Verwaltungsrecht

Beendigung der vorläufigen Inobhutnahme durch das Jugendamt nach Durchführung eines Altersfeststellungsverfahrens

Aktenzeichen  M 18 E 20.1548

Datum:
28.4.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 8674
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
SGB VIII § 7 Abs. 1 Nr. 1, Nr. 2, § 42a Abs. 1 S. 1, § 42f Abs. 1 S. 1
VwGO § 80 Abs. 5
RL 2013/31/EU Art. 25 Abs. 5

 

Leitsatz

1. Im Hinblick auf die im Jugendhilfeverfahren entsprechend anwendbare Regelung des Art. 25 Abs. 5 UAbs. 1 S. 2 RL 2013/32/EU ist zugunsten der um Inobhutnahme ersuchenden Person zwingend davon auszugehen, dass dieser noch minderjährig ist, solange entsprechende Zweifel nicht ausgeräumt werden können und deshalb weiter fortbestehen (BayVGH BeckRS 2017, 108039). (Rn. 36) (redaktioneller Leitsatz)
2. Eine qualifizierte Inaugenscheinnahme durch Mitarbeiter eines Jugendamts kann lediglich dann als zur Altersfeststellung geeignet angesehen werden, wenn es darum geht, für jedermann ohne Weiteres erkennbare (offensichtliche), gleichsam auf der Hand liegende, über jeden vernünftigen Zweifel erhabene Fälle evidenter Minderjährigkeit festzustellen oder eindeutiger Volljährigkeit auszuscheiden, in welchen ein Sich-Berufen des Betroffenen auf den Status der Minderjährigkeit selbst vor dem Hintergrund möglicher eigener Unkenntnis vom genauen Geburtsdatum als evident rechtsmissbräuchlich erscheinen muss. (Rn. 37) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die aufschiebende Wirkung der Klage des Antragstellers gegen die Beendigung der vorläufigen Inobhutnahme durch das Stadtjugendamt der Antragsgegnerin durch Bescheid vom 12. März 2020 wird angeordnet.
II. Die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens trägt die Antragsgegnerin.

Gründe

I.
Der Antragsteller begehrt von der Antragstellerin als unbegleiteter minderjähriger Flüchtling nach § 42a Abs. 1 Satz 1 SGB VIII vorläufig in Obhut genommen zu werden.
Der Antragsteller, eigenen Angaben zufolge jemenitischer Staatsangehöriger, reiste – u.a. wohl über die Niederlande – am 28. November 2019 in das Bundesgebiet ein.
In den Daten des Bundesamtes sowie des Ausländerzentralregisters ist der Antragsteller mit Geburtsdatum … September 1998 erfasst. Dieses Datum dürfte aus einem ursprünglich von dem Antragsteller verwendeten Pass, in der Bundesrepublik Deutschland im Folgenden möglicherweise auch aus einer Abfrage der VISA-Datenbank oder aus einem Eurodac-Abgleich übernommen worden sein.
Im Folgenden sprach der Antragsteller beim Jugendamt der Stadt N.… vor, wo er nach der Durchführung eines Erstgesprächs hinsichtlich seines Alters als Zweifelsfall geführt und am 10. Dezember 2019 vorläufig in Obhut genommen wurde. Die Inobhutnahme wurde Anfang des Jahres 2020 vom Jugendamt N.… aus dem Gericht nicht näher bekannten Gründen beendet und der Antragsteller weiterverteilt. Hintergrund sei nach Angaben der Antragsgegnerin wohl die Vornahme eines Eurodac-Abgleichs gewesen, im Rahmen dessen das Jugendamt N.… festgestellt habe, dass der Antragsteller bereits im März 2001 in Deutschland registriert worden sei und damit eine Minderjährigkeit ausgeschlossen werden könne.
Laut einer Abfrage des Ausländerzentralregisters vom 17. April 2020 wurde am 10. Januar 2020 der Zuzug des Antragstellers nach Oberbayern registriert.
Am 6. März 2020 meldete sich der Antragsteller beim Stadtjugendamt der Antragsgegnerin und wurde im Rahmen der vorläufigen Inobhutnahme in der Aufnahmeeinrichtung … … … untergebracht.
