Verwaltungsrecht

Ausweisung aus spezialpräventiven Gesichtspunkten, Sucht, Therapie, faktischer Inländer

Aktenzeichen  AN 11 K 20.02512

Datum:
20.9.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 48612
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Ansbach
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AufenthG §§ 53, 54
VwGO § 80 Abs. 5

 

Leitsatz

Tenor

Die Klage wird abgewiesen.
Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens. Das Urteil ist insoweit vorläufig vollstreckbar.
Der Kläger kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe der festgesetzten Kosten abwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Die zulässige Klage ist nicht begründet. Im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung erweisen sich die Ausweisungsverfügung (im Folgenden unter I.), das auf die Dauer von sieben Jahren befristete Einreise- und Aufenthaltsverbot (im Folgenden unter II.) und die Ablehnung der Erteilung bzw. Verlängerung eines Aufenthaltstitels (im Folgenden unter III.) sowie die Annexentscheidungen (im Folgenden unter IV.) als rechtmäßig und verletzen den Kläger nicht in seinen Rechten, § 113 Abs. 1 Satz 1, Abs. 5 VwGO.
I. Die Ausweisungsverfügung ist rechtmäßig.
Für die verwaltungsgerichtliche Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Ausweisungsverfügung ist nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung der Entscheidung des Tatsachengerichts abzustellen (vgl. BVerwG, U.v. 15.11.2007 – 1 C 45.06 – BVerwGE 130, 20).
1. Die formell rechtmäßige Ausweisungsverfügung findet ihre Rechtsgrundlage in § 53 Abs. 1 AufenthG.
Nach § 53 Abs. 1 AufenthG wird ein Ausländer, dessen Aufenthalt die öffentliche Sicherheit und Ordnung, die freiheitlich demokratische Grundordnung oder sonstige erhebliche Interessen der Bundesrepublik Deutschland gefährdet, ausgewiesen, wenn die unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls vorzunehmende Abwägung der Interessen an der Ausreise mit den Interessen an einem weiteren Verbleib des Ausländers im Bundesgebiet ergibt, dass das öffentliche Interesse an der Ausreise überwiegt. Beim Kläger liegen die Voraussetzungen für die erhöhten Anforderungen nach § 53 Abs. 3 bis 5 AufenthG nicht vor.
a) Der Aufenthalt des Klägers gefährdet die öffentliche Sicherheit und Ordnung i.S.d. § 53 Abs. 1 AufenthG. Unter Berücksichtigung aller Umstände und nach Abwägung des öffentlichen Ausweisungsinteresses (§ 54 AufenthG) mit seinem privaten Bleibeinteresse (§ 55 AufenthG) ist das Verwaltungsgericht der Überzeugung, dass hier das öffentliche Interesse an der Ausreise des Klägers sein Interesse an einem weiteren Verbleib im Bundesgebiet überwiegt und die Ausweisung auch nicht gegen höherrangige Normen verstößt.
a) Maßgeblicher Ausweisungsanlass ist die Verurteilung des Klägers vom 26. Mai 2020 zu einer Freiheitsstrafe in Höhe von vier Jahren wegen gefährlicher Körperverletzung. Die Beklagte hat ihre Entscheidung auf spezialpräventive Gründe gestützt, was nicht zu beanstanden ist. Das persönlich Verhalten des Klägers gefährdet die öffentliche Sicherheit und Ordnung der Bundesrepublik Deutschland.
Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts und des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs haben Ausländerbehörden und Verwaltungsgerichte eine eigenständige Prognose zur Wiederholungsgefahr zu treffen (vgl. BVerwG, U.v. 15.1.2013 – 1 C 10.12 – juris Rn. 18; BayVGH, B.v. 7.2.2018 – 10 ZB 17.1386 – juris m.w.N.; U.v. 8.3.2016 – 10 B 15.180 – juris Rn. 31). Erforderlich ist die Prognose, dass mit hinreichender Wahrscheinlichkeit durch die weitere Anwesenheit des Ausländers im Bundesgebiet ein Schaden an einem der Schutzgüter eintreten wird (vgl. BR-Drs. 642/14, S. 55). Bei der Prognose, ob eine Wiederholung vergleichbarer Straftaten mit hinreichender Wahrscheinlichkeit droht, sind die besonderen Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen, insbesondere die Höhe der verhängten Strafe, die Schwere der konkreten Straftat, die Umstände ihrer Begehung, das Gewicht des bei einem Rückfall bedrohten Rechtsguts sowie die Persönlichkeit des Täters und seine Entwicklung und Lebensumstände bis zum maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt (vgl. BayVGH, U.v. 30.10.2012 – 10 B 11.2744 – juris Rn. 33 m.w.N.). An die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts sind bei dieser Prognose umso geringere Anforderungen zu stellen, je größer und folgenschwerer der möglicherweise eintretende Schaden ist (stRspr BVerwG, U.v. 4.10.2012 – 1 C 13.11 – juris Rn. 18; BayVGH, U.v. 30.10.2012 – 10 B 11.2744 – juris Rn. 34, B.v. 3.3.2016 – 10 ZB 14.844 – juris und U.v. 8.3.2016 – 10 B 15.180 – juris Rn. 31).
Gemessen an diesen Grundsätzen ist die Kammer zu der Überzeugung gelangt, dass eine hinreichend konkrete Wahrscheinlichkeit dafür besteht, dass der Kläger erneut die öffentliche Sicherheit durch vergleichbare Straftaten beeinträchtigen wird. Nach den Feststellungen des Landgerichts … im Urteil vom 26. Mai 2020 leidet der Kläger seit seiner Kindheit unter ADHS und erhielt verschiedene Maßnahmen der Jugendhilfe. Mit der Anlasstat hat der Täter das hohe Rechtsgut der körperlichen Unversehrtheit beeinträchtigt, das sogar grundrechtlichen Schutz genießt (Art. 2 Abs. 2 GG) und dessen besondere Bedeutung auch in § 54 Abs. 1 Nr. 1a AufenthG im Bereich der Ausweisungen einfachgesetzlich normiert ist. Schon durch sein Verhalten bis zur Anlasstat zeigte der Kläger, dass er es an der Achtung der körperlichen Unversehrtheit anderer Menschen missen lässt. Denn der damals 24-jährige Kläger wurde bis zu seiner Verurteilung wegen der Anlasstat im Mai 2020 vorher acht Mal wegen eines Körperverletzungsdelikts verurteilt. Die Kammer verkennt nicht, dass der Kläger zum Teil die Straftaten als Jugendlicher begangen hat und dass diese zum Teil in nachfolgende Entscheidungen einbezogen wurden. Jedoch hat der Kläger durch dieses Verhalten wiederholt zum Ausdruck gebracht, dass er nicht davor zurückschreckt, den Körper anderer zu verletzen und sich davon auch nicht durch strafgerichtliche Verurteilungen abhalten lässt. Dies umso mehr als er eine enorme Rückfallgeschwindigkeit gezeigt hat. Die letzte Verurteilung vor der Anlasstat am 26./27. Juli 2019 erfolgte am 8. Juli 2019, auch wegen Körperverletzung. Damit hat der Kläger nur etwa drei Wochen nach einer Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr wegen Körperverletzung erneut ein ähnliches Delikt begangen. In der Anlasstat hat der Kläger sogar eine Steigerung der Intensität bzw. eine Qualifizierung des Grundtatbestands der Körperverletzung verwirklicht. Der Kläger hat zudem bei der Anlasstat die Schwäche und Wehrlosigkeit des am Boden liegenden Opfers ausgenutzt. Obwohl er noch unter dem Eindruck der Verurteilung hätte stehen müssen, widersetzte sich der Kläger davon unbeeindruckt erneut der Rechtsordnung. Hinzukommt, dass der am … 1995 geborene, und damit bei Begehung der Anlasstat erst 23 Jahre alte Kläger, zu diesem Zeitpunkt schon 17 Eintragungen im Bundeszentralregister aufwies, die meisten davon wegen Körperverletzungs- und Diebstahlsdelikten. Diese hohe Anzahl von Eintragungen des Klägers zeigt, dass er sich von Verurteilungen nicht davon abschrecken lässt, weitere Taten zu begehen und dass er die Rechtsgüter anderer nicht achtet.
