaats gewährleistet ist (§ 60 Abs. 7 Satz 4 AufenthG).
Bei der Erkrankung des am 27.11.2008 geborenen Klägers handelt es sich um eine schwerwiegende Erkrankung im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG. Der Kläger litt nach seiner Einreise in die Bundesrepublik unter einer Netzhautblutung rechts, einer Degeneration der Makula und des hinteren Poles links. Wegen dieser Augenleiden wurde ihm ein Grad der Behinderung von 90 zuerkannt (Merkzeichen G und RF). Zwar hat sich sein Gesundheitszustand ausweislich des letzten augenärztlichen Befundberichts des Facharztes für Augenheilkunde Meißner vom 19.04.2022 nach einer Augenoperation verbessert. Der Arzt beschreibt einen Zustand nach Netzhautblutung rechts, nach der Entzündung der Regenbogenhaut links und nach Traktionsablösung der Netzhaut sowie ein sekundäres Glaukom nach sonstiger Affektion des Auges rechts. Im hinteren zentralen Bereich des linken Auges sei die Netzhaut vernarbt. Rechts bestünden erhebliche Traktionen, sodass eine YAG-Laser-Kapsulotomie zur Zeit nicht empfohlen werde. Ferner wurde bei dem Kläger nach dem Befundbericht links eine Opticusatrophie festgestellt. Das Glaukom kann zur Erblindung führen. Bei der Opticusatrophie handelt es sich um eine degenerative Erkrankung des Sehnervs die sich durch den Schwund von Nervenzellen auszeichnet. Sie gilt als irreversibel und stellt eine häufige Erblindungsursache dar.
Die notwendige medizinische Versorgung für die Augenleiden sind für den Kläger in Indien nicht verfügbar i. S. d. § 60 Abs. 7 Satz 4 AufenthG. Zwar wird die medizinische Grundversorgung in Indien durch den Staat kostenfrei gewährt. Indes ist die medizinische Versorgung durchweg unzureichend. Da der Andrang auf Leistungen des staatlichen Sektors sehr stark ist, weichen viele für eine bessere oder schnellere Behandlung auf private Anbieter aus. In allen größeren Städten Indiens gibt es öffentliche medizinische Einrichtungen, in denen überlebensnotwendige Behandlungen durchgeführt werden können (AA, Lagebericht vom 24.04.2015, S. 20). Im wirtschaftlichen starken Punjab und in New Delhi ist die Gesundheitsversorgung im Verhältnis zu anderen Landesteilen gut. Fast alle gängigen Medikamente auf dem Markt sind zu einem Bruchteil der Preise in Europa erhältlich (AA, a. a. O.). Angesichts der gänzlich unzureichenden Kapazität der öffentlichen Gesundheitsversorgung ist eine kostenfreie medizinische Versorgung tatsächlich nicht erreichbar. Das Gericht ist ferner davon überzeugt, dass dem Kläger die notwendigen finanziellen Mittel für eine Behandlung in einer privaten Einrichtung nicht zur Verfügung stehen und er sie sich auch nicht verschaffen kann. Etwaige Ersparnisse oder Mittel aus Förderprogrammen für eine Starthilfe für Rückkehrer (300 € für Erwachsene) wären alsbald nach der Rückkehr aufgezehrt. Weder aus eigenem Erwerbseinkommen noch mit Hilfe seiner Familienangehörigen wird der Kläger den Aufwand für eine weitere Behandlung seiner Augenleiden tragen können. Der Kläger hat nach Abschluss der 8. Klasse als Tagelöhner gearbeitet. Sein Vater arbeitete ebenfalls als Tagelöhner auf Baustellen, sodass nicht davon ausgegangen werden kann, dass diese Erwerbstätigkeit die Bildung auskömmlicher Rücklagen für die notwendigen ärztlichen Behandlungen zulässt.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Die Gerichtskostenfreiheit folgt aus § 83 b AsylG. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i. V. m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.


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