Verwaltungsrecht

Ausweisung (aserbaidschanischer Staatsangehöriger), Erschleichen einer Aufenthaltserlaubnis, falsche Angaben über das Bestehen einer ehelichen Lebensgemeinschaft, Spezialprävention, Generalprävention, Abwägung, Rücknahme eines Aufenthaltstitels

Aktenzeichen  10 B 18.943

Datum:
29.3.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 12472
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AufenthG § 53 Abs. 1, Abs. 2
§ 54 Abs. 2 Nr. 8 Buchst. a
AufenthG Nr. 9
AufenthG § 55 Abs. 2 Nr. 5
BayVwVfG Art. 48

 

Leitsatz

Verfahrensgang

M 27 K 17.797 2017-11-16 Urt VGMUENCHEN VG München

Tenor

I.Die Berufung wird zurückgewiesen.
II.Der Kläger trägt die Kosten des Berufungsverfahrens.
III.Die Entscheidung ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.
IV.Die Revision wird nicht zugelassen.  

Gründe

Die zulässige Berufung ist nicht begründet. Die noch verfahrensgegenständliche Klageabweisung durch das Verwaltungsgericht ist rechtmäßig.
Gegenstand der Klage sind die gegen den Kläger mit dem Bescheid der Beklagten vom 31. Januar 2017verfügte Ausweisung, der Erlass eines Einreise- und Aufenthaltsverbots mit einer Befristung von drei Jahren, die Rücknahme der am 17. September 2013 erfolgten Verlängerung der ihm erteilten Aufenthaltserlaubnis und die Androhung der Abschiebung sowie die begehrte Verpflichtung der Beklagten, dem Kläger eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen.
1. Die Ausweisung des Klägers ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
Maßgeblich für die rechtliche Beurteilung ist insoweit die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der der Entscheidung des Senats (stRspr, vgl. zuletzt BVerwG, U.v. 9.5.2019 – 1 C 21.18 – juris Rn. 11).
Die Ausweisung findet ihre Rechtsgrundlage im Grundtatbestand des § 53 Abs. 1 AufenthG. Danach wird ein Ausländer, dessen Aufenthalt die öffentliche Sicherheit und Ordnung gefährdet, ausgewiesen, wenn die unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles vorzunehmende Abwägung der Interessen an seiner Ausreise mit den Interessen an seinem weiteren Verbleib im Bundesgebiet ergibt, dass das öffentliche Interesse an der Ausreise überwiegt.
a) Die Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung durch den Aufenthalt des Klägers im Bundesgebiet ergibt sich sowohl aus spezialpräventiven als auch aus generalpräventiven Gründen.
Der Kläger ist – mittlerweile rechtskräftig – wegen Erschleichens eines Aufenthaltstitels zu einer Geldstrafe von 70 Tagessätzen verurteilt worden und erfüllt damit ein schwerwiegendes Ausweisungsinteresse nach § 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG sowie nach § 54 Abs. 2 Nr. 8 Buchst. a AufenthG. Bei der damit abgeurteilten Straftat handelt es nicht um einen nur vereinzelten oder geringfügigen Verstoß gegen Rechtsvorschriften im Sinn des § 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG. Diese Vorschrift ist dahin zu verstehen, dass ein Rechtsverstoß nur dann unbeachtlich ist, wenn er sowohl vereinzelt als auch geringfügig ist. Eine vorsätzlich begangene Straftat ist grundsätzlich nicht geringfügig; dies kann nur dann in Betracht kommen, wenn ein strafrechtliches Verfahren wegen Geringfügigkeit eingestellt worden ist (siehe schon BVerwG, U.v. 24.9.1996 – 1 C 9.94 – juris Rn. 20 f.). Allgemein wird eine Straftat als noch geringfügig angesehen, wenn sie zu einer Verurteilung von bis zu 30 Tagessätzen geführt hat oder als geringfügig eingestellt worden ist und der wegen dieser Tat festgesetzte Geldbetrag nicht mehr als 500 Euro betragen hat oder wenn sie als Ordnungswidrigkeit mit einer Geldbuße von nicht mehr als 300 