Verwaltungsrecht

Ausweisung, faktischer Inländer, Verhältnismäßigkeit

Aktenzeichen  10 ZB 21.2363

Datum:
15.11.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 36679
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AufenthG §§ 53 Abs. 1 und 3a, 54, 55
EMRK Art. 8 Abs. 1

 

Leitsatz

Verfahrensgang

M 4 K 18.2315 2021-05-18 Urt VGMUENCHEN VG München

Tenor

I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II. Der Kläger trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.
III. Der Streitwert für das Zulassungsverfahren wird auf 5.000,- Euro festgesetzt.

Gründe

Mit seinem Antrag auf Zulassung der Berufung verfolgt der Kläger seine in erster Instanz erfolglose Klage gegen den Bescheid vom 4. Mai 2018, mit dem die Beklagte seine Ausweisung verfügt, die Wiedereinreise für sieben (im Falle nachgewiesener Straffreiheit fünf) Jahre untersagt und seine Abschiebung in den Irak angedroht hat, sofern das beim Kläger vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge festgestellte Abschiebungsverbot rechtskräftig widerrufen wird, weiter.
Der Antrag auf Zulassung der Berufung ist unbegründet, weil sich aus dem der rechtlichen Überprüfung durch den Senat allein unterliegenden Vorbringen im Zulassungsverfahren die geltend gemachten ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des verwaltungsgerichtlichen Urteils im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO nicht ergeben.
Solche Zweifel bestünden dann, wenn der Kläger im Zulassungsverfahren einen einzelnen tragenden Rechtssatz oder eine einzelne erhebliche Tatsachenfeststellung des Erstgerichts mit schlüssigen Gegenargumenten infrage gestellt hätte (BVerfG, B.v. 10.9.2009 – 1 BvR 814/09 – juris Rn. 11; B.v. 9.6.2016 – 1 BvR 2453/12 – juris Rn. 16). Dies ist jedoch nicht der Fall.
Das Verwaltungsgericht hat die Ausweisung des Klägers gemäß §§ 53 ff. AufenthG als rechtmäßig angesehen. Der Kläger habe eine Vielzahl von Straftaten begangen und sei zuletzt mit Urteil des Amtsgerichts München vom 12. Juli 2017 (nach Verwerfung der Berufung rechtskräftig seit 6. Dezember 2017) wegen räuberischer Erpressung in Tateinheit mit Bedrohung unter Einbeziehung eines Urteils vom 29. November 2016 (6 Taten; drei Fälle der gefährlichen Körperverletzung; Körperverletzung, Beleidigung, Besitz und Führen einer verbotenen Waffe und Bedrohung) zu einer Gesamtjugendstrafe von zwei Jahren und acht Monaten verurteilt worden. Es bestehe bis heute eine erhebliche Wiederholungsgefahr, auch wenn die weitere Vollstreckung der Jugendstrafe mit Beschluss des Amtsgerichts Neuburg a.d. Donau vom 15. Mai 2018 zur Bewährung ausgesetzt worden sei. Der Kläger habe nach der Haftentlassung Bewährungsauflagen nicht eingehalten, es sei ein weiteres Ermittlungsverfahren wegen Bedrohung eingeleitet worden. Das Ausweisungsinteresse überwiege das Bleibeinteresse des Klägers. Dem Kläger sei weder eine Integration in die Werte- und Rechtsordnung, noch eine wirtschaftliche Integration gelungen. Zwei begonnene Ausbildungsverhältnisse habe er nicht beenden können. Im Rahmen eines Konflikts am Arbeitsplatz sei es zu strafrechtlichen Ermittlungen gekommen. Die Bindungen des volljährigen Klägers an seine Eltern, sein Status als faktischer Inländer und sein in Deutschland erworbener Mittelschulabschluss sprächen für den Kläger, nicht jedoch die geltend gemachte Verletzung im Halsbereich. Der Kläger selbst habe sich gegen die Durchführung der angeratenen Operationen zur Narbenresektion entschieden. Dem Kläger sei eine Rückkehr in den Irak zumutbar. Er unterhalte zwar keine relevanten Beziehungen mehr in den Irak, spreche jedoch Kurdisch. Der Kontakt zu seinen Eltern lasse sich über moderne Kommunikationsmittel erhalten. Eine eigene Kernfamilie im Bundesgebiet habe er nicht. Bei Abwägung all dieser Umstände überwiege des öffentliche Interesse an einer Aufenthaltsbeendigung. Die Befristungsentscheidung lasse keine Ermessensfehler erkennen.
Die Rügen des Klägers begründen – auch zum für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit einer Ausweisung maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofs (stRspr des BVerwG, vgl. z.B. U.v. 22.2.2017 – 1 C 3.16 – juris Rn. 18; BayVGH, U.v. 27.10.2017 – 10 B 16.1252 – juris Rn. 25) – keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit dieser Entscheidung.