Am 12. März 2020 wurde von der Antragsgegnerin ein Alterseinschätzungsgespräch durchgeführt. Der Antragsteller gab an, am … September 2003 geboren worden zu sein. Ausweisdokumente könne er nicht vorlegen, da sein Pass von den niederländischen Behörden einbehalten worden sei. Er legte jedoch eine Kopie einer jemenitischen Geburtsurkunde in englischer Sprache vor, welche das genannte Geburtsdatum auswies. Sein Heimatland Jemen habe der Antragsteller im Jahre 2016 mit zwölf Jahren verlassen. Um reisen zu dürfen, habe er einen gefälschten Pass verwendet. Er sei dann u.a. über Griechenland und die Niederlande nach Deutschland gekommen. Als Ergebnis des Alterseinschätzungsgesprächs wurde von der Antragsgegnerin festgehalten, dass der Antragsteller volljährig sei.
Mit Bescheid vom selben Tage wurde unter Verweis auf die nicht bestätigte Minderjährigkeit die vorläufige Inobhutnahme „abgelehnt“. Zur Begründung wurde ausgeführt, dass der Antragsteller keine beweiskräftigen bzw. ausreichend legalisierten Ausweispapiere habe vorlegen können, welche seine Minderjährigkeit belegen würden. Des Weiteren habe die Minderjährigkeit des Antragstellers nach Durchführung einer qualifizierten Inaugenscheinnahme zweifelsfrei ausgeschlossen werden können. Die Antragsgegnerin stütze dieses Ergebnis zum einen auf das Äußere des Antragstellers (groß, entwickelt, deutliche Stirnfalten, entwickelte Stimme, markante Gesichtszüge, Nasolabialfalte, Augenfalten, deutlicher Bartwuchs). Die inhaltlichen Angaben des Antragstellers seien zum anderen nicht glaubhaft und teils widersprüchlich gewesen und hätten “fast wie gelernt” gewirkt. Sein Verhalten wurde zudem als sehr reif, gut organisiert und selbstbewusst beschrieben. Der Antragsteller sei im Gespräch offensichtlich sehr nervös gewesen.
Am 9. April 2020 erhob der Antragsteller Klage zum Verwaltungsgericht München und beantragte, den Bescheid der Antragsgegnerin vom 12. März 2020 aufzuheben.
Zugleich beantragte er,
von der Antragsgegnerin bis zur erneuten Prüfung seines Alters durch eine ärztliche Untersuchung vorläufig in Obhut genommen zu werden.
Klage und Eilantrag begründete der Antragsteller damit, dass die vom Stadtjugendamt durchgeführte Alterseinschätzung, die allein auf der Feststellung bestimmter körperlicher Merkmale beruhe, keine ausreichende Grundlage für die Bestimmung seines Alters sei. Hinsichtlich der Angabe der Antragsgegnerin, der Antragsteller habe sich bei dem Gespräch in Widersprüche verwickelt, sei zu sagen, dass er sehr unsicher und nervös gewesen sei und nicht verstanden habe, welchen Zweck die Befragung haben solle. Er habe sich unter der Beobachtung von vier Personen, die sich zum Teil über den Antragsteller auf Deutsch unterhalten hätten, extrem gestresst gefühlt und er habe große Angst gehabt, etwas Falsches zu sagen. Er habe versucht, sich so zu verhalten, wie er glaubte, dass die Mitarbeiter des Jugendamtes es von ihm erwartet hätten. Des Weiteren habe er der Wahrheit entsprechend geantwortet. Er habe mit einem gefälschten Pass ausreisen müssen, da man als Minderjähriger ohne seine Eltern Jemen nicht verlassen dürfe. Er sei zusammen mit seinem Onkel ausgereist. Dieser habe auch den gefälschten Pass besorgt, sodass er über dessen Beschaffung keine detaillierten Angaben machen könne. Er habe außerdem eine Kopie seiner Geburtsurkunde.
Mit Schreiben vom 17. April 2020 beantragte die Antragsgegnerin,
den Antrag abzulehnen.
Zur Begründung trug die Antragsgegnerin vor, dass die Volljährigkeit des Antragstellers in einem Altersfeststellungsverfahren i.S.d. § 42f SGB VIII rechtmäßig bestimmt worden sei. Die Alterseinschätzung sei nicht allein aufgrund bestimmter äußerlicher Merkmale durchgeführt worden; Kern des Verfahrens sei vielmehr eine ausführliche Befragung des jungen Menschen durch hierfür besonders geschulte Fachkräfte. Die Bewertung und Entscheidung zur Alterseinschätzung würden dann auf der Basis des äußeren Erscheinungsbildes, des Verhaltens und der Angaben der befragten Person erfolgen. Diese qualifizierte Inaugenscheinnahme unter Zuhilfenahme von Sprachmittlern biete jedem jungen Menschen die Möglichkeit, den Sachverhalt aus seiner Sicht ausführlich zu schildern und alle relevanten Tatsachen vorzutragen, bevor es zu einer Wertung durch die Antragsgegnerin komme.