Die Kammer geht auch auf Grund der Persönlichkeit des Klägers von einer Wiederholungsgefahr aus. Diesem ist es bislang nicht gelungen, sich längerfristig in das Wirtschaftsleben der Bundesrepublik Deutschland zu integrieren. Der Kläger hat zwar einen Schulabschluss erreicht, jedoch bis heute keine Berufsausbildung abschließen können. Zwar vermag die schwere Verletzung des Klägers im Jahr 2013 vorübergehend die berufliche Beschäftigung gehindert haben, jedoch hat der Kläger auch nach seiner Genesung eine Berufsausbildung – wie schon zuvor – nur begonnen, aber nicht zu Ende gebracht. Ansonsten hatte er bis zu seiner Inhaftierung nur kurzfristige Jobs bzw. gar keine und lebte nach den Feststellungen des Landgerichts auf Kosten seiner Freundin.
Eine Zäsur ist im Lebenslauf des Klägers nicht erkennbar. Sein familiäres Umfeld konnte ihn bislang nicht von der Begehung von Straftaten abhalten. Der Umzug des Klägers von … in den Stadtbereich der Beklagten im Jahr 2018 bewirkte keine Zäsur, da der Kläger weiter Straftaten beging. Auch die begonnene Therapie im Bezirksklinikum lässt die Wiederholungsgefahr nicht entfallen. Die Kammer verkennt nicht, dass der Kläger die Therapie bislang mit positiven Ergebnissen durchführt und motiviert ist, sich zu ändern. Nach ständiger Rechtsprechung, der sich die Kammer anschließt, kann jedoch bei Straftaten, die auch auf der Suchterkrankung des Ausländers beruhen, von einem Wegfall der Wiederholungsgefahr nicht ausgegangen werden, solange der Ausländer nicht eine Therapie erfolgreich abgeschlossen und die damit verbundene Erwartung künftig drogen- und straffreien Verhaltens auch nach Therapieende glaubhaft gemacht hat, sich mithin hinreichend in Freiheit bewährt hat (vgl. BayVGH, B.v. 29.4.2020 – 10 ZB 20.104 – juris Rn. 7 m.w.N.; B. 14.3.2019 – 19 CS 17.1784 – juris Rn. 15). Von einem wirklichen Therapieerfolg, mit dauerhaften Einstellungswandel und innerlich gefestigter Verhaltensänderung, kann erst gesprochen werden, wenn sich der Ausländer außerhalb des Straf- bzw. Maßregelvollzugs bewährt hat (BayVGH B.v. 3.4.2019 – 19 ZB 18.1001 – juris Rn. 14; B.v, 14.3.2019 – 19 CS 17.1784 – juris Rn. 15).