Die Feststellung des Verwaltungsgerichts, dass vom Kläger eine erhebliche Wiederholungsgefahr ausgeht, wird vom Zulassungsvorbringen nicht in Zweifel gezogen. Vielmehr räumt der Kläger selbst ein, das Verwaltungsgericht sei „(z) u Recht“ vom Vorliegen eines besonders schweren Ausweisungsinteresses ausgegangen. Unabhängig davon teilt der Senat die Gefahrenprognose des Verwaltungsgerichts und verweist insofern auf dessen zutreffende Begründung (§ 122 Abs. 2 Satz 3 VwGO).
Die Rügen des Klägers im Hinblick auf die Interessenabwägung des Verwaltungsgerichts begründen keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit der erstinstanzlichen Entscheidung.
Bei der Abwägungsentscheidung und Verhältnismäßigkeitsprüfung sind insbesondere die Dauer des Aufenthalts des Ausländers, seine persönlichen, wirtschaftlichen und sonstigen Bindungen im Bundesgebiet und im Herkunftsstaat sowie die Folgen der Ausweisung für Familienangehörige und die Tatsache, ob der Ausländer sich rechts-treu verhalten hat, zu berücksichtigen, wobei diese Umstände weder abschließend zu verstehen sind noch ausschließlich zugunsten des Ausländers sprechende Umstände in die Abwägung einzustellen sind (BVerwG, U.v. 22.2.2017 – 1 C 3.16 – juris Rn. 24 f.; BayVGH, U.v. 21.5.2019 – 10 B 19.55 – juris Rn. 37). Ergänzend hierzu sind die vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zu Art. 8 EMRK entwickelten Kriterien heranzuziehen (Boultif/Üner-Kriterien, vgl. EGMR, U.v. 18.10.2006 – 46410/99 – NVwZ 2007, 1279; U.v. 2.8.2001 – 54273/00 – InfAuslR 2001, 476). Bei der Abwägung zu berücksichtigen sind danach die Art und die Schwere der begangenen Straftaten, wobei die vom Gesetzgeber vorgenommene typisierende Gewichtung zu beachten ist, das Verhalten des Ausländers nach der Tatbegehung sowie die Stabilität der sozialen, kulturellen und familiären Bindungen zum Gastland und zum Zielstaat. Die abwägungserheblichen Interessen sind zutreffend zu ermitteln und zu gewichten. Es ist ein Ausgleich zwischen den gegenläufigen Interessen herzustellen, der dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entspricht.
Ausgehend hiervon hat das Verwaltungsgericht zu Recht angenommen, dass die Ausweisung des Klägers verhältnismäßig ist. Es hat die für die Abwägung von Ausweisungsinteresse und Bleibeinteresse maßgeblichen Gesichtspunkte ermittelt und in die Abwägung eingestellt. Bei der Gesamtabwägung ist es zum Ergebnis gelangt, dass das öffentliche Ausweisungsinteresse das Bleibeinteresse des Klägers überwiegt. Weder hinsichtlich der Gewichtung der einzelnen Gesichtspunkte noch hinsichtlich der Gesamtabwägung werden die Ausführungen des Verwaltungsgerichts durch das Zulassungsvorbringen ernstlich in Zweifel gezogen.
Der Kläger macht insofern geltend, eine mangelnde berufliche Integration sei bei Menschen in seinem im Alter nicht ungewöhnlich. Das laufende Ermittlungsverfahren habe noch nicht zu einer rechtskräftigen Verurteilung geführt, weswegen es nicht zu seinen Lasten gewertet werden dürfe. Das Verwaltungsgericht habe nicht berücksichtigt, dass der Kläger die Lebensverhältnisse im Irak nicht kenne. Eine Integration in den dortigen Arbeitsmarkt sei nicht zu erwarten. Gänzlich unberücksichtigt sei geblieben, dass der Widerrufsbescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge, mit dem die Stellung des Klägers als Flüchtling widerrufen und das Nichtvorliegen der Voraussetzungen des subsidiären Schutzstatus oder von Abschiebungsverboten festgestellt worden war, noch nicht bestandskräftig sei. Das Verwaltungsgericht habe zwar einen entsprechenden Eilantrag abgelehnt, eine Entscheidung zur Hauptsache habe im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung über die Ausweisung jedoch nicht vorgelegen und sei vom Verwaltungsgericht auch nicht thematisiert worden. Es sei auch unberücksichtigt geblieben, dass die Eltern des Klägers als anerkannte Flüchtlinge nicht in den Irak reisen könnten und sich der Kontakt zu ihnen daher erheblich reduzieren werde.
