Aktenzeichen 2 B 50/12
§ 13 Abs 1 S 2 BDG
§ 77 Abs 1 BBG
§ 108 Abs 2 VwGO
§ 132 Abs 2 Nr 1 VwGO
§ 132 Abs 2 Nr 3 VwGO
Leitsatz
1. Das Disziplinargericht kann nach § 56 Satz 1 BDG nur Tathandlungen aus dem Disziplinarverfahren ausscheiden, die für die Bestimmung der Disziplinarmaßnahme unter keinem erdenklichen Gesichtspunkt ins Gewicht fallen können.
2. Beabsichtigt das Gericht eine Beschränkung nach § 56 Satz 1 BDG, muss es hierauf die Beteiligten hinweisen und ihnen Gelegenheit zur Äußerung geben.
Verfahrensgang
vorgehend Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, 12. März 2012, Az: 3d A 906/10.BDG, Urteilvorgehend VG Münster, 18. März 2010, Az: 20 K 460/08.BDG
Gründe
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Die auf die Zulassungsgründe der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO, § 69 BDG) und des Verfahrensfehlers (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO, § 69 BDG) gestützte Nichtzulassungsbeschwerde hat keinen Erfolg.
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1. Der 1960 geborene Beklagte ist als Postbetriebsinspektor der Deutschen Post AG zur Dienstleistung zugewiesen. Er war zuletzt in der Leitung eines Zustellstützpunktes tätig. Im Januar 2006 öffnete der Beklagte einen Fangbrief und entnahm den in ihm enthaltenen 20 €-Schein. In dem daraufhin eingeleiteten Disziplinarverfahren wurde ihm vorgeworfen, mehrfach unbefugt Geldscheine aus Briefen entwendet zu haben. Das Strafverfahren stellte die Staatsanwaltschaft nach § 153a StPO gegen Zahlung eines Geldbetrages ein.
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Mit der Disziplinarklage lastete die Post dem Beklagten an, in 30 Fällen Geldscheine im Wert von insgesamt 210 € aus Briefen genommen zu haben. Das Verwaltungsgericht hat die Entfernung aus dem Beamtenverhältnis schon wegen der Geldentnahme aus dem Fangbrief nach dessen Öffnung für geboten gehalten. Den 29 weiteren Vorwürfen ist es nicht nachgegangen. Das Oberverwaltungsgericht hat die Berufung des Beklagten zurückgewiesen, weil es sämtliche 30 Vorwürfe für erwiesen gehalten hat.
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2. Der Beklagte hält die Frage für rechtsgrundsätzlich bedeutsam im Sinne von § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO:
ob eine schwere depressive Erkrankung unterhalb der Schwelle einer erheblich verminderten Schuldfähigkeit nicht zumindest bei Zugriffsdelikten unterhalb eines Schadensbetrages von 200 € einen einem anerkannten Milderungsgrund vergleichbaren Umstand bilden kann.
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Der Revisionszulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung gemäß § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO setzt voraus, dass die Rechtssache eine konkrete, in dem zu entscheidenden Fall erhebliche Frage des revisiblen Rechts aufwirft, die bislang höchstrichterlich nicht geklärt ist und im Interesse der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder der Rechtsfortbildung der Klärung in einem Revisionsverfahren bedarf (Beschluss vom 2. Oktober 1961 – BVerwG 8 B 78.61 – BVerwGE 13, 90 = Buchholz 310 § 132 VwGO Nr. 18; Beschluss vom 2. Februar 2011 – BVerwG 6 B 37.10 – NVwZ 2011, 507 Rn. 2; stRspr).
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Mit der von ihm gestellten Frage kann der Beklagte die Revisionszulassung nicht erreichen. Sie ist geklärt, soweit sie einen verallgemeinerungsfähigen Inhalt hat. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts kann eine Erkrankung im Tatzeitraum als mildernder Umstand bei der Bestimmung der Disziplinarmaßnahme nach § 13 Abs. 1 Satz 2 bis 4 BDG berücksichtigt werden. Ob sie entscheidend ins Gewicht fällt, hängt von den konkreten Umständen ab und entzieht sich einer generellen Bewertung.
