Verwaltungsrecht

Berücksichtigung aktueller Entwicklungen (Covid-19-Pandemie) im Rahmen des Abschiebungsschutzes

Aktenzeichen  9 ZB 20.31812

Datum:
22.10.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 30473
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG § 78 Abs. 3 Nr.
GG Art. 103 Abs. 1
AufenthG § 60 Abs. 5, Abs. 7 S. 1

 

Leitsatz

Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG ist stets eine nicht grundsätzlich klärungsfähige Frage des Einzelfalls.  (Rn. 5) (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

M 30 K 19.34400 2020-07-16 Urt VGMUENCHEN VG München

Tenor

I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II. Der Kläger trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens. Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe

I.
Der Kläger ist nach seinen Angaben Staatsangehöriger Sierra Leones und begehrt die Anerkennung als Asylberechtigter und die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, hilfsweise die Gewährung subsidiären Schutzes und die Feststellung von Abschiebungshindernissen. Mit Urteil vom 16. Juli 2020 hat das Verwaltungsgericht die Klage abgewiesen. Mit seinem Antrag auf Zulassung der Berufung verfolgt der Kläger sein Begehren weiter.
II.
Der Antrag auf Zulassung der Berufung bleibt erfolglos. Es liegt weder eine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache vor (§ 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG) oder eine Divergenz (§ 78 Abs. 3 Nr. 2 AsylG), noch ergibt sich aus dem Zulassungsvorbringen ein Verfahrensmangel (§ 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylG).
1. Die Berufung ist nicht wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zuzulassen (§ 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG).
Die Zulassung der Berufung wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache setzt voraus, dass eine konkrete noch nicht geklärte Rechts- oder Tatsachenfrage aufgeworfen wird, deren Beantwortung sowohl für die Entscheidung des Verwaltungsgerichts von Bedeutung war als auch für die Entscheidung im Berufungsverfahren erheblich sein wird und die über den konkreten Fall hinaus wesentliche Bedeutung für die einheitliche Anwendung oder für die Weiterentwicklung des Rechts hat. Zur Darlegung dieses Zulassungsgrundes ist eine Frage auszuformulieren und substantiiert anzuführen, warum sie für klärungsbedürftig und entscheidungserheblich (klärungsfähig) gehalten und aus welchen Gründen ihr Bedeutung über den Einzelfall hinaus zugemessen wird (vgl. BayVGH, B.v. 29.7.2020 – 9 ZB 20.31477 – juris Rn. 3 m.w.N.). Dem wird das Zulassungsvorbringen nicht gerecht.
Die Frage, ob aufgrund der staatlichen Schutzpflicht im Hinblick auf die Corona-Pandemie „beim Vorliegen von aktuellen Reisewarnungen (durch das Auswärtige Amt) es der willkürlichen Sachentscheidung der Ausländerbehörde zu überlassen ist, ob in ein Risikogebiet abgeschoben werden kann, bzw. darf, oder ob es vorher einer dahingehenden Feststellung durch das Bundesamt, bzw. im verwaltungsgerichtlichen Verfahren durch das Verwaltungsgericht im Rahmen der Prüfung von Abschiebeverboten nach §§ 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG bedarf, woran die Ausländerbehörde dann gebunden wäre und ein eventueller Widerruf dieser Feststellung bei möglicher Entspannung der tatsächlichen Corona-Lage dann erst erneut durch das Bundesamt zu prüfen und ggf. dann dieser neue Bescheid einer erneuten gerichtlichen Prüfung zugänglich wäre“, ist nicht grundsätzlich bedeutsam. Beruft sich ein Ausländer – wie hier der Kläger – lediglich auf allgemeine Gefahren im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 5 AufenthG, die nicht nur ihm persönlich, sondern zugleich der ganzen Bevölkerung oder einer Bevölkerungsgruppe drohen, wird Abschiebungsschutz ausschließlich durch eine generelle Regelung der obersten Landesbehörde nach § 60a AufenthG gewährt. Das zeigt, dass der Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG stets eine nicht grundsätzlich klärungsfähige Frage des Einzelfalls ist, deren positive Beantwortung für den Kläger allenfalls dann in