Verwaltungsrecht

einstweilige Anordnung, Duldung, rechtliche Unmöglichkeit, Pflegebedürftigkeit

Aktenzeichen  W 7 E 20.2127

Datum:
1.2.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 7905
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Würzburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO § 123
AufenthG § 60a Abs. 2 S. 1

 

Leitsatz

Tenor

I. Der Antrag wird abgelehnt.
II. Die Kosten des Verfahrens haben die Antragsteller zu tragen.
III. Der Streitwert wird auf 7.500,00 EUR festgesetzt.
IV. Der Antrag auf Prozesskostenhilfe und Anwaltsbeiordnung wird abgelehnt.

Gründe

I.
1. Die Antragsteller sind ukrainische Staatsangehörige. Der 17jährige Antragsteller zu 2) und der vierjährige Antragsteller zu 3) sind die Söhne der Antragstellerin zu 1). Mit Entscheidung des Bundesverwaltungsamtes vom 11. Mai 2001 wurde der Antragstellerin zu 1) die Aufnahme als jüdische Emigrantin aus der ehemaligen Sowjetunion in die Bundesrepublik Deutschland zugesagt. Sie reiste erstmals am 1. August 2002 in die Bundesrepublik Deutschland ein. Am 5. August 2002 wurde ihr eine Statusbescheinigung nach § 1 Abs. 1 des Kontingentflüchtlingsgesetzes erteilt. Am 7. August 2002 erhielt sie eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis.
Am … … 2003 wurde der Antragsteller zu 2) in W. geboren. Dessen Vater lebt im Bundesgebiet und ist inzwischen deutscher Staatsangehöriger. Eine volljährige Tochter sowie die Mutter der Antragstellerin zu 1) leben ebenfalls im Bundesgebiet.
Am 4. Mai 2016 teilte die Antragstellerin zu 1) der Antragsgegnerin mit, sie beabsichtige, in die Ukraine zurückzukehren. Am 7. Mai 2016 reiste sie gemeinsam mit dem Antragsteller zu 2) in die Ukraine aus. Hier wurde am … … 2016 der Antragsteller zu 3) geboren, dessen Vater ein in der Ukraine lebender ukrainischer Staatsangehöriger ist. Am 16. April 2018 reiste die Antragstellerin zu 1) gemeinsam mit den Antragstellern zu 2) und 3) erneut in die Bundesrepublik Deutschland ein und beantragte am 18. April 2018 die Erteilung von Aufenthaltserlaubnissen.
Mit Bescheid vom 20. August 2018 lehnte die Antragsgegnerin die Erteilung der Aufenthaltserlaubnisse ab. Gegen diesen Bescheid wurde Klage zum Verwaltungsgericht Würzburg erhoben (Az.: W 7 K 18.1215) und gleichzeitig beantragt, die aufschiebende Wirkung der Klage gegen den Bescheid vom 20. August 2018 anzuordnen (Az.: W 7 S 18.1216). Der einstweilige Rechtsschutz blieb im Ergebnis erfolglos (VG Würzburg, B.v. 5.11.2018 – W 7 S 18.1216 und B. 14.2.2019 – W 7 S 18.1662, BayVGH, B.v. 12.11.2020 – 19 CS 19.475). Der Bescheid vom 20. August 2018 wurde mit Bescheid der Antragsgegnerin vom 22. November 2018 zurückgenommen, die Erteilung von Aufenthaltserlaubnissen für die Antragsteller erneut abgelehnt und die Abschiebung in die Ukraine angedroht. Daraufhin wurde das Verfahren W 7 K 18.1215 nach übereinstimmender Erledigterklärung eingestellt. Der Antragsteller zu 2) erhob gegen den Bescheid vom 22. November 2018 Klage und begehrt die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis, über die Klage ist noch nicht entschieden ist (W 7 K 18.1661).
Am 1. Februar 2019 verließen die Antragsteller (erneut) das Bundesgebiet. Am 3. Mai 2019 beantragten die Antragsteller zu 1) und 3) bei der deutschen Botschaft in Kiew die Erteilung von Visa. Dies wurde mit Bescheid vom 8. Mai 2019 abgelehnt. Hiergegen erhoben die Antragsteller zu 1) und 3) Klage zum Verwaltungsgericht Berlin (Az.: VG 29 K 107.19 V), die nach Ablehnung des Antrags auf Gewährung einstweiligen Rechtschutzes (B.v. 16.9.2019 – VG 29 L 121.19 V) zurückgenommen wurde.