Der Kläger war nach den Feststellungen des Landgerichts … im Urteil vom 26. Mai 2020 bei Begehung der Anlasstat alkoholisiert und hatte im Vorfeld THC konsumiert. Die Straftat erfolgte somit unter dem Einfluss von berauschenden Substanzen, so dass die Wiederholungsgefahr erst nach Therapieende und hinreichender Bewährung in Freiheit entfallen kann. Auch wenn der Kläger schon erste Lockerungsstufen im Klinikum erhalten hat, ist darin noch keine Bewährung in Freiheit zu sehen. Der Kläger ist weiterhin untergebracht und die Therapie wegen seiner Suchterkrankung bezüglich Alkohol, Kokain und Cannabis noch nicht abgeschlossen (vgl. Therapiebericht der Klinik vom 16.7.2021). Auch der in der mündlichen Verhandlung geltend gemachte Beginn einer Berufsausbildung im September 2021 und der kurz bevorstehende Einsatz des Klägers für eine Fußballmannschaft in der Landesliga können die Wiederholungsgefahr nach den in der ständigen Rechtsprechung herausgearbeiteten Kriterien nicht entfallen lassen. Der Kläger hatte nach den Feststellungen des Landgerichts … schon im Alter von 13 Jahren Räusche und fing mit 16 Jahren an, THC zu konsumieren, später Kokain. Es ist damit eine jahrelange Gewöhnung des Klägers an Suchtmittel zu erkennen und auch eine Steigerung der Gefährlichkeit der konsumierten Drogen. Die Wiederholungsgefahr besteht daher weiterhin. Es besteht daher mit hinreichender Wahrscheinlichkeit die Gefahr, dass der Kläger vergleichbare Straftaten begehen wird. b)
Die Ausweisung ist unter Abwägung aller Umstände des Einzelfalls nach § 53 Abs. 1, 2 AufenthG gerechtfertigt, weil das öffentliche Ausweisungsinteresse nach § 54 AufenthG das Bleibeinteresse des Klägers nach § 55 AufenthG überwiegt.
aa) Das Ausweisungsinteresse wiegt nach § 53 Abs. 1 i.V.m. § 54 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 1a AufenthG besonders schwer, da der Kläger mit Urteil des Landgerichts … vom 26. Mai 2020 rechtskräftig wegen gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren verurteilt wurde. Dadurch wurde sowohl der in § 54 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG normierte Strafrahmen von zwei Jahren aufgrund einer vorsätzlichen Straftat überschritten als auch der in § 54 Abs. 1 Nr. 1a AufenthG gesteckte Strafrahmen von einem Jahr aufgrund der Verurteilung wegen einer Straftat gegen die körperliche Unversehrtheit.
bb) Diesem besonders schwerwiegenden Ausweisungsinteresse steht kein besonders schwerwiegendes Bleibeinteresse nach § 55 Abs. 1 AufenthG oder ein schwerwiegendes Bleibeinteresse nach § 55 Abs. 2 AufenthG entgegen, wobei die in Absatz 2 benannten Bleibeinteressen nicht abschießend sind. Der Kläger verfügte im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung – wie auch schon im Zeitpunkt der Behördenentscheidung – nicht über einen in § 55 Abs. 1 AufenthG genannten Aufenthaltstitel. Seine letzte Aufenthaltserlaubnis war bis 28. Dezember 2011 gültig. Zwar beantragte der Kläger vor Ablauf der Gültigkeit eine Niederlassungserlaubnis, so dass ihm Fiktionsbescheinigungen gem. § 81 Abs. 5 i.V.m. 4 AufenthG ausgestellt wurden, jedoch steht eine Fiktionsbescheinigung nicht einem Aufenthaltstitel im Sinne von § 55 Abs. 1 AufenthG gleich (vgl. BayVGH, U.v. 4.7.2011 – 19 B 10.1631 – juris Rn. 40 ff.; U.v. 4.2.2009 – 19 B 08.2774 – juris Rn. 41; OVG Saarl, B.v. 27.8.2014 – 2 D 282/14 – juris Rn. 5; Bauer in Bergmann/Dienelt, AuslR, 11. Aufl. 2016, § 55 AufenthG, Rn. 6). Sinn und Zweck der Fiktionswirkung sowie die erforderliche Differenzierung zwischen Rechtmäßigkeit eines Aufenthalts und Titelbesitz sprechen dafür, dass der Fiktionswirkung nur eine besitzstandswahrende, aber nicht eine rechtsbegründende Wirkung zukommen soll (vgl. BVerwG, U.v. 30.3.2010 – 1 C-6/09 – BVerwGE 136, 211 juris, Rn. 21). Für das Bestehen eines schwerwiegenden Bleibeinteresses nach § 55 AufenthG kommt es danach auf den tatsächlichen Besitz des jeweiligen Aufenthaltstitels an (vgl. BayVGH, B.v.24.7.2017 – 19 CS 16.2376 – juris). Entgegen der Ansicht des Klägerbevollmächtigten kann angesichts der klaren und eindeutigen Regelung in § 55 Abs. 1 AufenthG, nach der ein Titelbesitz erforderlich ist, alleine aufgrund der Geburt im Bundesgebiet und eines fünfjährigen rechtmäßigen Aufenthalts kein unbenannter Fall des § 55 Abs. 2 AufenthG angenommen werden. Dies würde dem gesetzgeberischen Willen zuwiderlaufen. Gleichwohl würde sich selbst bei Vorliegen eines (unvertypten) schwerwiegenden Bleibeinteresses insbesondere unter Berücksichtigung der Vielzahl der Straftaten und der Rückfallgeschwindigkeit des Klägers die Ausweisung auch im Licht von Art. 6 Abs. 1 GG bzw. Art. 8 Abs. 1 und 2 EMRK, Art. 7 GRCh als verhältnismäßig erweisen.