Euro geahndet worden ist; erforderlich ist jedoch immer eine wertende und abwägende Beurteilung (vgl. Katzer in Decker/Bader/Kothe, BeckOK Migrations- und Integrationsrecht, Stand 1.1.2021, § 54 AufenthG Rn. 95 ff.; Bauer in Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, § 54 AufenthG Rn. 95; Fleuß in Kluth/Heusch, BeckOK Ausländerrecht, Stand 1.1.2021, § 54 AufenthG Rn. 323 ff.). Nach der Rechtsprechung des Senats stellen vorsätzliche Verstöße gegen aufenthaltsrechtliche Vorschriften (wie etwa unerlaubte Einreise, unerlaubter Aufenthalt, Täuschung der Ausländerbehörden) in aller Regel keine geringfügigen Rechtsverstöße dar (BayVGH, B.v. 18.9.2020 – 10 CE 20.1914, 10 CS 20.1915 – juris Rn. 30); bestätigt wird dies dadurch, dass der Gesetzgeber in § 54 Abs. 2 Nr. 8 Buchst. a AufenthG falsche oder unvollständige Angaben zur Erlangung eines Aufenthaltstitels ausdrücklich als schwerwiegendes Ausweisungsinteresse festlegt.
Die Straftat des Klägers ist jedenfalls schon nicht geringfügig. Der Kläger wurde wegen der vorsätzlichen Straftat des Erschleichens eines Aufenthaltstitels (§ 95 Abs. 2 Nr. 2 AufenthG) zu einer Geldstrafe von 70 Tagessätzen verurteilt. Weder die Tathandlung (Täuschen über das Bestehen einer ehelichen Lebensgemeinschaft, Täuschen über das Innehaben einer weiteren Wohnung, jeweils bei der Beantragung der Verlängerung der ehebezogenen Aufenthaltserlaubnis) noch die Strafhöhe lassen Raum für die Annahme einer lediglich geringfügigen Straftat. Auch sind keinerlei besondere Umstände erkennbar, die die Tat bzw. die Verurteilung in ihrer Bedeutung mindern könnten. Die vom Kläger vorgetragene damalige schwere Erkrankung seiner ersten Ehefrau während der Trennung und Scheidung könnte allenfalls deren damalige Falschangaben relativieren, nicht aber diejenigen des Klägers. Auch die Meinung des Klägers, das Abstellen allein auf eine vorsätzliche Tat sei nicht sachgerecht, weil dann auch geringfügige Verletzungen von Rechtsvorschriften, die von Strafrichtern regelmäßig eingestellt würden, ein schwerwiegendes Ausweisungsinteresse begründen würden, trifft nicht zu. Wie dargelegt, ist in derartigen Fällen durchaus das individuelle Gewicht des jeweiligen Rechtsverstoßes zu würdigen; eine strafrechtliche Verfahrenseinstellung würde in der Regel zu der Annahme eines auch im Sinne von § 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG geringfügigen Rechtsverstoßes führen.
b) Die mit der Verwirklichung der genannten Tatbestände indizierte Gefährdung öffentlicher Interessen im Sinne des § 53 Abs. 1 AufenthG besteht auch noch im Zeitpunkt der Entscheidung des erkennenden Senats fort, weil eine Wiederholungsgefahr besteht und vom Kläger somit nach wie vor eine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung ausgeht.
Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts haben Ausländerbehörden und Verwaltungsgerichte bei spezialpräventiven Ausweisungsentscheidungen und deren gerichtlicher Überprüfung eine eigenständige Prognose zur Wiederholungsgefahr zu treffen (vgl. z.B. BVerwG, U.v. 15.1.2013 – 1 C 10.12 – juris Rn. 18). Bei der Prognose, ob eine Wiederholung vergleichbarer Straftaten mit hinreichender Wahrscheinlichkeit droht, sind die besonderen Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen, insbesondere die Höhe der verhängten Strafe, die Schwere der konkreten Straftat, die Umstände ihrer Begehung, das Gewicht des bei einem Rückfall bedrohten Rechtsguts sowie die Persönlichkeit des Täters und seine Entwicklung und Lebensumstände bis zum maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt. An die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts sind bei dieser Prognose umso geringere Anforderungen zu stellen, je größer und folgenschwerer der möglicherweise eintretende Schaden ist (stRspr; vgl. z.B. BayVGH, U.v. 12.10.2020 – 10 B 20.1795 – juris Rn. 28; BayVGH, U.v. 30.10.2012 – 10 B 11.2744 – juris Rn. 34; BVerwG, U.v. 4.10.2012 – 1 C 13.11 – juris Rn. 18).