Seit dem 10. Mai 2019 befinden sich die Antragsteller erneut im Bundesgebiet. Die Antragstellerin zu 1) pflegt ihre Mutter. Mit Beschluss des Amtsgerichts Würzburg vom 3. April 2020 wurde sie zu deren Betreuerin bestellt.
Mit Beschluss vom 14. September 2020 – W 7 E 20.1053 – ordnete das Verwaltungsgericht Würzburg aufgrund des damaligen Gesundheitszustandes des Antragstellers zu 2) an, die Antragsgegnerin zu verpflichten, die Abschiebung der Antragsteller zu 1) und 3) vorläufig für die Dauer von drei Monaten auszusetzen und diesen eine Duldung zu erteilen. Die daraufhin erteilte Duldung war bis 21. Dezember 2020 gültig. Der Antragsteller zu 2) ist nach Aussage seiner Bevollmächtigten wieder vollständig genesen. Er ist im Besitz einer bis 14. Mai 2021 gültigen Duldung mit der Nebenbestimmung „erlischt mit der Bekanntgabe des Ausreise- oder Abschiebungstermins“. Die Antragsgegnerin hat den Antragstellern am 21. Dezember 2020 Grenzübertrittsbescheinigungen ausgestellt und eine Ausreisefrist bis zum 8. Januar eingeräumt, diese wurde im Hinblick auf das vorliegende Verfahren bis zum 19. Februar 2021 verlängert.
2. Mit Schriftsatz ihrer Bevollmächtigten vom 18. Dezember 2020, beim Bayerischen Verwaltungsgericht Würzburg eingegangen am 21. Dezember 2020, ließen die Antragsteller beantragen,
die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, die Abschiebung der Antragsteller vorläufig „zeitweise“ auszusetzen und diesen eine Duldung zu erteilen.
Zur Begründung wurde unter Bezugnahme auf die vorgelegten ärztlichen Atteste darauf verwiesen, dass die Mutter der Antragstellerin zu 1) pflegebedürftig und dringend auf deren Pflege angewiesen sei. Der Gesundheitszustand habe sich stetig verschlechtert und die engmaschig erforderliche Pflege werde durch die Antragstellerin zu 1) erbracht. Aus einem Gutachten des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherungen in Bayern (MDK) vom 5. Juni 2018, gehe hervor, dass bei der Mutter der Antragstellerin zu 1) seit dem 1. Mai 2018 Pflegegrad 3 erfüllt sei. Auch liege ein Grad der Behinderung von 90 vor. Die volljährige Tochter der Antragstellerin zu 1) sei nicht in der Lage und nicht willens, die Mutter der Antragstellerin zu 1) zu pflegen, da sie dies schon zeitlich neben ihrer Ausbildung sowie einem Nebenjob nicht schaffe. Auf eine Sicherstellung der Pflege durch die öffentliche Hand käme es nicht an, hierauf müsse sich die Antragstellerin zu 1) nicht verweisen lassen. Der Antragsteller zu 2) sei in Deutschland geboren und habe auch nach der Bestimmung der elterlichen Sorge seinen gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland. Er lebe zwar nicht bei seinem Vater, die Beziehung sei jedoch trotzdem schützenswert. Darüber hinaus sei ihm aufgrund seiner Legasthenie eine schulische Weiterbildung oder Ausbildung in der Ukraine nicht möglich, da er die kyrillische Schrift nicht mehr erlernen könne. Der Antragsteller zu 2) habe einen Anspruch auf eine Aufenthaltserlaubnis nach § 37 AufenthG. Es überwiege somit das Interesse der Antragsteller an der Aussetzung der Abschiebung. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Antragsschrift vom 18. Dezember 2020 sowie die zur Glaubhaftmachung des Antrages vorgelegten Anlagen verwiesen.
Die Antragsgegnerin beantragte,
den Antrag abzulehnen.