2. Die unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls, vorzunehmende Abwägung gemäß § 53 Abs. 1 und 2 AufenthG von Ausweisungs- und Bleibeinteresse ergibt ein Überwiegen des öffentlichen Ausweisungsinteresses gegenüber den privaten Bleibeinteressen des Klägers.
Der Kläger ist im Bundesgebiet geboren und hält sich seit etwa 25 Jahren rechtmäßig hier auf. Der Aufenthalt des Klägers in Deutschland dauert seit seiner Geburt an und fällt daher als intensive Bindung erheblich ins Gewicht. Ob man den Kläger dabei als sog. faktischen Inländer bezeichnet oder nicht, ist unerheblich, da in jedem Fall selbst für faktische Inländer kein generelles Ausweisungsverbot besteht (vgl. BVerfG, B.v. 19.10.2016 – 2 BvR 1943/16 – juris Rn. 16). Familienangehörige des Klägers, insbesondere sein Vater und seine (Halb-)Geschwister wohnen ebenso im Bundesgebiet. Der Kläger spricht zudem sehr gut die deutsche Sprache. Er hat damit seine wesentlichen persönlichen Bindungen im Bundesgebiet. Das Gewicht seiner familiären Bindungen wird indes dadurch gemindert, dass er als erwachsener Mann grundsätzlich nicht mehr auf die Fürsorge und Unterstützung seiner Familie angewiesen ist, sondern ein eigenständiges Leben führen kann. Den Kontakt mit seinen Familienangehörigen kann der Kläger auch aus dem Ausland mittels Kommunikationsmitteln aufrechterhalten. Die von der Klägerseite vorgebrachte Planung, mit seiner Lebensgefährtin eine Familie zu gründen, wird in diesem Zusammenhang zwar gesehen, jedoch als eine rein beabsichtigte Familiengründung – unabhängig vom Aufenthaltsstatus und von der Staatsangehörigkeit der Lebensgefährtin des Klägers – ohne Nachweis eines Verlöbnisses als von geringem Gewicht angesehen. Der Kläger ist bislang ledig und kinderlos. Ihm ist es bislang nicht gelungen, sich wirtschaftlich dauerhaft zu integrieren. Zwar kann er einen Schulabschluss vorweisen, jedoch scheiterte der Kläger mehrmals daran, eine Berufsausbildung abzuschließen. Auch nach der Genesung nach der schweren Verletzung im Jahr 2013 schaffte der Kläger es nicht, beruflich Fuß zu fassen. Zwar sieht die Kammer die aktuellen Anstrengungen des Klägers und erkennt diese an, jedoch ist dem Kläger bislang noch kein beruflicher Abschluss tatsächlich gelungen. Die Kammer verkennt nicht, dass es für den Kläger aufgrund der vorgebrachten mangelhaften Sprachkenntnisse seines Heimatlandes Bosnien-Herzegowina und der mangelnden familiären Anknüpfungspunkte möglicherweise mit hohen Anstrengungen verbunden sein wird, sich dort zu integrieren, jedoch hat der Kläger durch seinen Schulabschluss gezeigt, dass er grundsätzlich fähig ist, Lernerfolge zu erzielen. Aufgrund seines Alters von nur 25 Jahren ist das Verfestigen einer bislang – wie vorgebracht – kaum beherrschten Sprache und das Einfinden und Integrieren in dem bisher wohl eher unbekannten Wirtschaftsleben in Bosnien-Herzegowina dem Kläger zumutbar. Ebenso sieht die Kammer, dass der Kläger zwar Opfer einer schweren Verletzung wurde, jedoch liegt diese schon etwa acht Jahre zurück, der Kläger ist