Die Anordnung einer ärztlichen Untersuchung sei im vorliegenden Fall weder zulässig noch erforderlich gewesen, da § 42f Abs. 2 S. 1 SGB VIII eine solche nur in Zweifelsfällen vorsehe. Ein Zweifelsfall habe jedoch gerade nicht vorgelegen, da die qualifizierte Inaugenscheinnahme die Volljährigkeit des Antragstellers eindeutig ergeben habe.
Die Inaugenscheinnahme habe in Anwesenheit eines Dolmetschers stattgefunden. Dem Antragsteller sei der Zweck der Befragung erklärt worden und auf die Frage, ob er alles verstanden hätte, habe der Antragsteller die Bedenken, die er in der Antragsschrift vorgetragen habe, nicht geäußert. Zudem habe er das Protokoll des Gesprächs unterschrieben, womit er bestätigt habe, dass er alles verstanden habe und die Angaben der Wahrheit entsprächen.
Des Weiteren bestehe kein Anordnungsgrund. Da der Antragsteller bereits ein erstes Alterseinschätzungsgespräch mit dem Ergebnis der Volljährigkeit durchlaufen und diese Entscheidung anschließend nicht angegriffen habe, könne eine Eilbedürftigkeit nicht gesehen werden.
Der Antragserwiderung beigefügt war zudem eine Stellungnahme des für den Antragsteller im Stadtjugendamt – unbegleitete Minderjährige – zuständigen Sachbearbeiters. Dieser ergänzte das obige Vorbringen dahingehend, dass die inhaltlichen Angaben des Antragstellers bezüglich seines Namens und Alters widersprüchlich seien. Der Antragsteller habe im Gespräch angegeben, dass nicht M. sein richtiger (Nach-)Name sei, sondern A., wobei er sich auf die Kopie seiner Geburtsurkunde bezogen habe. Er habe weiter angegeben, dass sein Onkel ihm einen gefälschten Pass mit einem abgeänderten Namen und dem Geburtsdatum … September 1998 besorgt habe. Im Pass sei sein Nachname M. geführt gewesen. Es sei demnach aus Sicht des Sachbearbeiters fraglich, warum nun die Klage unter dem Namen M. geführt werde, wenn doch der Antragsteller vorher angegeben habe, das sei nicht sein richtiger Name. Des Weiteren habe eine Anfrage bei der Zentralen Ausländerbehörde ergeben, dass der Antragsteller bereits 2017 mit dem Geburtsdatum … September 1998 ein Visum für Deutschland beantragt habe, welches jedoch abgelehnt worden sei. Auch auf die Frage hin, warum er seine Geburtsurkunde nicht bereits im Asylantragsverfahren in den Niederlanden vorgelegt habe, habe der Antragsteller keine schlüssige Antwort geben können. In seiner Klageschrift habe der Antragsteller des Weiteren keinerlei konkrete Angaben zu seinem Alter bzw. zu seinem Geburtsdatum gemacht und lediglich auf die Kopie einer Geburtsurkunde verwiesen. Im Gespräch sei der Antragsteller sehr gut vorbereitet erschienen, er habe selbstbewusst mit reifen Formulierungen kommuniziert und das Gespräch habe auf Augenhöhe mit dem Interviewer stattgefunden. Die Daten zur Beschulung und zur Flucht habe der Antragsteller detailliert und chronologisch schlüssig wiedergeben können. Die Angaben zu seiner Fluchtgeschichte und die Tatsache, dass er alles alleine habe bewerkstelligen können, zeugten von einem sehr reifen und organisierten Verhalten, was zu berechtigten Zweifeln an der angegebenen Altersangabe führe.
Das Gericht hat die zum Antragsteller geführten Asylakte des Bundesamtes für Asyl und Flüchtlinge beigezogen.
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte, der Gerichtsakte im Hauptsacheverfahren M 18 K 20.1544, sowie der vorgelegten Behördenakten verwiesen.
II.
Der entsprechend § 88 VwGO auszulegende Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage ist zulässig und begründet.
Der gestellte Antrag war gem. §§ 122 Abs. 1, 88 VwGO als Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom 12. März 2020 gerichteten Anfechtungsklage (M 18 K 20.1544) gem. § 80 Abs. 5 VwGO auszulegen.
Nach § 80 Abs. 5 VwGO kann das Gericht in Fällen, in denen gemäß § 80 Abs. 2 Satz 1 VwGO die aufschiebende Wirkung der Klage oder des Widerspruchs entfällt, diese auf Antrag anordnen oder wiederherstellen.