Zur Begründung wurde im Wesentlichen auf das Vorbringen in den Verfahren W 7 K 18.1215, W 7 S 18.1216, W 7 K 18.1661, W 7 S 18.1662, W 7 E 20.83, W 7 E 20.1053 und 19 CS 19.475 verwiesen, sowie auf den Bescheid vom 22. November 2018, mit dem die Erteilung der Aufenthaltserlaubnisse abgelehnt wurde. Duldungsgründe seien nicht ersichtlich. Es sei zum einen nicht ersichtlich, weshalb die Pflege der Mutter nur durch die Antragstellerin zu 1) und nicht durch einen ambulanten Pflegedienst erfolgen könne, eine außergewöhnliche Härte sei hier nicht erkennbar. Das Vorbringen der Antragstellerin zu 1) sei außerdem widersprüchlich, da sie einerseits ihren Lebensunterhalt durch eine Vollzeitausbildung sicherstellen wolle, andererseits aber vortrage, die Pflege der Mutter sei so aufwändig, dass dies nur durch sie selbst gewährleistet werden könne, ihre Tochter könne dies neben ihrer Vollzeitausbildung nicht. Auch könne die Betreuereigenschaft eine Ausreise nicht hindern, einen Teil der Betreuertätigkeiten könne die Antragstellerin zu 1) auch aus dem Ausland wahrnehmen. Auch die Legasthenie des Antragstellers zu 2) oder die Beziehung zu seinem Vater stelle keinen Duldungsgrund dar, hierzu werde auf das Verfahren 19 CS 19.475 vor dem Bayerischen Verwaltungsgerichtshof verwiesen. Zum weiteren Vorbringen wird auf den Schriftsatz der Antragsgegnerin vom 26. Januar 2021 verwiesen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhaltes und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte, auch in den Verfahren W 7 K 18.1215, W 7 S 18.1216, W 7 K 18.1661, W 7 S 18.1662, W 7 E 20.83 und W 7 E 20.1053, des Verfahrens 19 CS 19.475 vor dem Bayerischen Verwaltungsgerichtshof sowie der beigezogenen Behördenakten Bezug genommen.
II.
Der Antrag der Antragsteller, die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, einstweilen von dem Vollzug aufenthaltsbeendender Maßnahmen abzusehen und diesen eine Duldung zu erteilen ist zulässig, aber unbegründet.
1. Nach § 123 Abs. 1 VwGO kann das Gericht auf Antrag eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustandes die Verwirklichung eines Rechts der Antragsteller vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Einstweilige Anordnungen sind auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn diese Regelung nötig erscheint, um wesentliche Nachteile abzuwenden. Voraussetzung für eine einstweilige Anordnung ist demnach das Vorliegen eines Rechts, dessen Sicherung die Anordnung dient (Anordnungsanspruch) sowie die drohende Vereitelung oder Erschwerung dieses Anspruchs (Anordnungsgrund). Anordnungsgrund und Anordnungsanspruch sind von den Antragstellern glaubhaft zu machen (§ 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 920 Abs. 2 ZPO).
Es mangelt vorliegend an der Glaubhaftmachung eines Anordnungsanspruchs.
Gemäß § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG ist die Abschiebung eines Ausländers auszusetzen, solange die Abschiebung aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen unmöglich ist und keine Aufenthaltserlaubnis erteilt wird. Es bestehen keine Anhaltspunkte für eine tatsächliche Unmöglichkeit der Abschiebung der Antragsteller.
Die rechtliche Unmöglichkeit der Abschiebung der Antragsteller wurde ebenfalls nicht glaubhaft gemacht. Sie ergibt sich weder aus der Tatsache, dass die Antragstellerin zu 1) ihre Mutter pflegt noch aus der Legasthenie des Antragstellers zu 2).
Eine rechtliche Unmöglichkeit der Abschiebung im Sinne dieser Bestimmung liegt vor, wenn sich etwa aus unmittelbar anwendbarem Unionsrecht, innerstaatlichem Verfassungsrecht oder einfachem Gesetzesrecht sowie in innerstaatliches Recht inkorporiertem Völker- und Völkervertragsrecht ein inlandsbezogenes Abschiebungshindernis ergibt (vgl. OVG Lüneburg, B.v. 22.8.2017 – 13 ME 213/17 – juris Rn. 3; BayVGH, B.v. 27.11.2018 – 19 CE 17.550 – juris Rn. 29).