Der Kläger hat die ihm vorzuwerfenden Rechtsverstöße weder als isolierte Einzeltat begangen, noch sind Anhaltspunkte dafür vorhanden, dass es sich dabei um eine außergewöhnliche Sondersituation handelte, deren Wiederholung nicht zu erwarten ist. Hinzuweisen ist darauf, dass gegen den Kläger noch ein weiteres Verfahren wegen Anstiftung zum Erschleichen eines Aufenthaltstitels („Vermittlung“ der Ehe eines Arbeitskollegen mit der späteren zweiten Ehefrau des Klägers) geführt wurde, in dem die Anklage vom Strafgericht zugelassen wurde und das erst am 25. Februar 2020 gemäß § 154 StPO eingestellt worden ist. Ferner weist die Beklagte mit ihrer abschließenden Stellungnahme auch darauf hin, dass gegen den Kläger noch weitere Verfahren wegen verschiedener Delikte geführt wurden, die – meist nach § 154 StPO – eingestellt worden sind.
Nach alldem ist die Prognose gerechtfertigt, dass im Fall des Klägers auch in Zukunft die konkrete Gefahr besteht, dass er in künftigen Verwaltungsverfahren erneut falsche oder unvollständige Angaben über relevante persönliche Umstände machen wird, wenn ihm dies nützlich oder vorteilhaft erscheint. Diese Erwartung wird bereits bestätigt durch das zuletzt vom ihm an den Tag gelegte Verhalten hinsichtlich der melde- und aufenthaltsrechtlichen Situation seiner Ehefrau und seiner beiden Kinder. Die Beklagte hat in ihrer abschließenden Stellungnahme und ebenso in der mündlichen Verhandlung dargelegt, dass auch hier eine Neigung des Klägers zu unzuverlässigem Verhalten und teilweise eine fehlende Bereitschaft zur Mitwirkung zu erkennen sei. So habe er Unterlagen wie etwa die angeforderten Geburtsurkunden der Kinder nur nach teils mehrmaliger Aufforderung und mit langer Verzögerung vorgelegt. Die Kinder, ebenso wie die Ehefrau, halten sich illegal im Bundesgebiet auf, ohne dass der Kläger sich um die Erteilung eines Aufenthaltstitels oder auch nur etwa einer Duldung bemüht hätte; er hat insoweit nicht einmal Nationalpässe vorgelegt. Auch aus diesem Verhalten ist zu schließen, dass ein rechtstreues Verhalten des Klägers insbesondere in Bezug auf aufenthaltsrechtliche Vorschriften in Zukunft nicht zu erwarten ist.
c) Unabhängig davon gefährdet der Aufenthalt des Klägers auch im Hinblick auf generalpräventive Erwägungen die öffentliche Sicherheit und Ordnung der Bundesrepublik Deutschland.
Eine Ausweisung kann auch nach dem seit 1. Januar 2016 geltenden Ausweisungsrecht regelmäßig (zu Ausnahmen bei durch § 53 Abs. 3 bis 4 AufenthG besonders geschützten Personenkreisen BVerwG, U.v. 12.7.2018 – 1 C 16/17 – juris Rn. 19 unter Verweis auf BT-Drs. 18/4097 S. 49) auf generalpräventive Gründe gestützt werden. Denn vom weiteren Aufenthalt eines Ausländers, der Straftaten begangen hat, kann auch dann eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung ausgehen, wenn von ihm selbst keine (Wiederholungs-)Gefahr mehr ausgeht, im Fall des Unterbleibens einer ausländerrechtlichen Reaktion auf sein Fehlverhalten andere Ausländer aber nicht wirksam davon abgehalten werden, vergleichbare Delikte zu begehen (BVerwG, U.v. 9.5.2019 – 1 C 21.18 – juris Rn.17; BayVGH, U.v. 12.10.2020 – 10 B 20.1795 – juris Rn. 32 ff.). Zur Annahme eines generalpräventiven Ausweisungsinteresses im Sinne des § 53 Abs. 1 AufenthG bedarf es – anders als unter Geltung von § 56 Abs. 1 