wieder genesen. Der Kläger führte nach der Verletzung grundsätzlich den gleichen Lebenswandel wie vorher, so dass die Verletzung im Rahmen der Abwägung kein starkes Gewicht hat. Auch mag der Tod des Bruders den Kläger stark getroffen haben, jedoch sind solche schweren Schicksalsschläge von den Betroffenen individuell zu verarbeiten, eine völlig atypische Lebenssituation für einen erwachsenen Mann wie dem Kläger liegt hierin jedoch nicht. Die vom Bevollmächtigten behaupteten befürchteten Anfeindungen des Klägers in Bosnien-Herzegowina aufgrund seiner offensichtlichen Zugehörigkeit zum Christentum sind durch nichts belegt und zudem nicht nachvollziehbar, da in Bosnien-Herzegowina circa die Hälfte der Bevölkerung muslimischen Glaubens ist und die andere Hälfte fast ausschließlich Christen sind. Von hohem Gewicht im Rahmen der Abwägung ist die ausweislich des Bundeszentralregisters bestehende sehr hohe Rückfallgeschwindigkeit des Täters, die Anzahl der abgeurteilten Straftaten und seine noch nicht überwundene Drogen-/Alkoholproblematik. Auch wenn die Mehrzahl der Straftaten vom Kläger noch als Jugendlicher oder Heranwachsender begangen wurde, so ändert dies nichts daran, dass er auch schon unter Anwendung des Erwachsenenstrafrechts mehrmals verurteilt wurde (13.12.2017, 6.12.2018, 8.7.2019 und 26.5.2020). Er wurde selbst als Erwachsener schon mehrmals rückfällig. Zudem sind die Straftaten, die der Kläger vor Vollendung seines 21. Lebensjahrs begangen hat, schon alleine aufgrund der Anzahl nicht nur als jugendliche Verfehlungen anzusehen oder als einmalige Angelegenheit, über die hinweggegangen werden kann. Aufgrund der noch nicht abgeschlossenen Drogentherapie und des bestehenden Zusammenhangs zwischen den Taten und dem Drogenkonsum ist zudem eine hohe Rückfallgefahr gegeben (s. oben).
Wägt man nun die besonders schützenswerten Belange des Klägers, insbesondere seine Stellung als in der Bundesrepublik Deutschland geborener Ausländer, mit den von ihm wiederholt begangenen Straftaten ab, kommt die Kammer zu dem Ergebnis, dass die begangenen Straftaten und die damit verbundene konkrete, nicht ausgeräumte erhebliche Rückfallgefahr die Bindungen des Klägers im Bundesgebiet überwiegen. Zwar lebt der Kläger seit seiner Geburt in der Bundesrepublik Deutschland und auch seine Familie lebt hier, gleichwohl ist dem Kläger eine Integration in die Rechts- und Gesellschaftsordnung der Bundesrepublik Deutschland angesichts der Vielzahl der von ihm begangenen Straftaten nicht geglückt. Er ist seit seiner Jugend immer wieder massiv straffällig geworden. Der Kläger hat zwar einen Schulabschluss, aber keine Ausbildung abgeschlossen und sich somit nicht nachhaltig, sondern allenfalls vorübergehend wirtschaftlich integriert. Weder seine Familie noch seine Freundin haben ihn in der Vergangenheit davon abhalten können, Alkohol und Drogen zu konsumieren und wiederholt straffällig zu werden.
c) Die Ausweisung erweist sich auch unter Berücksichtigung von Art. 6 GG, Art. 8 Abs. 1, Abs. 2 EMRK und Art. 7 GrCH als verhältnismäßig.
