Verwaltungsrecht

beachtliche Gefahr einer weiblichen Genitalbeschneidung (verneint), Abschiebungsverbot aufgrund humanitärer Verhältnisse (verneint)

Aktenzeichen  B 7 K 20.31211

Datum:
3.5.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 24973
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Bayreuth
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG § 3
AufenthG § 60 Abs. 5 und Abs. 7 S. 1

 

Leitsatz

Tenor

Die Klage wird abgewiesen.
Die Klägerin trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens.
Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.

Gründe

Die zulässige Klage hat in der Sache keinen Erfolg. Der angegriffene Bescheid vom 05.11.2020 ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1, Abs. 5 Satz 1 VwGO). Diese hat keinen Anspruch auf Zuerkennung internationalen Schutzes. Rechtlich nicht zu beanstanden ist ferner die Verneinung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5, Abs. 7 Satz 1 AufenthG. Auch die weiteren Entscheidungen im angefochtenen Bescheid erweisen sich als rechtmäßig.
In der Sache selbst schließt sich das Gericht zur Vermeidung unnötiger Wiederholungen zunächst im Wesentlichen den Gründen des angefochtenen Bescheides an und sieht von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe ab (§ 77 Abs. 2 AsylG). Ergänzend ist zur Sache sowie zur Klage das Folgende auszuführen:
1. Der Klägerin droht in Äthiopien nach Überzeugung des Gerichts nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine geschlechtsspezifische Verfolgung (in Form der Beschneidung).
Wie sich aus den aktuellen Lageberichten des Auswärtigen Amtes vom 08.04.2019 und 24.04.2020 ergibt, erfolgt eine Beschneidung inzwischen bei der überwiegenden Anzahl der Mädchen nicht mehr. Seit der Reformierung des Strafgesetzbuches 2005 ist die Genitalverstümmelung gemäß Art. 565 mit Geldstrafe ab 500 Birr (ca. 20 EUR) oder mit mindestens dreimonatiger, in besonders schweren Fällen mit bis zu 10 Jahren Gefängnisstrafe, bedroht. Die Zahl der Neuverstümmelungen hat sich hiernach inzwischen auf zwischen 25 und 40% der Mädchen verringert. Dennoch ist Genitalverstümmelung nach wie vor mit großen regionalen Unterschieden weit verbreitet (Zahlen schwanken auch hier zwischen 56 und über 70% landesweit). Am häufigsten ist sie in ländlichen Gebieten der an Dschibuti und Somalia grenzenden Regionen Somali und Afar sowie in der gesamten Region Oromia anzutreffen. In den Grenzregionen Tigray (Grenze zu Eritrea) und Gambella (Grenze zu Südsudan) ist sie am wenigsten verbreitet. Soweit in machen Quellen höhere Prozentangaben für den Anteil beschnittener Frauen angegeben werden, sind diese für eine hier notwendige prognostische Betrachtung nicht brauchbar, soweit darin auch ältere Frauen in die Betrachtung einbezogen werden, bei denen die Beschneidung bereits viele Jahre zurückliegt. Solche Zahlenangaben berücksichtigen namentlich nicht den in Äthiopien eingeleiteten und weiter fortschreitenden Einstellungswandel in nicht unbeträchtlichen Kreisen der Bevölkerung. Die Regierung sowie äthiopische und internationale Organisationen führen Kampagnen zur Abschaffung der Genitalverstümmelung durch. Die äthiopische Regierung hat sich zum Ziel gesetzt, schädliche traditionell oder kulturell bedingte Praktiken, wie etwa die Genitalverstümmelung bei Frauen oder Kinder- und Zwangsehen bis zum Jahre 2025 endgültig abzuschaffen.
Berücksichtigt man die Auskunftslage und bezieht man diese auf die konkreten Umstände des vorliegenden Falles, so gelten die folgenden Erwägungen. Anlässlich der Anhörung der Eltern der Klägerin beim Bundesamt ist deutlich geworden, dass diese aus ihrer persönlichen Warte nachvollziehbar eine ablehnende Haltung gegenüber der weiblichen Genitalbeschneidung haben, zumal die Mutter der Klägerin nach ihrer Darstellung selbst hat erleben müssen, dass es sehr schmerzlich und schädlich sei (vgl. Bl. 81 ff.). Die persönliche Ablehnung der Beschneidung ihrer Tochter ist bereits im Rahmen der mündlichen Verhandlung vom 01.10.2019 im Verfahren der Eltern der Klägerin deutlich geworden (vgl. S. 6/7 des Protokolls – Az. … und …).