Satz 2 AufenthG a.F. – nicht der Verurteilung wegen besonders schwerwiegender Delikte für die öffentliche Sicherheit und Ordnung wie Drogendelikte, Delikte im Zusammenhang mit organisierter Kriminalität oder im Zusammenhang mit Terrorismus. Nach der Rechtsprechung des Senats können im Einzelfall auch Falschangaben zur Erlangung einer Duldung (BayVGH, B.v. 10.12.2018 – 10 ZB 16.1511 – juris Rn. 19; B.v. 17.9.2020 – 10 C 20.1895 – juris Rn. 10), eine Identitätstäuschung gegenüber der Ausländerbehörde (BayVGH, B.v. 6.3.2020 – 10 ZB 19.2419 – juris Rn. 5), Falschangaben im Visumverfahren (BayVGH, B.v. 28.12.2018 – 10 C 18.1361 – juris Rn. 13), die Verletzung der Passpflicht (BayVGH, B.v. 4.5.2020 – 20.666 – juris Rn. 8) oder Körperverletzung (BayVGH, B.v. 27.4.2020 – 10 C 20.51 – juris Rn. 7) ein generalpräventives Ausweisungsinteresse begründen. Erforderlich ist lediglich, dass die Ausweisung an Straftaten oder Verhaltensweisen anknüpft, bei denen sie nach allgemeiner Lebenserfahrung geeignet erscheint, andere Ausländer von Taten ähnlicher Art und Schwere abzuhalten (BVerwG, U.v. 3.5.1973 – I C 33.72 – juris Rn. 34; Bauer in Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Aufl. 2020, § 53 AufenthG Rn. 64; Dörig, Handbuch Migrations- und Integrationsrecht, 2. Auflage 2020, § 7 Rn. 27; Fleuß in Kluth/Heusch, BeckOK Ausländerrecht, Stand: 1.1.2021, § 53 AufenthG Rn. 32). Auch muss das Ausweisungsinteresse noch aktuell sein (BVerwG, U.v. 9.5.2019 – 1 C 21.18 – juris Rn.17). Darüber hinaus sind Art und Schwere der jeweiligen Anlasstat lediglich im Rahmen der Verhältnismäßigkeit zu berücksichtigen (so auch Bauer in Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Aufl. 2020, § 53 AufenthG Rn. 63).
Gemessen daran besteht im Fall des Klägers ein generalpräventives Ausweisungsinteresse. Gerade bei der vom Kläger begangenen vorsätzlichen Straftat im Zusammenhang mit seinen ausländerrechtlichen Pflichten besteht nach der dargestellten Rechtsprechung des Senats ein erhebliches öffentliches Interesse, andere Ausländer davon abzuhalten, vergleichbare Verstöße zu begehen. Die mit dem Vollzug des Aufenthaltsrechts beauftragten Behörden sind in vielen Fällen auf die eigenen Angaben des antragstellenden Ausländers angewiesen, da gerade persönliche und familiäre Umstände nicht oder nur mit hohem Aufwand durch die Behörden ermittelt werden können. Der Wahrheit und Vollständigkeit dieser Angaben kommt daher ein hoher Stellenwert zu, die der Gesetzgeber mit der Strafandrohung des § 95 Abs. 2 AufenthG (Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe) noch einmal verdeutlicht hat. Daher ist es gerechtfertigt, auch anderen Ausländern vor Augen zu führen, dass das Erschleichen eines Aufenthaltstitels durch falsche Angaben nicht nur zu strafrechtlichen Konsequenzen führt, sondern auch die Aufenthaltsbeendigung sowie ein nachfolgendes Einreise- und Aufenthaltsverbot nach sich ziehen kann.
Das generalpräventive Ausweisungsinteresse ist im Falle des Klägers auch noch aktuell. Für die zeitliche Begrenzung eines generalpräventiven Ausweisungsinteresses, das an strafrechtlich relevantes Handeln anknüpft, ist nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (U.v. 12.7.2018 – 1 C 16.17 – juris Rn. 23) für die vorzunehmende gefahrenabwehrrechtliche Beurteilung eine Orientierung an den Fristen der §§ 78 ff. StGB zur Strafverfolgungsverjährung angezeigt. Dabei bildet die einfache Verjährungsfrist des § 78 Abs. 3 StGB, deren Dauer sich nach der verwirklichten Tat richtet und die mit Beendigung der Tat zu laufen beginnt, eine untere Grenze. Die obere Grenze orientiert sich hingegen regelmäßig an der