Betracht käme, wenn er bei Rückkehr mit hoher Wahrscheinlichkeit einer extremen Gefahrenlage ausgesetzt wäre (vgl. BVerwG, U.v. 12.7.2001 – 1 C 5.01 – juris Rn. 11 ff.). Insoweit hat das Verwaltungsgericht allerdings darauf abgestellt, dass die aktuelle Covid-19-Pandemie trotz der allgemein schlechten wirtschaftlichen und sozialen Lage in Sierra Leone der beachtlichen Wahrscheinlichkeit, dass der Kläger in der Lage sein wird, seine Existenz zu sichern, nicht entgegenstehe. Die Reisewarnung des Auswärtigen Amtes, die das Verwaltungsgericht auch in seiner Erkenntnismittelliste angeführt hat, steht dem nicht entgegen, da ihr keine Indizwirkung zukommt (vgl. BVerwG, B.v. 27.6.2013 – 10 B 11.13 – juris; BayVGH, B.v. 22.1.2019 – 9 ZB 18.31719 – juris Rn. 8). Das Zulassungsvorbringen übt somit nur Kritik an der Rechtsanwendung durch das Verwaltungsgericht, was keinen Zulassungsgrund i.S.d. § 78 Abs. 3 AsylG darstellt (vgl. BayVGH, B.v. 7.7.2020 – 9 ZB 20.31328 – juris Rn. 4).
2. Die Berufung ist nicht wegen Divergenz nach § 78 Abs. 3 Nr. 2 AsylG zuzulassen.
Der Zulassungsgrund der Divergenz setzt voraus, dass das verwaltungsgerichtliche Urteil von einer Entscheidung eines der in § 78 Abs. 3 Nr. 2 AsylG genannten Gerichte abweicht und auf dieser Abweichung beruht. Eine Abweichung liegt vor, wenn das Verwaltungsgericht mit einem seine Entscheidung tragenden abstrakten Rechtssatz von einem in der Rechtsprechung der genannten Gerichte aufgestellten ebensolchen Rechtssatz in Anwendung derselben oder einer inhaltsgleichen Rechtsvorschrift ausdrücklich oder konkludent abrückt. Zwischen den Gerichten muss ein prinzipieller Auffassungsunterschied über den Bedeutungsgehalt einer bestimmten Rechtsvorschrift oder eines Rechtsgrundsatzes bestehen. Im Zulassungsantrag muss daher ein abstrakter Rechtssatz des angefochtenen Urteils herausgearbeitet werden und einem Rechtssatz des anderen Gerichts unter Darlegung der Abweichung gegenübergestellt werden (vgl. BayVGH, B.v. 21.12.2018 – 9 ZB 16.30193 – juris Rn. 3).
Diesen Anforderungen wird das Zulassungsvorbringen nicht gerecht. Abgesehen davon, dass die vom Kläger angeführten Entscheidungen nicht zu § 60 Abs. 5, Abs. 7 Satz 1 AufenthG oder einer inhaltsgleichen Rechtsvorschrift ergangen sind, ergibt sich aus den Urteilsgründen auch der vom Kläger angeführte Rechtssatz des Verwaltungsgerichts, dass „auch in Corona-Zeiten“ die Verwaltungsgerichte nicht dazu berufen seien, diese Gefahren im Rahmen des Vorliegens der Voraussetzungen des § 60 Abs. 5, Abs. 7 Satz 1 AufenthG mit in die Prüfung einzustellen und stattdessen dies den Ausländerbehörden bei der Frage der Durchführung der Abschiebung zu überlassen, nicht. Aus den Entscheidungsgründen des Verwaltungsgerichts ergibt sich, dass das Verwaltungsgericht im Rahmen der rechtlichen Beurteilung der Abschiebungsverbote auch die Covid-19-Pandemie berücksichtigt hat. Im Übrigen entspricht es der geltenden Rechtslage des § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG, dass aktuelle Entwicklungen, die einer Abschiebung entgegenstehen im Rahmen der Abschiebung von der Ausländerbehörde zu prüfen sind. Auch hierauf hat das Verwaltungsgericht in seinen Urteilsgründen abgestellt; eine Divergenz zu den vom Kläger angeführten Entscheidungen zu den Schutzpflichten des Staates ergibt sich daraus nicht.
3. Die Berufung ist auch nicht wegen der geltend gemachten Verletzung rechtlichen Gehörs (§ 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylG i.V.m. § 138 Nr. 3 VwGO) zuzulassen.