Die Antragsgegnerin hat mit Bescheid vom 12. März 2020 die zunächst mit Bescheid vom 6. März 2020 verfügte vorläufige Inobhutnahme – unabhängig von der insoweit zumindest missverständlichen Bescheidstenorierung – beendet. Gemäß § 42f Abs. 3 Satz 1 SGB VIII haben Widerspruch und Klage gegen die Entscheidung des Jugendamts, aufgrund der Altersfeststellung nach dieser Vorschrift die vorläufige Inobhutnahme nach § 42a SGB VIII abzulehnen oder zu beenden, keine aufschiebende Wirkung. Der gegen die Beendigung der vorläufigen Inobhutnahme gerichteten Anfechtungsklage des Antragstellers kommt folglich keine aufschiebende Wirkung zu. Statthafter Rechtsbehelf im vorläufigen Rechtsschutz ist demnach in der vorliegenden Verfahrenskonstellation in Hinblick auf § 123 Abs. 5 VwGO ein Antrag nach § 80 Abs. 5 i.V.m. Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO.
Der so verstandene Antrag ist auch begründet.
Im Rahmen des § 80 Abs. 5 VwGO trifft das Gericht eine eigene originäre Ermessensentscheidung, wobei es zwischen dem in der gesetzlichen Regelung – hier § 42f Abs. 3 Satz 1 SGB VIII – zum Ausdruck kommenden Interesse der Behörde an der sofortigen Vollziehbarkeit des Verwaltungsaktes und dem Interesse des Antragstellers an der aufschiebenden Wirkung seines Rechtsbehelfs abzuwägen hat. Bei der zu treffenden Abwägung sind in erster Linie die Erfolgsaussichten des Hauptsacheverfahrens zu berücksichtigen. Ergibt die im Rahmen des Eilverfahrens nach § 80 Abs. 5 VwGO vorzunehmende summarische Prüfung, dass der Rechtsbehelf voraussichtlich keinen Erfolg haben wird, tritt das Interesse des Antragstellers regelmäßig zurück. Erweist sich der zugrundeliegende Bescheid bei dieser Prüfung hingegen als rechtswidrig und das Hauptsacheverfahren damit voraussichtlich als erfolgreich, ist das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung regelmäßig zu verneinen. Ist der Ausgang des Hauptsacheverfahrens hingegen offen, kommt es zu einer allgemeinen Abwägung der widerstreitenden Interessen.
Die Abwägung nach diesen Maßstäben gebietet es hier, dem privaten Aufschubinteresse des Antragstellers gegenüber dem öffentlichen Interesse Vorrang zu gewähren. Nach der im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes allein möglichen summarischen Prüfung der Sach- und Rechtslage ist davon auszugehen, dass der angegriffene Bescheid der Antragsgegnerin vom 12. März 2020 rechtswidrig ist und den Antragsteller in seinen Rechten verletzt.
Das behördliche Verfahren zur Altersfeststellung genügt nach summarischer Prüfung vorliegend nicht den in § 42f SGB VIII niedergelegten gesetzlichen Anforderungen. Die Beendigung der vorläufigen Inobhutnahme durch die Antragsgegnerin durch Bescheid vom 12. März 2020 dürfte sich daher als rechtswidrig darstellen.
Nach § 42a Abs. 1 Satz 1 SGB VIII ist das Jugendamt berechtigt und verpflichtet, ein ausländisches Kind oder einen ausländischen Jugendlichen vorläufig in Obhut zu nehmen, sobald dessen unbegleitete Einreise nach Deutschland festgestellt wird. Nach § 42a Abs. 1 Satz 2, 42 Abs. 1 Satz 2 SGB VIII umfasst die Inobhutnahme die Befugnis, ein Kind oder einen Jugendlichen bei einer geeigneten Person, in einer geeigneten Einrichtung oder in einer sonstigen Wohnform vorläufig unterzubringen. Anspruchsberechtigt nach der vorgenannten Norm sind ausschließlich Kinder und Jugendliche, also nach § 7 Abs. 1 Nr. 1 bzw. Nr. 2 SGB VIII Personen, die noch nicht 18 Jahre alt sind. Volljährige dürfen dahingegen nicht in Obhut genommen werden.
Die Art und Weise der Altersfeststellung bei infrage kommenden ausländischen Personen ist in § 42f SGB VIII normiert. Nach § 42f Abs. 1 Satz 1 SGB VIII hat das Jugendamt im Rahmen der vorläufigen Inobhutnahme gemäß § 42a SGB VIII die Minderjährigkeit durch Einsichtnahme in die Ausweispapiere festzustellen oder hilfsweise mittels einer qualifizierten Inaugenscheinnahme einzuschätzen. In Zweifelsfällen ist auf Antrag des Betroffenen, seines Vertreters oder von Amts wegen eine ärztliche Untersuchung zur Altersbestimmung zu veranlassen (§ 42f Abs. 2 Satz 1 SGB VIII).