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Der Senat hat die Bemessungsregelungen des § 13 Abs. 1 Satz 2 bis 4 BDG dahingehend konkretisiert, dass die Veruntreuung amtlich anvertrauter Wertsachen (sog. Zugriffsdelikt) so schwer wiegt, dass sie die Entfernung aus dem Beamtenverhältnis rechtfertigt, wenn dem Beamten weder ein anerkannter Milderungsgrund zugute kommt noch mildernde Umstände von insgesamt vergleichbarem Gewicht vorliegen (Urteile vom 20. Oktober 2005 – BVerwG 2 C 12.04 – BVerwGE 124, 252 = Buchholz 235.1 § 13 BDG Nr. 1 Rn. 27 f. und vom 3. Mai 2007 – BVerwG 2 C 9.06 – Buchholz 235.1 § 13 BDG Nr. 3 Rn. 20 f.; Beschluss vom 23. Februar 2012 – BVerwG 2 B 143.11 – juris Rn. 11).
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Das Gewicht derartiger Umstände muss umso größer sein, je schwerer das Zugriffsdelikt aufgrund der Höhe des Schadens, der Anzahl und Häufigkeit der Zugriffshandlungen und der Begehung von “Begleitdelikten” und anderer belastender Gesichtspunkte im Einzelfall wiegt (Urteile vom 3. Mai 2007 a.a.O. Rn. 23 und vom 24. Mai 2007 – BVerwG 2 C 25.06 – Buchholz 235.1 § 13 BDG Nr. 4 Rn. 22). Danach kommt jedenfalls bei einem einmaligen Fehlverhalten mit einem Schaden von weniger als 200 € ernsthaft in Betracht, von der Entfernung aus dem Beamtenverhältnis abzusehen (Beschluss vom 23. Februar 2012 a.a.O. Rn. 13). Lässt sich nach erschöpfender Sachaufklärung das Vorliegen eines mildernden Umstands nicht ohne vernünftigen Zweifel ausschließen, ist dieser Umstand nach dem Grundsatz “in dubio pro reo” in die Gesamtwürdigung einzustellen. Er tritt zu einem anerkannten Milderungsgrund hinzu oder verstärkt das Gewicht der Umstände, die das Fehlen eines derartigen Grundes kompensieren können (Urteile vom 3. Mai 2007 a.a.O. Rn. 17 und vom 29. Mai 2008 – BVerwG 2 C 59.07 – Buchholz 235.1 § 70 BDG Nr. 3 Rn. 27; Beschluss vom 23. Februar 2012 a.a.O. Rn. 14).
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Die auch bei Zugriffsdelikten gebotene prognostische Gesamtwürdigung aller be- und entlastenden Umstände folgt aus dem Zweck der Disziplinarbefugnis als einem Mittel der Funktionssicherung des öffentlichen Dienstes. Danach ist Gegenstand der disziplinarrechtlichen Betrachtung und Wertung die Frage, welche Disziplinarmaßnahme in Ansehung der gesamten Persönlichkeit des Beamten (§ 13 Abs. 1 Satz 3 BDG) geboten ist, um die Funktionsfähigkeit des öffentlichen Dienstes und die Integrität des Berufsbeamtentums möglichst ungeschmälert aufrechtzuerhalten (Urteil vom 3. Mai 2007 a.a.O. Rn. 16; Beschluss vom 23. Februar 2012 a.a.O. Rn. 12).
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Eine erhebliche Verminderung der Schuldfähigkeit des Beamten im Sinne von §§ 20, 21 StGB zur Tatzeit stellt einen mildernden Umstand dar, der die Entfernung aus dem Beamtenverhältnis regelmäßig ausschließt (Urteile vom 3. Mai 2007 a.a.O. Rn. 30 f. und vom 25. März 2010 – BVerwG 2 C 83.08 – BVerwGE 136, 173 Rn. 29 f., Rn. 34). Dies kann für psychische Erkrankungen ohne Auswirkungen auf die Schuldfähigkeit nicht in gleicher Weise gelten. Sie sind in die Gesamtwürdigung nach § 13 Abs. 1 Satz 2 BDG einzustellen, wobei ihre Bedeutung von den Umständen des Einzelfalles abhängt. Davon ist auch das Oberverwaltungsgericht ausgegangen.