Soweit auf die Beschneidung als Teil der Tradition hingewiesen wurde, sind die Eltern der Klägerin im Falle der Rückkehr nicht gezwungen, sich längerfristig oder gar dauerhaft im unmittelbaren Umfeld von Personen niederzulassen, die ggf. versuchen könnten, einen Druck in Richtung der Durchführung der Beschneidung auszuüben. Insbesondere in urbanen Regionen ist nach der Auskunftslage davon auszugehen, dass der Druck aus dem verwandtschaftlichen und sonstigen Umfeld in Richtung der Durchführung einer weiblichen Genitalbeschneidung deutlich weniger stark ausgeprägt ist. Nach den Angaben der Eltern sollen in Äthiopien ohnehin keine Verwandten mehr vorhanden sein bzw. es sei kein Kontakt (mehr) gegeben. So möchte die Mutter der Klägerin zwar einen Bruder haben, jedoch nicht wissen, wo er lebe (vgl. Bl. 81). Die Mutter des Vaters der Klägerin soll verstorben sein, wobei allerdings das Sterbejahr nicht konsistent benannt wurde. Nach der Darstellung im hiesigen Verfahren soll die Großmutter der Klägerin im Jahr 2017 verstorben sein (S. 4 des Protokolls), während der Vater der Klägerin am 01.10.2019 davon gesprochen hat, dass sie 2018 verstorben sei (S. 4 des Protokolls – Az. … und …).
Es ist vor dem Hintergrund des weiter fortschreitenden Einstellungswandels in der äthiopischen Bevölkerung, vor allem in urban geprägten Regionen, nicht beachtlich wahrscheinlich, dass die Eltern der Klägerin gegen ihre eigentliche Einstellung eine Beschneidung zulassen oder gar veranlassen werden. Wenn bereits aktuell bei der überwiegenden Anzahl von Mädchen keine Beschneidung mehr durchgeführt wird, so ist auch nicht zu erwarten, dass die der Beschneidung grundsätzlich ablehnend gegenüberstehenden Eltern der Klägerin eine solche tolerieren werden. Bei einer Gesamtbetrachtung ist eine Beschneidung der Klägerin in der hier vorliegenden Konstellation nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu erwarten. Eine beachtlich wahrscheinliche Gefahr der Beschneidung lässt sich auch unter Berücksichtigung solcher Quellen nicht ableiten, die einen höheren Anteil beschnittener Frauen ausweisen. Jene Quellen beziehen sich – wie bereits erwähnt – auf eine Altersspanne, die auch Frauen umfasst, die z.B. längst eine Familie gegründet, ihre Familienplanung abgeschlossen haben und bereits vor vielen Jahren und sogar vor Jahrzehnten selbst beschnitten wurden. Es liegt auf der Hand, dass derart weitgefasste Vergleichsgruppen nicht geeignet sind, um die Gefahr der Beschneidung für ein Mädchen wie die Klägerin realistisch einzuschätzen, das noch nicht einmal das zweite Lebensjahr vollendet hat. Es trifft nach den eingeführten Quellen auch nicht zu, dass der äthiopische Staat keinerlei Sanktionen bei rechtswidrig durchgeführten Beschneidungen verhängen würden. Vielmehr wird bereits in einem Bericht aus dem Jahr 2008 betreffend ein Projekt zur Überwindung der weiblichen Genitalverstümmelung ausgeführt, dass es zu Verurteilungen zu nicht unempfindlichen Gefängnisstrafen gekommen ist (vgl. GTZ, Überregionales Projekt v. 02/2008, S. 6 – 8).
2. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG.
Auch unter Einbeziehung der aktuell schwierigen Lebensbedingungen im Herkunftsland, insbesondere infolge der Corona-Pandemie, der Heuschreckenplage und verschiedener Konflikte (z.B. in der Tigray-Region), ergibt sich kein Anspruch der Klägerin auf Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG.
Nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Die Gewährung von Abschiebungsschutz nach dieser Bestimmung setzt das Bestehen individueller Gefahren voraus. Beruft sich ein Ausländer dagegen auf allgemeine Gefahren im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 6 AufenthG, wird Abschiebeschutz ausschließlich durch eine generelle Regelung der obersten Landesbehörde nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG gewährt. Fehlt eine politische Leitentscheidung nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG, kann ein Ausländer im Hinblick auf die (allgemeinen) Lebensbedingungen, die ihn im Abschiebezielstaat erwarten, insbesondere die dort herrschenden wirtschaftlichen Existenzbedingungen und die damit zusammenhängende Versorgungslage, ausnahmsweise Abschiebungsschutz in verfassungskonformer Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG beanspruchen, wenn er bei einer Rückkehr aufgrund dieser Bedingungen mit hoher Wahrscheinlichkeit einer extremen Gefahrenlage ausgesetzt wäre. Denn nur dann gebieten es die Grundrechte aus Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG, ihm trotz einer fehlenden politischen Leitentscheidung nach § 60a Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 60 Abs. 7 Satz 6 AufenthG Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu gewähren. Wann danach allgemeine Gefahren von Verfassungs wegen zu einem Abschiebungsverbot führen, hängt wesentlich von den Umständen des Einzelfalles ab und entzieht sich einer rein quantitativen oder statistischen Betrachtung. Die drohenden Gefahren müssen jedoch nach Art, Ausmaß und Intensität von einem solchen Gewicht sein, dass sich daraus bei objektiver Betrachtung für den Ausländer die begründete Furcht ableiten lässt, selbst in erheblicher Weise ein Opfer der extremen allgemeinen Gefahrenlage zu werden. Bezüglich der Wahrscheinlichkeit des Eintritts der drohenden Gefahren ist von einem im Vergleich zum Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit erhöhten Maßstab auszugehen. Diese Gefahren müssen dem Ausländer daher mit hoher Wahrscheinlichkeit drohen. Nach diesem hohen Wahrscheinlichkeitsgrad muss eine Abschiebung dann ausgesetzt werden, wenn der Ausländer ansonsten „gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert würde“ (vgl. BVerwG, U.v. 12.7.2001 – 1 C 5.01 – juris). Schließlich müssen sich diese Gefahren alsbald nach der Rückkehr realisieren. Das bedeutet nicht, dass im Falle der Abschiebung der Tod oder schwerste Verletzungen sofort, gewissermaßen noch am Tag der Abschiebung, eintreten müssen. Vielmehr besteht eine extreme Gefahrenlage beispielsweise auch dann, wenn der Ausländer mangels jeglicher Lebensgrundlage den baldigen sicheren Hungertod ausgeliefert werden würde (vgl. zum Ganzen: BVerwG, U.v. 29.9.2011 – 10 C 24.10 – juris; BayVGH, U.v. 12.12.2019 – 8 B 19.31004 – juris; VG Würzburg, Gb. v. 11.5.2020 – 8 K 20.50114 – juris).
Die allgemein unsichere oder wirtschaftlich schlechte Lage im Zielstaat infolge von Hungersnöten, Naturkatastrophen oder Epidemien – und damit auch infolge der Verbreitung des Coronavirus bzw. der Ausbreitung der Heuschrecken in Äthiopien – begründet derartige Gefahren allgemeiner Art nach § 60 Abs. 7 Satz 6 AufenthG, weil ihr die gesamte Bevölkerung oder eine ganze Bevölkerungsgruppe des betroffenen Landes (wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß) ausgesetzt ist (vgl. Kluth/Heusch in: BeckOK AuslR, § 60 AufenthG, Rn. 38 ff.).
Es ist für das Gericht nicht ersichtlich, dass die Klägerin bei einer Rückkehr nach Äthiopien einer Extremgefahr im vorstehenden Sinne, die die Sperrwirkung des § 60 Abs. 7 Satz 6
AufenthG in verfassungskonformer Auslegung durchbrechen könnte, ausgesetzt wäre. Weder aus den Darlegungen der Klägerseite, noch aufgrund anderweitiger Erkenntnisse kann geschlossen werden, dass die Klägerin ohne glaubhaft gemachte einschlägige Vorerkrankungen allein aufgrund der Verbreitung des Coronavirus (auch) in Äthiopien bei einer Abschiebung gleichsam sehenden Auges dem Tod oder schwersten Gesundheitsschäden ausgeliefert wäre, zumal für die Klägerin nicht einmal behauptet wurde, dass diese aufgrund besonderer persönlicher Merkmale einer Personengruppe angehören würde, für die die beachtliche Gefahr eines schweren oder gar tödlichen Verlaufs einer hypothetischen Infektion mit dem Coronavirus anzunehmen wäre. In rechtlicher Hinsicht ist somit das Vorliegen einer Extremgefahr im oben beschriebenen Sinn zu verneinen.