absoluten Verjährungsfrist des § 78c Abs. 3 Satz 2 StGB, die regelmäßig das Doppelte der einfachen Verjährungsfrist beträgt. Innerhalb dieses Zeitrahmens ist der Fortbestand des Ausweisungsinteresses anhand generalpräventiver Erwägungen zu ermitteln (vgl. BayVGH, B.v. 4.5.2020 – 10 ZB 20.666 – juris Rn. 8). Da das Erschleichen eines Aufenthaltstitels nach § 95 Abs. 2 AufenthG gemäß § 78 Abs. 3 Nr. 4 StGB in fünf Jahren verjährt, die regelmäßige Obergrenze also 10 Jahre beträgt, ist zum Zeitpunkt der Entscheidung des Senats etwa siebeneinhalb Jahre nach der Tat (Eheerklärung vom 17. September 2013) die Aktualität des generalpräventiven Ausweisungsinteresses immer noch zu bejahen. Dies rechtfertigt sich auch deswegen, weil die strafrechtliche Verurteilung erst seit etwas über einem Jahr rechtskräftig ist (Beschluss des Bayerischen Obersten Landesgerichts vom 22. Januar 2020), nachdem sich das Strafverfahren seit der Anzeigeerstattung durch die Beklagte im Juni 2015 über mehrere Jahre hingezogen hatte.
d) Die unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles vorzunehmende Abwägung der Interessen an der Ausreise mit den Interessen an einem weiteren Verbleib des Ausländers im Bundesgebiet führt dazu, dass das öffentliche Interesse an der Ausreise die Bleibeinteressen des Klägers überwiegt.
Voraussetzung für eine Ausweisung bei einer bestehenden Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung durch den weiteren Aufenthalt des Ausländers ist gemäß § 53 Abs. 1 AufenthG eine umfassende und ergebnisoffene Abwägung aller Umstände des Einzelfalls, die vom Grundsatz der Verhältnismäßigkeit geleitet wird. Dieser Grundsatz des § 53 Abs. 1 AufenthG erfährt durch § 54 und § 55 AufenthG weitere Konkretisierungen. Einzelnen in die Abwägung einzustellenden Ausweisungs- und Bleibeinteressen wird von vornherein ein spezifisches bei der Abwägung zu berücksichtigendes Gewicht beigemessen. Bei der Abwägung des Interesses an der Ausreise mit den Bleibeinteressen sind darüber hinaus die in § 53 Abs. 2 AufenthG aufgeführten Umstände (näher dazu etwa BVerwG, U.v. 22.2.2017 – 1 C 3.16 – juris Rn. 24 f.) in die wertende Gesamtbetrachtung einzubeziehen.
Der Kläger erfüllt – wie dargestellt – ein schwerwiegendes Ausweisungsinteresse nach § 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG sowie nach § 54 Abs. 2 Nr. 8 Buchst. a AufenthG. Auch wenn der Kläger „nur“ zu einer Geldstrafe verurteilt und dem § 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG vom Gesetzgeber nur eine „Auffangfunktion“ beigelegt wurde (so die Gesetzesbegründung, BT-Drs. 18/4097, S. 52), kommt dem Ausweisungsinteresse bei der Abwägung im konkreten Einzelfall ein erhebliches Gewicht zu. Der Kläger hat bei seiner Erklärung am 17. September 2013 falsche bzw. unvollständige Angaben gemacht und damit in rechtswidriger Weise die Verlängerung seiner Aufenthaltserlaubnis erreicht; in der Folge setzte sich die Rechtswidrigkeit seines Aufenthalts letztlich bis zum jetzigen Zeitpunkt fort. Dabei kommt es nicht darauf an, ob der Kläger zum Zeitpunkt seiner Erklärung möglicherweise bereits einen Anspruch auf eine Aufenthaltserlaubnis für ein Jahr aus einem eigenständigen Aufenthaltsrecht nach § 31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG gehabt hätte. Anstatt die Prüfung eines derartigen Rechts anzustoßen, hat er es aus letztlich nicht bekannten Gründen vorgezogen, falsche Angaben zu machen. Das Gewicht, das der Gesetzgeber dem sich aus Falschangaben gegenüber den Ausländerbehörden ergebenden Ausweisungsinteresse beigemessen hat, ergibt sich auch aus der Regelung in § 54 Abs. 2 Nr. 8 Buchst. a AufenthG, nach der falsche oder unvollständige Angaben zur Erlangung eines Aufenthaltstitels ausdrücklich als schwer wiegend festgelegt sind, selbst wenn solche Angaben nicht zu einer Verurteilung geführt haben.