1.1. Eine rechtliche Unmöglichkeit als Abschiebungshindernis im Sinne des § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG kann sich durch eine (unzumutbare) Trennung einer familiären Lebensgemeinschaft in Form einer Beistandsgemeinschaft nach Art. 6 GG bzw. Art. 8 EMRK ergeben (BVerfG NVwZ 2009, 387). Art. 6 Abs. 1 GG verpflichtet den Staat, Ehe und Familie zu schützen und zu fördern. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (z.B. B. v. 8.12.2005 – 2 BvR 1001/04 – juris) gewährt Art. 6 Abs. 1 GG keinen unmittelbaren Anspruch auf Aufenthalt. Die Vorschrift verpflichtet als wertentscheidende Grundsatznorm die Ausländerbehörde jedoch, bei der Entscheidung über aufenthaltsbeendende Maßnahmen die familiären Bindungen eines Ausländers an sich im Bundesgebiet berechtigterweise aufhaltende Personen pflichtgemäß, d.h. entsprechend dem Gewicht dieser Bindungen, in ihren Erwägungen zur Geltung zu bringen (vgl. BVerfG, B.v. 17.5.2011 – 2 BvR 1367/10 – InfAuslR 2011, 1133 = NVwZ-RR 2011, 286). Schutzwirkungen entfaltet Art. 6 Abs. 1 GG jedoch nicht bereits aufgrund formal-rechtlicher Bindungen; vielmehr ist die tatsächliche Verbundenheit zwischen den Familienmitgliedern entscheidend, die in einer Beistands- oder Erziehungsgemeinschaft zum Ausdruck kommt und die von der bloßen Begegnungsgemeinschaft abzugrenzen ist (BVerfG, B. v. 8.12.2005 a.a.O.).
Nicht jede familiäre Beziehung führt zu einer rechtlichen Unmöglichkeit der Abschiebung (VGH BW, InfAuslR 2001, 381 f.), vielmehr muss im Einzelfall eine unzumutbare Beeinträchtigung der Familieneinheit durch die (vorübergehende) Trennung von Familienangehörigen vorliegen, wie bspw. im Falle der Trennung kleiner Kinder von ihren Eltern oder auch bei kranken und pflegebedürftigen Familienangehörigen (BVerfG, BeckRS 1999, 22630; VGH BW, InfAuslR 2001, 381, 382).
Für die Frage der rechtlichen Unmöglichkeit der Ausreise der Antragsteller kommt es darauf an, ob die familiäre Bindung der Antragstellerin zu 1), wie sie sich durch die tatsächliche Übernahme der Pflege und Verantwortung für ihre Mutter unter Berücksichtigung deren tatsächlichen Pflegebedürftigkeit darstellt, das öffentliche Interesse an der Ausreise der Antragsteller überwiegt.
Die Mutter der Antragstellerin zu 1) ist in Pflegegrad 3 eingestuft, die Antragstellerin zu 1) wurde als Betreuerin bestellt und übernimmt seit ihrer Wiedereinreise im Mai 2018 tatsächlich die Betreuung und Pflege ihrer Mutter. Die Bestellung als Betreuerin vermittelt der Antragstellerin zu 1) kein Aufenthaltsrecht, sondern dient ausschließlich der Wahrnehmung der Belange der Pflegebedürftigen. Die Betreuung könnte sie – wie die Antragsgegnerin zutreffend ausführt – auch zumindest in Teilbereichen vom Ausland aus wahrnehmen, ergänzend könnte eine weitere Betreuungsperson oder ein Berufsbetreuer bestellt werden.
Durch die tatsächliche Übernahme der Pflege durch die Antragstellerin zu 1) besteht zwischen ihr und ihrer Mutter eine schützenswerte Beistandsgemeinschaft unter volljährigen Familienangehörigen in gerader Linie. Dabei sind die Konsequenzen der Aufenthaltsbeendigung für die pflegebedürftige Person zu berücksichtigen (vgl. BVerfG B.v. 27.8.2010 – BvR 130/10, juris Rn. 43 ff.).