Das rechtliche Gehör als prozessuales Grundrecht (Art. 103 Abs. 1 GG) sichert den Parteien ein Recht auf Information, Äußerung und Berücksichtigung mit der Folge, dass sie ihr Verhalten eigenbestimmt und situationsspezifisch gestalten können, insbesondere, dass sie mit ihren Ausführungen und Anträgen gehört werden. Das Gericht hat sich mit den wesentlichen Argumenten des Klagevortrags zu befassen, wenn sie entscheidungserheblich sind. Ein Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG kann jedoch nur dann festgestellt werden, wenn sich aus besonderen Umständen klar ergibt, dass das Gericht dieser Pflicht nicht nachgekommen ist (BayVGH, B.v. 19.10.2018 – 9 ZB 16.30023 – juris Rn. 10). Der Anspruch auf rechtliches Gehör ist allerdings nicht schon dann verletzt, wenn der Richter zu einer unrichtigen Tatsachenfeststellung im Zusammenhang mit der ihm obliegenden Tätigkeit der Sammlung, Feststellung und Bewertung der von den Parteien vorgetragenen Tatsachen gekommen ist. Auch die bloße Behauptung, das Gericht habe einem tatsächlichen Umstand nicht die richtige Bedeutung für weitere tatsächliche oder rechtliche Folgerungen beigemessen oder das Gericht habe es versäumt, Beweis zu erheben, vermag einen Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG nicht zu begründen (vgl. BVerfG, B.v. 15.2.2017 – 2 BvR 395/16 – juris Rn. 5 m.w.N.; BayVGH, B.v. 22.10.2019 – 9 ZB 19.31503 – juris Rn. 8).
Die Rüge, das Verwaltungsgericht habe die „allgemein zugänglichen Quellen“ im Urteil nicht angegeben, stellt eine Rüge der tatrichterlichen Beweiswürdigung dar, die einen Gehörsverstoß grundsätzlich nicht begründen kann. Der Anspruch auf rechtliches Gehör kann allenfalls im Einzelfall bei gravierenden Verstößen verletzt sein, wenn die Ablehnung eines erheblichen Beweisangebots im Prozessrecht keine Stütze mehr findet (BVerfG, B.v. 8.4.2004 – 2 BvR 743/03 – juris Rn. 3; BayVGH, B.v. 8.10.2019 – 9 ZB 19.31544 – juris Rn. 3), oder wenn es sich um gewichtige Verstöße gegen Beweiswürdigungsgrundsätze handelt, weil etwa die Würdigung willkürlich erscheint oder gegen gesetzliche Beweisregeln, allgemeine Erfahrungssätze, unumstrittene Geschichtstatsachen oder gar die Denkgesetze verstößt (vgl. BVerwG, B.v. 2.11.1995 – 9 B 710.94 – juris Rn. 7; BayVGH, B.v. 7.7.2020 – 9 ZB 20.31328 – juris Rn. 7). Dies zeigt das Zulassungsvorbringen aber nicht auf, denn das Verwaltungsgericht stellt nur darauf ab, dass sich den allgemein zugänglichen Quellen gerade nichts entnehmen lässt. Das Zulassungsvorbringen zielt vielmehr darauf ab, ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des verwaltungsgerichtlichen Urteils zu wecken, ohne selbst Gegenteiliges anzuführen. Ernstliche Zweifel stellen aber keinen im Asylverfahrensrecht vorgesehenen Zulassungsgrund dar. Abgesehen davon enthalten die vom Verwaltungsgericht in den Prozess eingeführten Erkenntnismittel Hinweise und Ausführungen zur aktuellen Situation im Zusammenhang mit der Pandemielage, so dass sich der Kläger hierzu hätte äußern können. Darüber hinaus legt das Zulassungsvorbringen nicht dar, inwieweit die Tatsachen oder die vom Verwaltungsgericht gezogenen Schlüsse unzutreffend sind und was vom Kläger dagegen vorgetragen worden wäre (vgl. BayVGH, B.v. 11.5.2020 – 13a ZB 18.32274 – juris Rn. 18).
Entgegen dem Zulassungsvorbringen liegt auch keine Überraschungsentscheidung vor, in dem das Verwaltungsgericht die aktuelle Pandemielage bei seiner rechtlichen Beurteilung von § 60 Abs. 5, Abs. 7 Satz 1 AufenthG berücksichtigt hat. Eine unzulässige Überraschungsentscheidung ist anzunehmen, wenn das Gericht einen bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung nicht erörterten rechtlichen oder tatsächlichen Gesichtspunkt zur Grundlage seiner Entscheidung macht und damit dem Rechtsstreit eine Wendung gibt, mit der der Beteiligte nach dem bisherigen Prozessverlauf nicht rechnen musste (vgl. BVerfG, B.v. 13.2.2019 – 2 BvR 633/16 – juris Rn. 24 m.w.N.; BayVGH, B.v. 12.3.2020 – 9 ZB 20.30506 – juris Rn. 8). Dies ist hier aber nicht der Fall. Abgesehen davon, dass es nicht überraschend ist, wenn das Verwaltungsgericht im Rahmen der rechtlichen Prüfung der geltend gemachten Abschiebungsverbote auch die aktuelle Pandemielage bewertet, sind in den vom Verwaltungsgericht eingeführten Erkenntnismitteln auch Hinweise und Ausführungen hierzu enthalten, die es dem Kläger ermöglicht hätten, sich hierzu zu äußern.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83b AsylG).
Mit der Ablehnung des Zulassungsantrags wird das Urteil des Verwaltungsgerichts rechtskräftig (§ 78 Abs. 5 Satz 2 AsylG).
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).


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