Aus der Formulierung des § 42f Abs. 1 Satz 1 SGB VIII, wonach die Altersfeststellung „im Rahmen der vorläufigen Inobhutnahme“ durchzuführen ist, ist zu schließen, dass eine vorläufige Inobhutnahme auch zu erfolgen hat, wenn das Altersfeststellungsverfahren noch nicht durchgeführt und damit das Alter des jungen Menschen noch nicht sicher festgestellt wurde (was vorliegend auch zu Recht am 6. März 2020 erfolgte). Dies bestätigt auch § 42f Abs. 3 Satz 1 SGB VIII, der sich ausdrücklich auf eine Beendigung der vorläufigen Inobhutnahme „aufgrund der Altersfeststellung nach dieser Vorschrift“ bezieht (vgl. Kirchhoff in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB VIII, 2. Aufl., Stand: 9.3.2020, § 42f SGB VIII Rn. 20). Das Ergebnis der Alterseinschätzung ist also nicht Voraussetzung für eine vorläufige Inobhutnahme, vielmehr ist die Alterseinschätzung selbst erst Aufgabe im Rahmen der vorläufigen Inobhutnahme (vgl. BayVGH, B.v. 5.4.2017 – 12 BV 17.185 – juris Rn. 31). Hieraus folgt im Umkehrschluss, dass – und so sah es offensichtlich auch der Gesetzgeber vor (vgl. die Gesetzesbegründung zu § 42f SGB VIII: BT-Drs. 18/6392 S. 20) – die ausländische Person erst dann aus der vorläufigen Obhut des Jugendamtes zu entlassen ist, wenn deren Volljährigkeit festgestellt worden ist. Die Beendigung der vorläufigen Inobhutnahme ist daher erst dann gerechtfertigt, von die von Gesetzes wegen aufgestellten Vorgaben zur Feststellung des Alters vom jeweiligen Jugendamt korrekt durchlaufen wurden.
Dies ist vorliegend nicht geschehen. Zwar hat die Antragsgegnerin zurecht eine qualifizierte Inaugenscheinnahme des Antragstellers durchgeführt, da (aussagekräftige) Ausweispapiere oder sonstige die Feststellung des Alters des Antragstellers ermöglichende Dokumente nicht vorgelegt wurden und auch dessen Selbstauskunft keinen zweifelsfreien Beleg für die behauptete Minderjährigkeit bot. Die Antragsgegnerin hat jedoch im vorliegenden Fall verkannt, dass ein sog. Zweifelsfall i.S.d. § 42f Abs. 2 Satz 1 SGB VIII vorlag, der das Jugendamt zur Veranlassung einer ärztlichen Untersuchung zur Altersfeststellung verpflichtet hätte.
Am 12. März 2020 führte die Antragsgegnerin mit dem Antragteller ein Alterseinschätzungsgespräch durch, in dem der Antragsteller keine Ausweispapiere vorlegen konnte, § 42f Abs. 1 Satz 1 SGB VIII. Zwar legte der Antragsteller eine englischsprachige Kopie einer Geburtsurkunde vor, jedoch war dieser, ganz abgesehen davon, dass das Dokument aufgrund des abweichenden Namens dem Antragsteller schon nicht sicher zugeordnet werden kann, kein maßgeblicher Beweiswert zuzumessen. Zum einen wurde diese erst kürzlich am 14. Januar 2020 ausgestellt, zum anderen besteht im Jemen kein konsistentes Geburtenregister, das ausreichende Gewähr für die Richtigkeit der dort ausgegebenen Urkunden bietet (vgl. Yemen – Country Reports on Human Rights Practices for 2019 – U.S. Department of State, Bureau of Democracy, Human Rights and Labor – S. 10, 17, 33). Das Auswärtige Amt schreibt in einem Hinweis zur Legalisation jemenitischer Urkunden vom 5. Februar 2018, dass es, in Hinblick auf die fehlende Möglichkeit, jemenitische Urkunden auf formale Echtheit und inhaltliche Richtigkeit zu überprüfen, im Ermessen der inländischen Behörde liege, eine solche ohne Nachweis als echt anzusehen (vgl. https://s…de/ye-de/legislation-urkunden/1433396, abgerufen am 27. April 2020). Anhaltspunkte dafür, dass dieser Hinweis inzwischen überholt sein könnte, liegen angesichts der nach wie vor angespannten Sicherheitslage und der andauernden Schließung der deutschen Botschaft in Sanaa nicht vor. Einen Pass konnte der Antragsteller nicht vorlegen, unabhängig davon, dass zumindest in dem bisher von ihm verwendeten Pass offenbar andere Daten angegeben sind.