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3. Die vom Beklagten aufgeworfene Frage,
ob eine Beschränkung des Disziplinarverfahrens nach § 56 BDG auch noch im Urteil erfolgen kann,
rechtfertigt ebenfalls nicht die Zulassung der Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung nach § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO, § 69 BDG). Die Frage könnte in einem Revisionsverfahren nicht beantwortet werden, weil das Verwaltungsgericht keine Beschränkung nach § 56 BDG vorgenommen hat.
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Nach § 56 Satz 1 BDG kann das Gericht das Disziplinarverfahren beschränken, indem es solche Handlungen ausscheidet, die für die Art und Höhe der zu erwartenden Disziplinarmaßnahme nicht oder voraussichtlich nicht ins Gewicht fallen. Die ausgeschiedenen Handlungen können nach Satz 2 nicht wieder in das Disziplinarverfahren einbezogen werden, es sei denn, die Voraussetzungen für die Beschränkungen entfallen nachträglich.
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§ 56 Satz 1 BDG ermöglicht aus Gründen der Verfahrensökonomie das Ausscheiden von Tathandlungen, deren Bedeutung für die Bestimmung der Disziplinarmaßnahme bereits während des anhängigen Verfahrens nach jeder Betrachtungsweise sicher ausgeschlossen werden kann. Dagegen ermöglicht es § 56 Satz 1 BDG nicht, dass das Gericht Vorwürfe nicht behandelt, weil es sie nach seiner Einschätzung für weniger schwerwiegend hält. Insbesondere darf es den Sach- und Streitstoff nicht verkürzen, indem es für einen Vorwurf oder einen Teil der Vorwürfe die Höchstmaßnahme verhängt. Die gesetzliche Beschränkungsmöglichkeit führt weder das Opportunitätsprinzip ein noch ermöglicht sie eine Beschränkung unter dem Gesichtspunkt der Verständigung der Beteiligten (“Deal”).
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Diese Auslegung des § 56 Satz 1 BDG ergibt sich aus Gesetzeswortlaut und -zweck. Die Regelung knüpft an den Grundsatz der Einheit des Dienstvergehens an. Nach diesem in § 77 Abs. 1 Satz 1 BBG verankerten Grundsatz begehen Beamte ein Dienstvergehen (Einzahl), wenn sie schuldhaft die ihnen obliegenden Pflichten (Mehrzahl) verletzen. Der gesetzliche Begriff des Dienstvergehens umfasst alle disziplinarrechtlich bedeutsamen Dienstpflichtverletzungen des Beamten. Diese werden durch eine einheitliche Disziplinarmaßnahme geahndet, die aufgrund des Verhaltens und der Persönlichkeit des Beamten zu bestimmen ist (Urteile vom 14. Februar 2007 – BVerwG 1 D 12.05 – BVerwGE 128, 125 Rn. 22 = Buchholz 232 § 77 BBG Nr. 26 und vom 28. Juli 2011 – BVerwG 2 C 16.10 – BVerwGE 140, 185 Rn. 19). Der Grundsatz bringt zum Ausdruck, dass Gegenstand der disziplinarrechtlichen Betrachtung und Wertung die Frage ist, ob ein Beamter, der in vorwerfbarer Weise gegen Dienstpflichten verstoßen hat, nach seiner Persönlichkeit noch im Beamtenverhältnis tragbar ist und falls das zu bejahen ist, durch welche Disziplinarmaßnahme auf ihn eingewirkt werden muss, um weitere Pflichtenverstöße zu verhindern (stRspr; vgl. zuletzt Urteil vom 28. Februar 2013 – BVerwG 2 C 62.11 – Rn. 34 m.w.N., zur Veröffentlichung in der Entscheidungssammlung Buchholz vorgesehen). Der Grundsatz der Einheit des Dienstvergehens verlangt, dass über alle Pflichtverletzungen grundsätzlich eine einheitliche Maßnahme bestimmt wird.