Das Bleibeinteresse des Klägers überwiegt dieses schwerwiegende Ausweisungsinteresse nicht. Unbestritten besteht zu Gunsten des Klägers kein besonders schwer wiegendes Bleibeinteresse im Sinn von § 55 Abs. 1 AufenthG; insbesondere besitzt er keine Aufenthaltserlaubnis. Als „vertyptes“ schwer wiegendes Bleibeinteresse wirkt zugunsten des Klägers lediglich § 55 Abs. 2 Nr. 5 AufenthG, weil die Belange oder das Wohl der beiden Kinder des Klägers zu berücksichtigen sind. Dieser Vorschrift kommt allerdings nur eine Auffangfunktion zu, weil die Belange von Kindern (wie auch von anderen Familienmitgliedern) unabhängig davon in jedem Einzelfall mit dem ihnen zukommenden besonderen Gewicht (Art. 6 GG, Art. 8 EMRK) berücksichtigt werden müssen (Fleuß in Kluth/Heusch, BeckOK AuslR, § 55 AufenthG Rn. 113; Katzer in Decker/Bader/Kothe, BeckOK Migrations- und Integrationsrecht, Stand 1.1.2021, § 55 AufenthG Rn. 42). Die beiden Kinder des Klägers, die – ebenso wie seine Ehefrau – mit ihm zusammenleben, sind noch im Kleinkindalter; sie halten sich ebenso wie seine Ehefrau illegal in der Bundesrepublik auf. Der Kläger hat nach Aktenlage bisher keine Anstalten unternommen, um deren ausländerrechtlichen Status zu klären; nach dem Vortrag der Beklagten hat der Kläger auch Angaben insbesondere bezüglich der Kinder nur zögerlich bzw. mit großer Verspätung gemacht. Es kann daher erwartet werden, dass seine Ehefrau und seine Kinder mit ihm zusammen als Familienverband in ihr Herkunftsland zurückkehren werden; eine Trennung der Familienmitglieder ergibt sich aus der Ausweisung gerade nicht.
Für den Kläger spricht ferner sein mittlerweile seit fast elf Jahren andauernder Aufenthalt im Bundesgebiet und seine langjährige berufliche Integration als Kraftfahrer (siehe das in der mündlichen Verhandlung vorgelegte Arbeitszeugnis vom 16. März 2021). Allerdings ist hier zu sehen, dass gerade dieser Aufenthalt zu einem erheblichen Teil auf den (schon) im Jahr 2013 gemachten Falschangaben beruht.
Die Beklagte weist ferner zu Recht darauf hin, dass der Kläger erst im Alter von 37 Jahren in das Bundesgebiet eingereist ist. Er beherrscht die Landessprache und ist mit den Verhältnissen in seinem Herkunftsland von Jugend auf vertraut. Aus den Akten ergeben sich auch vielfältige persönliche Beziehungen und häufige Reisen nach Aserbaidschan; so hat er etwa gegenüber dem Verwaltungsgericht vorgetragen, dass er häufig „Touristen“ aus seinem Heimatland, die sich hier zu medizinischen Behandlungen aufgehalten hätten, beherbergt und betreut habe. Sein Vortrag, er und ebenso seine Ehefrau seien zwar aserbaidschanische Staatsangehörige, aber „eigentlich Armenier“ und zählten als Christen zur Minderheit in Aserbaidschan, weshalb sich aus der aktuellen Situation dort ein „Problem“ ergebe, bleibt völlig unsubstantiiert und vage. Der Senat geht daher davon aus, dass sich der Kläger mit seiner Familie ohne größere Schwierigkeiten in seinem Heimatland wieder zurechtfinden wird, auch wenn seine Eltern, wie er vorträgt, bereits hochbetagt sind und ihn mit ihrer geringen Rente nicht unterstützen können.
2. Die Nr. 2 des streitgegenständlichen Bescheids, mit der die Wiedereinreise für drei Jahre untersagt wird, entspricht zum Zeitpunkt der Entscheidung des Senats den Anforderungen des § 11 Abs. 1, Abs. 2 AufenthG (i.d.F. des Gesetzes vom 15.8.2019, BGBl I 1294). Bezüglich der Fristbestimmung (§ 11 Abs. 3 AufenthG) sind im Rahmen des § 114 Satz 1 VwGO beachtliche Ermessensfehler nicht erkennbar; der Kläger hat insoweit auch nichts vorgetragen.