Nachdem die Selbstauskunft des Antragstellers, insbesondere auch aufgrund des in dem von dem Antragsteller ursprünglich verwendeten Pass abweichenden Geburtsdatums, nicht geeignet war, jedweden Zweifel an seiner Minderjährigkeit auszuräumen, entsprach die hilfsweise Vornahme einer qualifizierten Inaugenscheinnahme den gesetzlichen Vorgaben. Die Antragsgegnerin hat jedoch nach summarischer Prüfung die Volljährigkeit des Antragstellers im Rahmen der qualifizierten Inaugenscheinnahme nicht zweifelsfrei festgestellt.
Derartige Zweifel, welche gem. § 42f Abs. 2 Satz 1 SGB VIII die Vornahme einer ärztlichen Untersuchung erforderlich machen, bestehen nach ständiger Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs immer dann, wenn nicht mit Sicherheit ausgeschlossen werden kann, dass ein fachärztliches Gutachten zu dem Ergebnis kommen wird, der Betroffene sei noch minderjährig. Denn im Hinblick auf die im Jugendhilfeverfahren entsprechend anwendbare Regelung des Art. 25 Abs. 5 Unterabs. 1 Satz 2 RL 2013/32/EU ist zugunsten der um Inobhutnahme ersuchenden Person zwingend davon auszugehen, dass dieser noch minderjährig ist, solange entsprechende Zweifel nicht ausgeräumt werden können und deshalb weiter fortbestehen (vgl. BayVGH, B.v. 5.4.2017 – 12 BV 17.185 – juris Rn. 33 m.w.N.).
Ob ein solcher Zweifelsfall vorliegt, unterliegt als unbestimmter Rechtsbegriff ohne Beurteilungsspielraum umfassender verwaltungsgerichtlicher Kontrolle; eine Einschätzungsprärogative des Jugendamts besteht nicht (vgl. BayVGH, B.v. 5.4.2017 – 12 BV 17.185 – juris Rn. 34). Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof führt in ständiger Rechtsprechung aus, dass ausgehend von der Tatsache, dass eine exakte Bestimmung des Lebensalters weder auf medizinischem, psychologischem, pädagogischem oder anderem Wege möglich ist, alle bekannten Verfahren – auch eine ärztliche Untersuchung – allenfalls Näherungswerte liefern können, manche medizinischen Untersuchungsmethoden zum Teil eine Schwankungsbreite von bis zu fünf Jahren aufweisen und allgemein von einem Graubereich von ca. ein bis zwei Jahren (über der gesetzlichen Altersgrenze von 18 Jahren) auszugehen ist, kann eine qualifizierte Inaugenscheinnahme durch Mitarbeiter eines Jugendamts gemäß § 42f Abs. 1 Satz 2 2. Alt. SGB VIII lediglich dann als zur Altersfeststellung geeignet angesehen werden, wenn es darum geht, für jedermann ohne Weiteres erkennbare (offensichtliche), gleichsam auf der Hand liegende, über jeden vernünftigen Zweifel erhabene Fälle evidenter Minderjährigkeit festzustellen oder eindeutiger Volljährigkeit auszuscheiden, in welchen ein Sich-Berufen des Betroffenen auf den Status der Minderjährigkeit selbst vor dem Hintergrund möglicher eigener Unkenntnis vom genauen Geburtsdatum als evident rechtsmissbräuchlich erscheinen muss. In allen anderen Fällen ist vom Vorliegen eines Zweifelsfalls auszugehen, sodass das Jugendamt eine ärztliche Untersuchung gemäß § 42f Abs. 2 Satz 1 SGB VIII veranlassen muss. Angesichts der erheblichen Schwankungsbreiten medizinischer Untersuchungsmethoden von bis zu fünf Jahren wird es darüber hinaus eines „Sicherheitszuschlages“ von weiteren zwei bis drei Jahren bedürfen, wenn der Antragsgegner zur Auffassung kommt, dass der Antragsteller gerade als volljährig geworden einzuschätzen ist, um dem Kindeswohl angemessen Rechnung zu tragen und jeder vermeidbaren Fehlbeurteilung entgegenzuwirken (vgl. BayVGH, B.v. 5.4.2017 – 12 BV 17.185 – juris Rn. 38; B.v. 16.8.2016 – 12 CS 16. 1550 – juris Rn. 23; B.v. 18.8.2016 – 12 CE 16.1570 – juris, Rn. 19; B.v. 13.12.2016 – 12 CE 16.2333 – juris, Rn. 31).