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Allerdings hat der Disziplinarsenat des Bundesverwaltungsgerichts für die Berufungsinstanz aus prozessökonomischen Gründen zugelassen, dass nicht alle Tatvorwürfe geprüft werden müssen, wenn bereits einzelne festgestellte Pflichtverletzungen die Verhängung der disziplinaren Höchstmaßnahme gebieten (Urteil vom 27. November 1996 – BVerwG 1 D 28.95 – BVerwGE 113, 32 ).
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Die Beschränkungsmöglichkeit nach § 56 Satz 1 BDG bezweckt in Anknüpfung an die hierzu ergangene Rechtsprechung die Beschleunigung der Disziplinarverfahren durch die instanzenübergreifende Möglichkeit, einzelne Handlungen auszuscheiden, die für die zu erwartende Disziplinarmaßnahme voraussichtlich nicht ins Gewicht fallen (BTDrucks 14/4659 S. 40 und S. 49). Das Disziplinarverfahren soll von überflüssigem Ballast befreit werden können, muss aber weiterhin die gebotene Gesamtwürdigung der Persönlichkeit des Beamten (vgl. § 13 BDG) ohne Abstriche ermöglichen.
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Das Verwaltungsgericht hat das gerichtliche Disziplinarverfahren nicht auf den von ihm geprüften Tatvorwurf beschränkt. Es hat weder § 56 BDG zitiert noch ausdrücklich eine Beschränkung ausgesprochen, sondern ausgeführt, dass eine abschließende Feststellung, ob der Beklagte in insgesamt 30 Fällen widerrechtlich Briefe geöffnet und hieraus insgesamt 210 € Bargeld entnommen habe, entbehrlich sei, weil er hinsichtlich des Fangbriefes zweifelsfrei überführt sei. Es hat nicht zuvor auf eine etwaige Absicht einer Beschränkung hingewiesen, wozu es im Hinblick auf die erforderliche Gewährung des rechtlichen Gehörs, Art. 103 Abs. 1 GG, § 108 Abs. 2 VwGO, verpflichtet gewesen wäre, wenn es denn hätte beschränken wollen.
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Im Übrigen kann nicht zweifelhaft sein, dass die Nichtbehandlung von 29 von 30 Tatvorwürfen von § 56 Satz 1 BDG nicht gedeckt gewesen wäre. Die Auffassung des Verwaltungsgerichts, der als erwiesen erachtete Tatvorwurf gebiete die Entfernung aus dem Beamtenverhältnis, ist im Rahmen des § 56 Satz 1 BDG unbeachtlich. Dies folgt daraus, dass eine abweichende Gesamtwürdigung des vom Verwaltungsgericht festgestellten Sachverhalts, in Ansehung der Persönlichkeit des Beklagten, jedenfalls ernsthaft in Betracht kam.
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4. Schließlich liegt auch der geltend gemachte Zulassungsgrund eines Verfahrensmangels im Sinne von § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO, § 69 BDG wegen Verstoßes gegen § 86 Abs. 1 VwGO, § 3 BDG nicht vor.
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Der Beklagte rügt als Verfahrensmangel, dass es das Oberverwaltungsgericht unterlassen habe, den Kammervorsitzenden des Verwaltungsgerichts dazu anzuhören, ob das Verwaltungsgericht das Disziplinarverfahren beschränkt hat; deshalb sei das Oberverwaltungsgericht zu dem unzutreffenden Ergebnis gekommen, dass das Verwaltungsgericht keine Beschränkung des Disziplinarverfahrens vorgenommen habe. Damit kann er ersichtlich nicht durchdringen. Eine derartige Anhörung hätte nichts zur Entscheidungsfindung beitragen können. Die Frage, ob das Verwaltungsgericht eine Beschränkung nach § 56 Satz 1 BDG vorgenommen hat, ist ausschließlich aufgrund der gerichtlichen Entscheidungen zu beantworten. Ein mitwirkender Richter kann nicht im Nachhinein erläutern, welche Entscheidungen das Gericht getroffen hat bzw. welchen Inhalt sie haben.