Daneben gibt es keine belastbaren Hinweise darauf, dass die Versorgungslage in Äthiopien – auch unter Berücksichtigung gewisser Einschränkungen und Verschärfungen durch die Corona-Pandemie, die Heuschreckenplage und regionale Konflikte – gegenwärtig derart desolat wäre, dass der Klägerin dort der Hungertod oder schwerste Gesundheitsschäden in Folge von Mangelernährung drohten (vgl. hierzu etwa DW, Wie Ostafrika eine Heuschreckenplage bekämpft – inmitten einer Pandemie; Aus Politik und Zeitgeschichte: Am Ende kann nur Gott uns helfen. Das Coronavirus in Äthiopien; WFP East Africa: Update on the Desert Locust Outbreak; Africanews, coronavirus-covid19-hub-updates). Auch aus anderen Quellen ergibt sich eine solche Zuspitzung der Situation in Äthiopien im aktuellen Zeitpunkt nicht. Dabei ist nicht zuletzt zu würdigen, dass erhebliche Hilfsgelder – unter anderem auch von Deutschland – bereitgestellt werden (vgl. u.a. www.dw.com vom 10.05.2020: Entwicklungsminister Müller: 120 Millionen Euro für Äthiopien in Corona-Krise; OCHA – Ethiopa, Humanitarian Access Situation Report April – June 2020; OCHA – Humanitarian Bulletin Ethiopia, Issue # 4 15 – 28.03.2021 – s. S. 2 des Protokolls).
Bei der anzustellenden Rückkehrprognose ist davon auszugehen, dass die Klägerin nicht alleine nach Äthiopien ausreisen oder abgeschoben wird, sondern im Familienverbund mit ihren Eltern und ihrem Bruder, deren Asylverfahren bestandskräftig negativ abgeschlossen sind. Die Eltern der Klägerin sind für den Fall ihrer Rückkehr nach Äthiopien auf den Einsatz ihrer Arbeitskraft zu verweisen. Sie können sich in Sachen Erwerbstätigkeit und Kinderbetreuung gegenseitig ergänzen bzw. unterstützen. Der Vater der Klägerin verfügt nach seinen Angaben in seinem eigenen Asylverfahren mit dem Schulbesuch bis zur 8. Klasse über eine ganz ordentliche Schulbildung und sei Automechaniker und Fahrer gewesen (S. 3 der Anhörungsniederschrift – Az. …*). Es ist nicht ersichtlich, warum es dem Vater der Klägerin nicht gelingen sollte, in diesem Handwerksbereich oder einem anderen Sektor eine Tätigkeit aufzunehmen, mit der der Lebensunterhalt der Familie abgedeckt werden kann. Darüber hinaus konnte der Vater der Klägerin nicht glaubhaft machen, dass er in Äthiopien auf keinerlei Vermögen (mehr) zugreifen bzw. über dieses verfügen könnte. Selbst wenn es zutreffen sollte – von den differierenden Angaben zum Sterbejahr einmal abgesehen -, dass seine Mutter verstorben ist, so erscheint es nicht beachtlich wahrscheinlich, dass im Falle seiner Rückkehr nicht die Möglichkeit bestünde, auf das dortige Haus/Anwesen zuzugreifen. Die Ausführungen des Vaters der Klägerin beim Bundesamt haben deutlich den Eindruck hinterlassen, dass er dort noch über Eigentum verfügt, wo damals gelebt habe; woanders könne er nicht Fuß fassen (Bl. 85). In der mündlichen Verhandlung, in der der Vater der Klägerin letztlich selbst eingeräumt hat, dass er das Haus [sinngemäß: nur] nicht beanspruchen könne, solange er nicht da sei, konnte nicht schlüssig vermittelt werden, dass das Anwesen der Mutter von den Nachbarn und/oder der Regierung dauerhaft beansprucht worden sei und keine Möglichkeit bestehe, dieses als nächster Angehöriger des Verstorbenen (wieder) in Besitz zu nehmen. Dass das Haus nur unterer Standard und quasi für „arme Leute“ sein soll (S. 5 des Protokolls), ändert nichts daran, dass eine Zugriffsmöglichkeit auf das Besitztum zumindest in der Anfangszeit nach der Rückkehr eine Reintegration erleichtern kann. Ausschlaggebend erscheint dies in der vorliegenden Konstellation gleichwohl nicht, denn die Familie der Klägerin kann bei freiwilliger Ausreise umfangreiche Reise- und Starthilfen in Anspruch nehmen, die bezogen auf die Kaufkraft in Äthiopien einen ganz wesentlichen Beitrag dafür leisten, dass die Familie auch ohne weiteres Vermögen im Herkunftsland wieder wird Fuß fassen können:
Bereits mit der Zuleitung des streitgegenständlichen Bescheids an die Klägerseite hatte das Bundesamt auf die Rückkehrhilfen bei freiwilliger Ausreise hingewiesen. Aus dem sog. REAG-/GARP-Programm (vgl. Bl. 126 f.) kann u.a. eine Reisebeihilfe i.H.v. 200,00 EUR sowie eine Starthilfe von 1.000,00 EUR in Anspruch genommen werden. Darüber hinaus besteht das Reintegrationsprogramm ERRIN. Die Hilfen aus diesem Programm umfassen einen Ankunftsservice (Flughafenabholung, kurzfristige Unterkunft), individuelle Beratung nach der Ankunft, Unterstützung im Bereich Wohnen (z.B. Grundausstattung, Mietzuschuss), berufliche Qualifizierungsmaßnahmen, Hilfe bei der Arbeitsplatzsuche, Unterstützung bei einer Existenzgründung, Beratung und Unterstützung bei sozialen und medizinischen Angelegenheiten sowie allgemeine Rechtsauskünfte. Die Unterstützung wird grundsätzlich als Sachleistung gewährt. Der Leistungsrahmen für rückkehrende Einzelpersonen beträgt dabei bis zu 2.000,00 EUR, bei festgestellter Vulnerabilität einmalig zusätzlich 1.000,00 EUR und im Familienverbund bis zu insgesamt maximal 5.000,00 EUR (vgl. https://www.returningfromgermany.de/de/programmes/erin).
Es liegt auf der Hand, dass die genannten Rückkehrhilfen und Leistungen aus dem Reintegrationsprogramm gerade in der Anfangszeit nach der Rückkehr und vor dem Hintergrund der Einschränkungen durch die Corona-Pandemie mit dazu beitragen, dass die Familie der Klägerin sich in Äthiopien reintegrieren kann. Ergänzend sei darauf hingewiesen, dass sich die Eltern der Klägerin nicht darauf berufen können, dass die genannten Start- und Reintegrationshilfen ganz oder teilweise nur für freiwillige Rückkehrer gewährt werden, also teilweise nicht bei einer zwangsweisen Rückführung. Denn nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts kann ein Asylbewerber, der durch eigenes zumutbares Verhalten – wie insbesondere durch freiwillige Rückkehr – im Zielstaat drohende Gefahren abwenden kann, nicht vom Bundesamt die Feststellung eines Abschiebungsverbots verlangen (vgl. BVerwG, U.v. 15.4.1997 – 9 C 38.96). Dementsprechend ist es den Eltern der Klägerin möglich und zumutbar, gerade zur Überbrückung der ersten Zeit nach einer Rückkehr nach Äthiopien freiwillig Zurückkehrenden gewährte Reisehilfen sowie Reintegrationsleistungen in Anspruch zu nehmen. Legt man dies zugrunde, kann die Familie der Klägerin auch eine etwaige Quarantäne oder Reisebeschränkungen bewältigen, soweit nicht ohnehin eine Niederlassung in Addis Abeba beabsichtigt sein sollte.
Soweit der Vater der Klägerin davon gesprochen hat, dass er im Fall der Rückkehr inhaftiert oder getötet werden könne (S. 5/6 des Protokolls), ist sein Vortrag unsubstantiiert geblieben; eine Vorverfolgung hat er bereits in seinem eigenen Asylverfahren nicht glaubhaft machen können (U.v. 2.10.2019 – … – UA S. 10/11).
Die Klägerin kann schließlich nicht die Feststellung eines zielstaatsbezogenen Abschiebungsverbots aus gesundheitlichen Gründen beanspruchen. In der mündlichen Verhandlung wurde – ohne jeden Nachweis – lediglich der Verdacht auf verschiedene Krankheitsbilder geäußert (vgl. S. 7 des Protokolls).
