Verwaltungsrecht

Britische Staatsangehörige, Verwaltungsgerichte, Vaterschaftsanerkennung, Bewilligung von Prozesskostenhilfe, Staatsangehörigkeitsfragen, Deutsches Staatsangehörigkeitsrecht, Zulassungsverfahren, Europäische Atomgemeinschaft, Aufenthaltsbeendigung, Übergangsregelung, Begründungsfrist, Rechtsmittelverfahren, Erstinstanzlicher Vortrag, Übergangszeitraum, Gleichstellungsauftrag, Streitwert, Berufungsverfahren, Hauptsacheverfahren, Beiordnung, Zustellung des Beschlusses

Aktenzeichen  10 ZB 20.2829

Datum:
1.3.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 6079
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO § 124 Abs. 2 Nr. 1
AufenthG §§ 53 ff.
Art. 20 des Abkommens über den Austritt des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland aus der Europäischen Union und der Europäischen Atomgemeinschaft (2019/C 384 I/01)

 

Leitsatz

Verfahrensgang

M 12 K 20.657 2020-07-23 Urt VGMUENCHEN VG München

Tenor

I. Die Berufung wird zugelassen.
II. Der Streitwert wird vorläufig auf 15.000,– Euro festgesetzt.
III. Dem Kläger wird für das Rechtsmittelverfahren Prozesskostenhilfe unter Beiordnung von Rechtsanwältin K., D. bewilligt.

Gründe

Der Antrag auf Zulassung der Berufung ist zulässig und begründet, weil ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils bestehen (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO).
Nach dem Zulassungsvorbringen ist ernsthaft zweifelhaft, ob die Regelungen des Aufenthaltsgesetzes auf den Kläger überhaupt anwendbar sind, denn es spricht manches dafür, dass es sich bei ihm um einen britischen Staatsangehörigen handelt. Das Verwaltungsgericht hat die britische Staatsangehörigkeit des Klägers im Wesentlichen aufgrund einer E-Mail der Prokonsulin des britischen Generalkonsulats in München vom 22. Juli 2020 verneint. Der Kläger sei ein außerhalb des Vereinigten Königreiches geborenes, im Sinne des britischen Staatsangehörigkeitsrechts „illegitimes“ Kind eines britischen Staatsangehörigen und habe daher lediglich die Möglichkeit, den (konstitutiven) Erwerb der britischen Staatsangehörigkeit durch Registrierung zu beantragen. Dabei ist das Erstgericht jedoch vom Kläger vorgetragenen Hinweisen nicht nachgegangen, dass das britische Recht für vor dem Jahr 2006 als Kinder unverheirateter Eltern geborener Personen im Hinblick auf die Legitimität der Abstammung auf das Recht des Aufenthaltsortes im Zeitpunkt der Geburt abstellt und das deutsche Abstammungsrecht in § 1592 BGB – anders als andere Rechtsordnungen – keine „illegitimen“ Kinder kennt (s. auch Art. 6 Abs. 5 GG; vgl. zu den Folgen des verfassungsrechtlichen Gleichstellungsauftrages für das deutsche Staatsangehörigkeitsrecht BVerfG, B.v. 20.5.2020 – 2 BvR 2628/18 – juris). So hat der Kläger zur Untermauerung seines entsprechenden erstinstanzlichen Vortrags im Zulassungsverfahren insbesondere ein Rechtsgutachten eines auf Staatsangehörigkeitsfragen spezialisierten englischen Rechtsanwalts vorgelegt, das zu dem Ergebnis gelangt, dass der Kläger seit seiner Geburt britischer Staatsangehöriger ist. Auch eine Handreichung des britischen Home Office („Nationality policy: children of unmarried parents“ vom 13.3.2019) weist auf die legitimierende Wirkung der Vaterschaftsanerkennung nach deutschem Recht (§ 1592 Nr. 2 BGB) hin („The child´s legitimacy requires the additional legal act of the father´s acknowledgement of paternity“). Soweit die Beklagte insofern einwendet, dass die Vaterschaftsanerkennung erst mit der Zustimmung der Kindsmutter im Februar 2020 und damit nach Erlass des angefochtenen Bescheids wirksam geworden sei, folgt daraus nicht, dass der Kläger im Zeitpunkt des Bescheidserlasses rechtlich betrachtet kein britischer Staatsangehöriger gewesen wäre, denn die Vaterschaftsanerkennung wirkt auf den Zeitpunkt der Geburt zurück (Balzer in BeckOGK, Stand 1.2.2021, § 1592 BGB Rn. 98; Wellenhofer, Münchner Kommentar zum BGB, 8. Aufl. 2020, § 1592 Rn. 15). Verbleibende Fragen im Hinblick auf den Erwerb der britischen Staatsangehörigkeit des Klägers bedürfen jedenfalls der Klärung in einem Hauptsacheverfahren.
Die Frage der britischen Staatsangehörigkeit des Klägers kann im Rahmen des Zulassungsverfahren nicht deswegen dahinstehen, weil das Vereinigte Königreich mittlerweile aus der Europäischen Union ausgetreten ist. Nach den insofern einschlägigen Übergangsregelungen in Art. 20 Abs. 1 und 2 des Abkommens über den Austritt des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland aus der Europäischen Union und der Europäischen Atomgemeinschaft (2019/C 384 I/01 – im Folgenden: Austrittsabkommen) richtet sich die Frage des einschlägigen Aufenthaltsbeendigungsregimes danach, ob das „Verhalten“ eines britischen Staatsangehörigen, das Anlass für die Aufenthaltsbeendigung bietet, vor oder nach dem Ende des Übergangszeitraums am 31. Dezember 2020 „stattgefunden hat“. Für die hier vorliegende Konstellation könnte dies bedeuten, dass auf den Kläger, dessen nachweisbares sicherheitsgefährdendes Verhalten im Wesentlichen im Jahr 2018 und insgesamt – soweit ersichtlich – längstens bis Ende 2019 und damit vor Ende des Übergangszeitraums stattgefunden hat, gem. Art. 20 Abs. 1 und 2 Austrittsabkommen am Maßstab von Kapitel VI der RL 2004/38/EG zu messen war. Was im Sinne der Übergangsregelungen das maßgebliche „Verhalten“ ist und ob mit dem Verweis auf Kapitel VI der RL 2004/38/EG nur die verfahrensrechtlichen und materiellen Anforderungen der Richtlinie gemeint sind oder ob unmittelbar das FreizügG/EU Anwendung findet (in diesem Sinne wohl BMIBH, Anwendungshinweise zur Umsetzung des Austrittsabkommens Vereinigtes Königreich – Europäische Union des Bundesministeriums des Innern, für Bau und Heimat zum vom 6. November 2020, Ziffer 15.2.3.), kann im Rahmen des vorliegenden Zulassungsverfahren nicht abschließend entschieden werden. Damit kann derzeit nicht ausgeschlossen werden, dass die Entscheidung des Verwaltungsgerichts auf den mit schlüssigen Argumenten in Frage gestellten Annahmen zur Staatsangehörigkeit des Klägers beruht.
Die Bewilligung von Prozesskostenhilfe beruft auf § 166 Abs. 1 VwGO i.V.m. § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO und § 121 Abs. 1 ZPO.


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