Nach Angaben der Antragsteller hat die Pflegebedürftigkeit der Mutter in den letzten Jahren zugenommen, die Antragstellerin zu 1) hat die tatsächliche Pflege und Betreuung übernommen; die Tochter der Antragstellerin zu 1) befindet sich in einem Vollzeit-Ausbildungsverhältnis und ist verheiratet, sodass diese die Pflege nach eigenen Angaben nicht allein bewältigen kann. Zu berücksichtigen ist aber auch, dass die Mutter der Antragstellerin zu 1) schon seit geraumer Zeit pflegebedürftig ist und diese dennoch im Mai 2016 in die Ukraine ausgereist ist, um dort mit ihrem neuen Lebenspartner, dem Vater des Antragstellers zu 3), eine familiäre Gemeinschaft zu leben mit der Folge des Erlöschens ihres Aufenthaltstitels. Während dieser Zeit musste die Mutter der Antragstellerin zu 1) ohne deren Unterstützung auskommen. Die Antragsteller haben zwar geltend gemacht, ihr Gesundheitszustand habe sich stetig verschlechtert, inzwischen sei Pflegegrad 3 festgestellt worden; jedoch haben sie die konkrete Verschlechterung des Gesundheitszustandes in der Zeit seit der Ausreise der Antragsteller bis zur Wiedereinreise 2018 nicht dargelegt. Im sozialmedizinischen Gutachten vom 5. Juni 2018 (Präventions- und Rehabilitationsempfehlungen auf der Basis der Informationen der Pflegebegutachtung nach SGB XI) sind als pflegebegründende Diagnosen angeführt: „Karzinoid linker Unterlappen, Resektion, mit Belastungsminderung und Atemnot (keine Angstzustände); Morbus Parkinson mit Bewegungseinschränkung; Gonarthrose mit Bewegungseinschränkung; Coxarthrose mit Bewegungseinschränkung; Harninkontinenz mit Einlagen versorgt; Osteoporose mit Bewegungseinschränkung“. Im Gutachten zur Feststellung der Pflegebedürftigkeit gemäß SGB XI (Pflegeaufwand der Pflegepersonen) vom selben Tag wurde die Pflegebedürftigkeit in Pflegegrad 3 seit 1. Mai 2018 festgestellt. Pflegegrad 3 stellt die mittlere der fünf Pflegebedarfsstufen dar, die anhand der Kriterien: Mobilität, Kognitive und kommunikative Fähigkeiten, Verhaltensweisen und psychische Problemlagen, Selbstversorgung, Bewältigung und selbstständiger Umgang mit krankheits- oder therapiebedingten Anforderungen und Belastungen und Gestaltung des Alltagslebens und sozialer Kontakte, nach einem Punktesystem festgestellt werden und bedeutet eine schwere Beeinträchtigung der Selbständigkeit oder der Fähigkeiten (§ 15 Abs. 2 Nr. 4 SGB XI). Es wurde ein Pflegeaufwand von wenigstens zehn Stunden verteilt auf regelmäßig mindestens zwei Tage festgestellt. Welche konkreten Aufgaben und Pflegeleistungen die Antragstellerin zu 1) für wie viele Stunden pro Woche leistet, wurde jedoch nicht glaubhaft gemacht. Auch wurde nicht im Einzelnen dargelegt, wieso die Mutter der Antragstellerin zu 1) gerade seit Mai 2018, also zum Zeitpunkt der Wiedereinreise, im Gegensatz zum Zeitpunkt der Ausreise 2016 ausschließlich auf die Unterstützung der Antragstellerin zu 1) angewiesen sein soll. In einem ärztlichen Attest vom 2. Oktober 2019 wird pauschal ausgeführt, dass „Frau K. bei Pflegegrad III und bei schweren, irreversiblen Erkrankungen mit körperlicher und geistiger Störung auf 24-Stunde-Betreuung angewiesen“ sei. Dem steht die Aussage der Antragstellerin zu 1) entgegen, sie plane in Vollzeit eine Ausbildung zu absolvieren. Denn dies wäre nur möglich, wenn der Pflegebedarf der Mutter während ihrer ausbildungsbedingten Abwesenheit über den Großteil des Tages anderweitig sichergestellt wäre.