Bei der Prüfung der Verhältnismäßigkeit sind insbesondere die Anzahl, Art und Schwere der vom Ausländer begangenen Straftaten, das Alter des Ausländers bei Begehung dieser Taten, die Dauer des Aufenthalts in dem Land, das der Ausländer verlassen soll, die seit Begehung der Straftaten vergangene Zeit und das seitdem gezeigte Verhalten des Ausländers, die Staatsangehörigkeit aller Beteiligten, die familiäre Situation und gegebenenfalls die Dauer einer Ehe sowie andere Umstände, die auf ein tatsächliches Familienleben eines Paares hinweisen, Kinder des Ausländers und deren Alter, das Interesse und das Wohl der Kinder, insbesondere auch die Schwierigkeiten, auf die sie wahrscheinlich in dem Land treffen, in das der Betroffene ggf. abgeschoben werden soll, die Intensität der sozialen, kulturellen und familiären Bindungen zum Gastland einerseits und zum Herkunftsland andererseits als Kriterien heranzuziehen (EGMR, U.v. 25.3.2010 – Mutlag/ Bundesrepublik Nr. 40601/05 – InfAuslR 2010, 325; U.v. 13.10.2011 – Trabelsi/ Bundesrepublik Nr. 41548/06 – juris Rn. 54). Bei der Ausweisung von in Deutschland geborenen Ausländern ist im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung der besonderen Härte, die eine Ausweisung für sie darstellt, in angemessenem Umfang Rechnung zu tragen (vgl. BVerfG, B.v.19.10.2016 – 2 BvR 1943/16). Der Kläger hat zwar nach seinem Vortrag keinerlei familiären Anknüpfungspunkte in Bosnien-Herzegowina und spricht die dortige Sprache kaum, jedoch sind angesichts der enormen Straffälligkeit des Klägers, der nicht abgeschlossenen Drogentherapie und der fehlenden wirtschaftlichen Integration im Bundesgebiet diese für den Kläger möglicherweise empfindlichen Folgen seiner Ausweisung hinzunehmen. Der erwachsene Kläger kann auch aus dem Ausland mit seinen Familienangehörigen Kontakt halten. Weder ist er auf deren Fürsorge und Hilfe angewiesen, noch sind seine Familienangehörigen auf ihn angewiesen. Auch wenn der Kläger momentan augenscheinlich therapiemotiviert ist, ist seine Ausweisung insbesondere angesichts der von ihm sowohl im Jugend- als auch im Erwachsenenalter begangenen massiven Straftaten und der nach wie vor bestehenden Drogenproblematik verhältnismäßig.
II. Das in Ziffer 2 des streitgegenständlichen Bescheids verfügte Einreise- und Aufenthaltsverbot von sieben Jahren ab Abschiebung bzw. Ausreise ist ebenfalls rechtmäßig.
Die Befristungsdauer steht nach der Neufassung des § 11 Abs. 3 AufenthG im Ermessen der Ausländerbehörde (vgl. BVerwG, U.v. 22.2.2017 – 1 C 3.16 – juris), so dass diese Ermessensentscheidung keiner uneingeschränkten gerichtlichen Überprüfung unterliegt (vgl. § 114 Satz 1 VwGO), sondern – soweit wie hier keine Ermessensreduzierung auf Null vorliegt – eine zu lange Frist lediglich aufgehoben und die Ausländerbehörde zu einer neuen Ermessensentscheidung verpflichtet werden kann (vgl. BayVGH, U.v. 25.8.2015 – 10 B 13.715 – Rn. 54 ff.).