Unter Beachtung vorgenannter Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshof, der sich das Gericht vorliegend anschließt, ist im Fall des Antragstellers nicht davon auszugehen, dass dieser für jedermann ohne Weiteres erkennbar, offensichtlich und ohne jeden vernünftigen Zweifel volljährig ist.
Sofern sich die qualifizierte Inaugenscheinnahme auf äußere körperliche Merkmale stützt und die Antragsgegnerin das äußere Erscheinungsbild des Antragstellers insgesamt als “ausgereift” beurteilt, bieten die festgestellten Merkmale (tiefe Stimme, markante Wangenknochen, ausgeprägter Haar- und Bartwuchs, breite Schultern etc.) keine ausreichende Grundlage für die Annahme von Volljährigkeit, da diese Merkmale ebenso auch bei einem (reifen) jugendlichen Minderjährigen vorliegen können. Dies gilt insbesondere auch dahingehend, dass die Antragsgegnerin das Geburtsdatum des Antragstellers auf den … September 1998 geschätzt hat und der Antragsteller mit 21 Jahren daher in jedem Fall einem, wenngleich großzügig bemessenen, Graubereich unterfiele (zu diesem Merkmal vgl. BayVGH, B.v. 5.4.2017 – 12 BV 17.185 – juris Rn. 48). Die in der Behördenakte und im AZR befindlichen Lichtbilder des Antragstellers lassen ebenfalls keinen sicheren Schluss auf eine Volljährigkeit des Antragstellers zu.
Auch die von der Antragsgegnerin als widersprüchlich gewerteten inhaltlichen Aussagen des Antragstellers und dessen Verhalten im Gespräch sind nicht geeignet, die Minderjährigkeit des Antragstellers mit Sicherheit auszuschließen.
Der Antragsteller hat im Grundsatz nachvollziehbar geschildert, wie es dazu kam, dass er bei den mit ihm befassten jeweiligen Behörden unter einem anderen – von seinem angeblich tatsächlichen Namen und Geburtsdatum abweichenden – Namen und Geburtsdatum wohl entsprechend dem zunächst von dem Antragsteller verwendeten Pass geführt wurde. Für wahr unterstellt, dass der Onkel des Antragstellers diesem einen gefälschten Pass organisiert habe, damit er das Land verlassen konnte, ist nachvollziehbar, dass der Antragsteller bis zur Ankunft in Deutschland auch bei den im Pass eingetragenen Daten blieb und diese auch früher bereits bei der Beantragung eines Visums für die Bundesrepublik Deutschland angab. Angesichts der Tatsache, dass der Antragsteller bei den Ausländerbehörden unter dem (angenommen) falschen Namen und Geburtsdatum geführt wird und auch seine Aufenthaltsgestattung unter diesen Daten läuft, erscheint es für das Gericht auch entgegen der Ansicht der Antragsgegnerin nicht widersprüchlich, dass der Antragsteller auch vor Gericht diese “offiziellen” Daten angegeben hat. Auch ist der Vortrag des Antragstellers, dass er, durch einen gefälschten Pass ausgewiesen, den Jemen im Jahr 2016 verlassen habe und über verschiedene Länder schließlich nach Deutschland gekommen sei, wenngleich dem Beweis nicht zugänglich, aber auch nicht per se unglaubwürdig. Soweit ersichtlich hat der Antragsteller diese Angaben auch bei den Befragungen vor der Zentralen Ausländerbehörde Oberbayern und dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge gemacht und im Gespräch mit dem Jugendamt nicht etwa neue oder andere Tatsachen vorgetragen. Des Weiteren lässt sich der Umstand, dass der Antragsteller die Kopie seiner Geburtsurkunde erst jetzt vorgelegt hat und nicht etwa schon vor dem Jugendamt N.…, damit erklären, dass diese erst am 14. Januar 2020, also nach Umverteilung des Antragstellers nach Oberbayern, ausgestellt wurde. Zwar mögen Widersprüche in der Aussage dazu führen, dass diese insgesamt als wenig glaubhaft zu werten ist. Das Vorliegen der tatsächlichen Minderjährigkeit des Antragstellers wird hierdurch jedoch nicht ausgeschlossen.