Damit wird keine der tatsächlichen Annahmen des Verwaltungsgerichts in Zweifel gezogen. Auch ein rechtlich erheblicher Mangel der Abwägung des Verwaltungsgerichts wird nicht aufgezeigt. Das Erstgericht durfte insbesondere auf die strafrechtlichen Ermittlungen gegen den Kläger abstellen, zumal der Kläger den Tatvorwurf im Zulassungsverfahren nicht einmal bestreitet und nichts zum weiteren Verlauf des Strafverfahrens, das nach dem Vortrag der Beklagten mit einem Schuldspruch in erster Instanz (Urteil vom 2.7.2021) endete, vorgetragen hat. Die Unschuldsvermutung als solche steht einer Berücksichtigung der das neuerliche Ermittlungsverfahren begründenden Umstände nicht entgegen. Denn die im Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) wurzelnde Unschuldsvermutung schützt nur vor Nachteilen, die einem Schuldspruch gleichkommen, nicht jedoch vor Rechtsfolgen ohne Strafcharakter (vgl. BVerwG, B.v. 24.1.2017 – 2 B 75.16 – juris Rn. 12 m.w.N.; BayVGH, B.v. 7.10.2021 – 19 CE 21.2020 – juris Rn. 27). Die Behauptung, dass eine mangelnde berufliche Integration bei jungen Menschen nicht untypisch sei, legt – selbst wenn sie zutreffend wäre – keinen Abwägungsmangel dar. Denn anders als vom Kläger behauptet, hat das Erstgericht die fehlende wirtschaftliche Integration nicht „zu seinen Lasten“ berücksichtigt. Es hat vielmehr – insofern zu Recht und rechtlich unbedenklich – bei der Feststellung des Bleibeinteresses nur darauf hingewiesen, dass eine wirtschaftliche Integration nicht stattgefunden habe.
Soweit der Kläger einwendet, dass das Verwaltungsgericht die noch bestehende Flüchtlingseigenschaft nicht berücksichtigt habe, greift dies ebenfalls nicht durch. Zum einen trägt der Kläger selbst vor, dass das Verwaltungsgericht seinen Eilantrag gegen den sofort vollziehbaren (§ 75 Abs. 2 AsylG) Widerruf der Flüchtlingseigenschaft mit Bescheid vom 11. Juni 2019 abgelehnt habe, womit die Flüchtlingseigenschaft zum Zeitpunkt der Entscheidung über die Ausweisung bereits nicht mehr bestand bzw. besteht. Zum anderen ist weder vorgetragen noch sonst ersichtlich, dass sich an der Rechtmäßigkeit der Ausweisung etwas ändern würde, wenn man den Maßstab des § 53 Abs. 3a AufenthG anlegen würde. Der Kläger wurde im Sinne des § 53 Abs. 3a AufenthG (mehrfach) wegen schwerer Straftaten rechtskräftig verurteilt, weswegen er eine Gefahr für die Allgemeinheit darstellt (vgl. zum Ganzen Bauer in Bergmann/Dienelt, AufenthG, 13. Aufl. 2020, § 53 Rn. 98 m.w.N.). Hinsichtlich der Abschiebungsandrohung hatte die Beklagte der damals noch bestehenden besonderen Stellung des Klägers mit einer entsprechenden aufschiebenden Bedingung Rechnung getragen.
Hinsichtlich der Kontakte des Klägers in den Irak, seiner Kenntnisse der dortigen Gegebenheiten und dem zu erwartenden erschwerten Kontakt zu seinen Eltern hat das Verwaltungsgericht diese Gesichtspunkte erkannt und fehlerfrei gewürdigt. Der Senat verkennt dabei nicht, dass es dem Kläger gerade in der Anfangszeit schwerfallen wird, sich – auch wirtschaftlich – in die irakischen Verhältnisse zu integrieren. Angesichts seines Ausbildungsstandes, seiner Sprachkenntnisse und einer möglichen Unterstützung durch seine Eltern ist jedoch nicht erkennbar, dass eine solche Integration auch mittelfristig nicht möglich sein sollte.
Unter Zugrundelegung dieser einzelnen Abwägungsgesichtspunkte ist das Verwaltungsgericht im Rahmen einer Gesamtabwägung zu Recht zu der Auffassung gelangt, dass das Ausweisungsinteresse im Falle des Klägers überwiegt. Das Zulassungsvorbringen enthält hinsichtlich dieser Gesamtabwägung auch keine substantiierten Rügen.
Schließlich begegnet auch die von der Beklagten getroffene Ermessensentscheidung zur Dauer der Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots (§ 11 Abs. 3 AufenthG) keinen durchgreifenden rechtlichen Bedenken. Auch zum maßgeblichen Zeitpunkt der Senatsentscheidung sind Ermessensfehler der Beklagten weder substantiiert vorgetragen noch sonst ersichtlich. Zwar rügt der Kläger die Länge der Frist, er zeigt jedoch keinen relevanten Ermessensfehler der Beklagten auf. Der Hinweis auf die Unschuldsvermutung und die Straffreiheit nach Haftentlassung sind für sich genommen – erst recht unter Berücksichtigung der erneuten erstinstanzlichen strafrechtlichen Verurteilung vom 2. Juli 2021 – nicht geeignet, die Länge der festgesetzten Frist, die sich ohne Weiteres im Rahmen der Vorgaben des § 11 Abs. 3 und 5 AufenthG hält, durchgreifend in Frage zu stellen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.
Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 63 Abs. 2 Satz 1, § 47 Abs. 1 und 3 sowie § 52 Abs. 2 GKG.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO). Mit der Ablehnung des Antrags auf Zulassung der Berufung wird die Entscheidung des Verwaltungsgerichts rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO).


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