3. Die Rücknahme der am 17. September 2013 verlängerten Aufenthaltserlaubnis mit Wirkung für die Vergangenheit ist ebenfalls rechtmäßig.
Gemäß Art. 48 Abs. 1 BayVwVfG kann ein rechtswidriger, begünstigender Verwaltungsakt zurückgenommen werden, wobei gemäß Art. 48 Abs. 3 Satz 1 und 2 i.V.m. Abs. 2 Satz 3 Nr. 2 und Satz 4 BayVwVfG der Betroffene sich nicht auf schutzwürdiges Vertrauen berufen kann, wenn er den Verwaltungsakt durch Angaben erwirkt hat, die in wesentlicher Beziehung unrichtig oder unvollständig waren; in diesem Fall wird der Verwaltungsakt in der Regel mit Wirkung für die Vergangenheit zurückgenommen.
Der Kläger hat die Verlängerung der ihm am 17. September 2013 erteilten (und bis zum 16. September 2016 gültigen) Aufenthaltserlaubnis, wie bereits dargelegt, durch falsche und unvollständige Angaben erwirkt, denn bei wahrheitsgemäßen Angaben hinsichtlich des Nichtbestehens der ehelichen Lebensgemeinschaft und der Wohnverhältnisse wäre seine ehebezogene Aufenthaltserlaubnis nach § 27 Abs. 1 i.V.m. § 30 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG nicht verlängert worden. Hinsichtlich der Voraussetzungen für die Rücknahme im Einzelnen wird auf die ausführlichen Darlegungen in dem streitgegenständlichen Bescheid Bezug genommen (§ 117 Abs. 5 VwGO).
Auch im Rahmen des § 114 Satz 1 VwGO beachtliche Ermessenfehler liegen nicht vor. Da maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit auch im Fall einer Rücknahme der Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung des Senats ist (BVerwG, U.v. 13.4.2010 – 1 C 10.09 – juris Rn. 11), waren auch nach Bescheidserlass eingetretene Gesichtspunkte in die Ermessenserwägungen einzustellen. Die Beklagte hat in Erfüllung ihrer Obliegenheit zur ständigen verfahrensbegleitenden Kontrolle (BVerwG, U.v. 13.4.2010 – 1 C 10.09 – juris Rn. 24) ihre Ermessenserwägungen mit ihrer abschließenden Stellungnahme (eingegangen am 8. Januar 2021) aktualisiert und nach erneuter Würdigung an ihrer Ermessenentscheidung festgehalten. Ihre Feststellung, dass in Anbetracht aller Umstände (weiterhin) der Herstellung rechtmäßiger Zustände durch die Rücknahme der durch falsche und unvollständige Angaben erschlichenen Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis der Vorrang einzuräumen ist, ist nicht zu beanstanden.
4. Ebenso bleibt der Antrag, die Beklagte zur Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis an den Kläger zu verpflichten, erfolglos; der Kläger hat hierauf keinen Anspruch (§ 113 Abs. 5 VwGO).
Der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis steht schon die Sperrwirkung der Ausweisung nach § 11 Abs. 1 Satz 2 AufenthG entgegen. Ihm dürfte selbst im Fall eines gesetzlichen Anspruchs kein Aufenthaltstitel erteilt werden.
5. Die Abschiebungsandrohung entspricht §§ 58, 59 AufenthG.
Nach alldem war die Berufung zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.
Die Revision ist nicht zuzulassen, weil die Voraussetzungen des § 132 Abs. 2 VwGO nicht vorliegen.


Ähnliche Artikel

Bankrecht

Schadensersatz, Schadensersatzanspruch, Sittenwidrigkeit, KapMuG, Anlageentscheidung, Aktien, Versicherung, Kenntnis, Schadensberechnung, Feststellungsziele, Verfahren, Aussetzung, Schutzgesetz, Berufungsverfahren, von Amts wegen
Mehr lesen

IT- und Medienrecht

Abtretung, Mietobjekt, Vertragsschluss, Kaufpreis, Beendigung, Vermieter, Zeitpunkt, Frist, Glaubhaftmachung, betrug, Auskunftsanspruch, Vertragsurkunde, Auskunft, Anlage, Sinn und Zweck, Vorwegnahme der Hauptsache, kein Anspruch
Mehr lesen


Nach oben