Sofern in der Rechtsprechung teilweise vertreten wird, dass erwartet werden könne, dass von der ausländischen Person schlüssige und glaubhafte Angaben zum bisherigen Entwicklungsverlauf gemacht werden, die eine zeitliche Zuordnung und Rückschlüsse auf das Alter erlauben (vgl. OVG Berlin-Brandenburg B. v. 8.1.2018 – OVG 6 S 40.17 – juris Rn. 4; OVG Bremen B. v. 5.1.2018 – 1 B 242/17 – juris Rn. 12), hat die Antragsgegnerin selbst vorgetragen, dass der Antragsteller die Daten zur Beschulung und zur Flucht detailliert und chronologisch schlüssig habe wiedergeben können. Sofern die Antragsgegnerin des Weiteren im Bescheid vom 12. März 2020 darauf abstellt, die inhaltlichen Angaben hätten “fast wie gelernt” geklungen und daher offenbar auf deren Unglaubwürdigkeit schließt, erklärt sich das Gericht diesen Umstand damit, dass der Antragsteller zuvor wohl bereits in den Niederlanden ein Asylverfahren durchlaufen hat und auch vor dem Jugendamt N.… und von der Zentralen Ausländerbehörde Oberbayern zu seinem Lebenslauf befragt worden ist. Dass sich bei dem Erzählen der immer wieder gleichen Geschichte eine Art Monotonie einstellen kann, erscheint nachvollziehbar und spricht nicht unbedingt gegen den Wahrheitsgehalt der Aussage.
An der Einschätzung als Zweifelsfall vermag schließlich auch die Heranziehung weiterer Kriterien, wie ein im Gespräch selbstbewusstes und reifes Auftreten oder ein selbständiges, organisiertes Verhalten nichts zu ändern. Auch ein 16-jähriger Jugendlicher kann diese Charakteristika aufweisen, insbesondere, wenn er bereits seit mehreren Jahren auf sich allein gestellt gewesen ist.
Der Vortrag des Jugendamtes N.… zu einem angeblichen Eurodac-Treffer aus dem Jahre 2001 kann im Übrigen nicht nachvollzogen werden. Ein solcher ergibt sich auch nicht aus der vom Gericht zugezogenen Akte des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge. Zudem erfolgt eine Eurodac-Registrierung nur bei Asylbewerbern, die mindestens 14 Jahre alt sind. Dass der Antragsteller im Jahre 2001 bereits 14 Jahre alt gewesen sein soll, ist auszuschließen.
Da nach alledem eine überwiegende Wahrscheinlichkeit dafür, dass der Antragsteller das 18. Lebensjahr bereits vollendet hat, nicht besteht, erweist sich die Beendigung der Inobhutnahme nach summarischer Prüfung als rechtswidrig. Die aufschiebende Wirkung der Klage war somit anzuordnen. Die Antragsgegnerin ist in der Folge verpflichtet, den Antragsteller wieder vorläufig in Obhut zu nehmen und im Rahmen ihrer Ermittlungspflicht ein medizinisches Gutachten zur Altersdiagnostik durchzuführen.
Das Vorbringen der Antragsgegnerin, es bestehe keine Eilbedürftigkeit des Antrags, da der Antragsteller auch nicht gegen die Beendigung der Inobhutnahme durch das Jugendamt N.… vorgegangen sei, ist vorliegend irrelevant, da anders als bei einem Antrag nach § 123 Abs. 1 VwGO im Rahmen des Verfahrens nach § 80 Abs. 5 VwGO die besondere Glaubhaftmachung eines Anordnungsgrundes im Sinne einer bestehenden Eilbedürftigkeit tatbestandlich nicht erforderlich ist. Unabhängig davon erscheint das Argument insbesondere aufgrund der kurzfristig erfolgten Verlegung des Antragstellers nach der ablehnenden Entscheidung durch das Jugendamt N.… aber auch nicht stichhaltig.
Die Kostenfolge ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO.
Das Verfahren ist nach § 188 Satz 2 VwGO gerichtskostenfrei.


Ähnliche Artikel

Bankrecht

Schadensersatz, Schadensersatzanspruch, Sittenwidrigkeit, KapMuG, Anlageentscheidung, Aktien, Versicherung, Kenntnis, Schadensberechnung, Feststellungsziele, Verfahren, Aussetzung, Schutzgesetz, Berufungsverfahren, von Amts wegen
Mehr lesen

IT- und Medienrecht

Abtretung, Mietobjekt, Vertragsschluss, Kaufpreis, Beendigung, Vermieter, Zeitpunkt, Frist, Glaubhaftmachung, betrug, Auskunftsanspruch, Vertragsurkunde, Auskunft, Anlage, Sinn und Zweck, Vorwegnahme der Hauptsache, kein Anspruch
Mehr lesen


Nach oben