Zwar gebietet der Schutz der grundrechtlich durch Art. 6 Abs. 1 GG geschützten familiären Beistandsgemeinschaft, dass nicht ohne weiteres auf die Pflege durch die öffentliche Hand oder die in … lebende Tochter der Antragstellerin zu 1) verwiesen werden darf, um die Belange der Pflegebedürftigen sicherzustellen. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts kommt es auch im Falle einer Beistandsgemeinschaft unter volljährigen Familienmitgliedern für die aufenthaltsrechtlichen Schutzwirkungen des Art. 6 Abs. 1 GG nicht darauf an, ob die von einem Familienmitglied erbrachte Lebenshilfe von anderen Personen erbracht werden kann (vgl. BVerfG, B.v. 12.12.1989 – 2 BvR 377/88 -, NJW 1990, S. 895, 896). Die Art und Weise der Pflege darf folglich nicht staatlicherseits vorgeschrieben werden, sondern ist weiterhin Teil der Autonomie der Pflegebedürftigen und des Grundrechts aus Art. 6 GG. Dies führt jedoch nicht automatisch zur rechtlichen Unmöglichkeit der Abschiebung, sondern erfordert, dass die Belange des Pflegebedürftigen angemessen zu berücksichtigen sind. Dem wird vorliegend dadurch Rechnung getragen, dass die Antragsgegnerin der Antragstellerin zu 1) mehrfach längere Zeiträume – aktuell erneut sechs Wochen bis zum 19. Februar 2021 – zur Planung der Betreuung, Organisation und Pflege der Mutter und deren Belange eingeräumt hat. Auch wird der Pflegebedürftigen nicht jedwede familiäre Unterstützung versagt. Ihre Enkelin ist nach wie vor in unmittelbarer Umgebung wohnhaft. Die Antragstellerin zu 1) kann weiterhin die Pflege der Mutter auch aus der Ukraine organisieren, auch ist die Vermögensbetreuung sowie die Planung der Pflege von dort möglich. Darüber hinaus bleibt es der Antragstellerin zu 1) unbenommen, sich im Wege der erlaubten visumsfreien Aufenthaltszeiten (90 Tage in einem Zeitraum von 180 Tagen) persönlich um die Mutter zu kümmern.
1.2 Auch aus der Legasthenie des Antragstellers zu 2) und dem Vortrag, er könne in der Ukraine keine Ausbildung beginnen, ergibt sich keine tatsächliche oder rechtliche Unmöglichkeit der Abschiebung. Zwar mag es dem Antragsteller zu 2) aufgrund seiner Lese- und Rechtschreibschwäche schwerer fallen, einen Ausbildungsberuf zu erlernen oder die weiterführende Schule zu besuchen, dies trifft jedoch auch bei einem weiteren Aufenthalt im Bundesgebiet zu.
Einen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis gem. § 37 AufenthG (Recht auf Wiederkehr) hat der Antragsteller zu 2) ebenfalls nicht glaubhaft gemacht. Das Verfahren auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis (W 7 K 18.1661) kann auch aus dem Ausland betrieben werden. Auf den Beschluss des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 12. November 2020 (19 CS 19.475 Rn. 10) wird Bezug genommen.
Eine rechtliche Unmöglichkeit im Sinne des § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG ist somit derzeit nicht glaubhaft gemacht, weshalb der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ohne Erfolg bleibt.
2. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Die Streitwertfestsetzung folgt aus §§ 52 Abs. 1 und Abs. 2, § 53 Abs. 2 Nr. 2, 63 Abs. 2 GKG.
III.
Der Antrag auf Gewährung von Prozesskostenhilfe und Anwaltsbeiordnung war abzulehnen, da der Antrag nach § 123 VwGO keine hinreichenden Erfolgsaussichten im Sinne von § 166 VwGO, § 114 Satz 1 ZPO hat.
Auch unter Berücksichtigung des spezifischen prozesskostenhilferechtlichen Erfolgsmaßstabs (vgl. hierzu BVerfG, B.v. 28.1.2013 – 1 BvR 274/12 – juris Rn. 11 ff.) und unter Berücksichtigung des Vortrags der Antragsteller sind keine hinreichenden Erfolgsaussichten gegeben, auf die obigen Ausführungen wird verwiesen.
Da es somit an der hinreichenden Erfolgsaussicht des Antrags auf einstweilige Anordnung der Erteilung der Ausbildungsduldung nach § 123 VwGO fehlt, kommt es auf das Tatbestandsmerkmal der Mutwilligkeit und auf die subjektiven Bewilligungsvoraussetzungen für die Gewährung von Prozesskostenhilfe nicht mehr an. Die Beiordnung eines Bevollmächtigten nach § 166 VwGO i.V.m. § 121 Abs. 2 ZPO kommt deshalb nicht in Betracht.


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