3. Der Klägerin steht auch kein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG zu.
Nach § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der EMRK ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. Insbesondere darf gemäß Art. 3 EMRK niemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden.
a) Soweit die Klägerseite auf die schwierige Lage im Herkunftsland auch und insbesondere infolge der Corona-Pandemie Bezug nimmt, spricht nach Auffassung des Gerichts bereits vieles dafür, dass § 60 Abs. 7 Satz 6 AufenthG bezüglich allgemeiner Gefahren aufgrund der unsicheren oder wirtschaftlich schlechten Lage im Zielstaat als lex specialis anzusehen ist und daher insoweit auch im Rahmen des § 60 Abs. 5 AufenthG Sperrwirkung entfaltet. Bei den nationalen Abschiebungsverboten im Sinne des § 60 Abs. 5 und Abs. 7 AufenthG handelt es sich nämlich um einen einheitlichen, nicht weiter teilbaren Verfahrensgegenstand (BVerwG, U.v. 8.9.2011 – 10 C 14.10 – juris; BayVGH, U.v. 21.11.20104 – 13a B 14.30284 – juris). Eine zusätzliche Würdigung allgemeiner Gefahren für Leib, Leben oder Freiheit im Zielstaat der Abschiebung im Rahmen und am Maßstab des § 60 Abs. 5 AufenthG würde die gesetzgeberischen Voraussetzungen für ein Abschiebungsverbot bei allgemeinen Gefahren für Leib, Leben oder Freiheit konterkarieren (so auch BayVGH, B.v. 06.05.2020 – 23 ZB 20.30943 – im Hinblick auf das Verhältnis von § 60 Abs. 7 Satz 2 i.V.m. § 60a Abs. 2c AufenthG zu § 60 Abs. 5 AufenthG bei der Geltendmachung gesundheitlicher Gründe).
b) Letztlich kann aber dahinstehen, ob die Sperrwirkung des § 60 Abs. 7 Satz 6 AufenthG auch im Rahmen des § 60 Abs. 5 AufenthG greift. Selbst wenn man der Auffassung folgt, dass der Schutzbereich des § 60 Abs. 5 AufenthG auch bei einer allgemeinen Gefahrenlage, insbesondere bei einer schlechten allgemeinen Situation mit unzumutbaren Lebensbedingungen eröffnet sein soll, da schon von der Gesetzessystematik her der Maßstab für eine Extremgefahr nach § 60 Abs. 7 Satz 6 AufenthG nicht herangezogen werden könne (so BayVGH, U.v. 21.11.2014 – 13a B 14.30284 – juris), ist bei der Prüfung eines Abschiebungsverbotes aus humanitären Gründen im Rahmen des § 60 Abs. 5 AufenthG jedenfalls ein „sehr hohes Niveau“ anzulegen und eine „besondere Ausnahmesituation“ erforderlich. Nur in „ganz außergewöhnlichen Fällen“, nämlich wenn die humanitären Gründe gegen die Abschiebung mit Blick auf die allgemeine wirtschaftliche Lage und die Versorgungslage betreffend Nahrung, Wohnraum und Gesundheitsversorgung „zwingend“ sind, liegen die Voraussetzungen des Art. 60 Abs. 5 AufenthG vor (BVerwG, U.v. 4.7.2019 – 1 C 45.18 – juris m.w.N.; BayVGH, U.v. 12.12.2019 – 8 B 19.31004 – juris m.w.N.; BayVGH, U.v. 21.11.2014 – 13a B 14.30284 – juris).
Gemessen an diesem Maßstab ist bei der Klägerin auch ein nationales Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK im Hinblick auf die gegenwärtig schwierigen humanitären Bedingungen in Äthiopien zu verneinen. Auf die obigen Ausführungen zu § 60 Abs. 7 AufenthG wird verwiesen. Obwohl im Rahmen des § 60 Abs. 5 AufenthG nicht der Maßstab der „Extremgefahr“ anzulegen ist, handelt es sich aufgrund der vorstehenden Erwägungen zu § 60 Abs. 7 AufenthG im Fall der hiesigen Klägerin für den hypothetischen Fall der Rückkehr im Familienverbund jedenfalls (auch) nicht um einen ganz außergewöhnlichen Fall, in dem humanitäre Gründe der Abschiebung zwingend entgegenstehen.
4. Nach allem ist die Klage insgesamt mit der Kostenfolge aus § 154 Abs. 1 VwGO, § 83b AsylG abzuweisen. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung beruht auf § 167 Abs. 2 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.


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