Bei der Bemessung der Frist sind in einem ersten Schritt das Gewicht des Ausweisungsgrundes und der mit der Ausweisung verfolgte Zweck zu berücksichtigen. Es bedarf der prognostischen Einschätzung im jeweiligen Einzelfall, wie lange das Verhalten des Betroffenen, das der zu spezialpräventiven Zwecken verfügten Ausweisung zugrunde liegt, das öffentliche Interesse an der Gefahrenabwehr zu tragen vermag (vgl. BVerwG, U.v. 10.7.2012 – 1 C 19.11 – BVerwGE 143, 277; U.v. 22.2.2017 – 1 C 3.16 – juris Rn. 65 f.). Die Dauer der Frist darf nach § 11 Abs. 3 Satz 2 AufenthG fünf Jahre nur überschreiten, wenn der Ausländer aufgrund einer strafrechtlichen Verurteilung ausgewiesen worden ist oder von ihm eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung ausgeht (vgl. BVerwG, U.v. 10.7.2012 a.a.O.). Die auf diese Weise ermittelte Frist muss sich aber an höherrangigem Recht, d.h. verfassungsrechtlichen Wertentscheidungen (Art. 2 Abs. 1, Art. 6 GG) sowie den Vorgaben aus Art. 7 GRCh und Art. 8 EMRK messen lassen und ist daher ggf. in einem zweiten Schritt zu relativieren (vgl. BVerwG, U.v. 10.7.2012 – 1 C 19.11 – BVerwGE 143, 277; U.v. 22.2.2017 – 1 C 3.16 – juris). Dieses normative Korrektiv bietet der Ausländerbehörde und dem Verwaltungsgericht ein rechtsstaatliches Mittel, um die fortwirkenden einschneidenden Folgen des Einreise- und Aufenthaltsverbots für die persönliche Lebensführung des Betroffenen sowie ggf. seiner engeren Familienangehörigen zu begrenzen. Dabei sind insbesondere die in § 53 Abs. 2 AufenthG genannten schutzwürdigen Belange des Ausländers in den Blick zu nehmen.
Nach diesen Maßstäben ist die mit dem angefochtenen Bescheid der Beklagten festgesetzte Frist von sieben Jahren nicht zu lang und daher rechtmäßig. Da der Kläger aufgrund einer strafrechtlichen Verurteilung ausgewiesen wurde, ist gem. § 11 Abs. 3 S. 2 AufenthG die Möglichkeit eröffnet, eine Frist von über fünf Jahren festzusetzen. Nach § 114 Satz 1 VwGO durchgreifende Ermessensfehler sind nicht ersichtlich, insbesondere hat die Beklagte in ihrer Ermessensentscheidung berücksichtigt, dass der Kläger im Bundesgebiet geboren wurde. In der mündlichen Verhandlung hat die Beklagte zudem dargelegt, dass die festgesetzte Frist ihrer gleichmäßigen Ermessenshandhabung entspricht.
III. Die in Ziffer 3 des Bescheids abgelehnte Erteilung der beantragten Niederlassungserlaubnis sowie eine etwaig hilfsweise beantragte Verlängerung oder Erteilung eines Aufenthaltstitels begegnet ebenfalls keinen rechtlichen Bedenken. Einer Titelerteilung steht schon die Titelerteilungssperre gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG entgegen. Zudem mangelt es am Vorliegen der allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen, insbesondere dem fehlenden Ausweisungsinteresse, § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG i.V.m § 54 AufenthG.
IV. Die zu überprüfenden Annexentscheidungen des streitgegenständlichen Bescheids unter Ziffer 4 und 5, die Abschiebungsankündigung, die (hilfsweise) Abschiebungsandrohung und die dem Kläger zur freiwilligen Ausreise gesetzte Frist, sind nicht zu beanstanden. Sie finden ihre Rechtsgrundlage in §§ 58 und 59 AufenthG.
Die Klage war daher vollumfänglich abzuweisen.
V. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.
Die vorläufige Vollstreckbarkeit im Kostenpunkt geht zurück auf § 167 Abs. 2 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.


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