Verwaltungsrecht

Einstweiliger Rechtschutz (Stattgabe), Hilfe für junge Volljährige, Stationäre Unterbringung in einer teilbetreuten Wohngruppe

Aktenzeichen  M 18 E 21.3326

Datum:
30.6.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 20616
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
SGB VIII § 41
SGB VIII § 34

 

Leitsatz

Tenor

I. Der Antragsgegner wird verpflichtet, dem Antragsteller vorläufig weiterhin Hilfe für junge Volljährige in Form der stationären Unterbringung in der teilbetreuten Wohngruppe O. bis zum 30. September 2021 zu bewilligen. Im Übrigen wird der Antrag abgelehnt.
II. Die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahren tragen die Beteiligten je zur Hälfte.

Gründe

I.
Der Antragsteller begehrt im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes die Verpflichtung des Antragsgegners, ihm vorläufig weiterhin Hilfe für junge Volljährige in Form der stationären Unterbringung in einer teilbetreuten Wohngruppe zu bewilligen.
Der Antragsteller ist eritreischer Staatsangehöriger und am … … 2001 geboren. Im Jahr 2015 reiste er als unbegleiteter minderjähriger Flüchtling nach Deutschland ein und wurde am … … 2015 vom Jugendamt der … … in Obhut genommen. Nach Fallübernahme durch das Kreisjugendamt des Antragsgegners war der Antragsteller im Rahmen der §§ 27, 34 SGB VIII und nach Erreichen der Volljährigkeit nach §§ 41, 34 SGB VIII in verschiedenen Einrichtungen der Jugendhilfe untergebracht.
Zuletzt wurde dem Antragsteller mit Bescheid vom 11. Januar 2021 vom Antragsgegner Hilfe für junge Volljährige in Form der weiteren Unterbringung in der teilbetreuten Wohngruppe O., in welcher der Antragsteller seit dem … … 2020 wohnt, befristet bis zum … … 2021, gewährt.
Am 9. März 2021 fand ein telefonisches Hilfeplangespräch statt, an dem der Antragsteller, dessen Bezugsbetreuerin in der Wohngruppe O. sowie die zuständige Sachbearbeiterin beim Jugendamt des Antragsgegners teilnahmen. Zur aktuellen Situation des Antragstellers und zu etwaigen Unterstützungsbedarfen heißt es in dem darüber gefertigten Hilfeplanprotokoll, dass der Antragsteller seit dem 11. Januar 2021 über ein integratives Modell der Agentur für Arbeit seine Ausbildung zum Koch fortführen könne und sowohl mit der Tätigkeit als auch mit der Ausbildungsleiterin sehr zufrieden sei. Es sei bereits zurückgemeldet worden, dass der Antragsteller im praktischen Bereich sehr gute Leistungen zeige, dass jedoch im theoretischen Teil weiterführend großer Unterstützungsbedarf bestehe. Seine Ausbildungsleiterin sei jedoch davon überzeugt, dass im Rahmen dieser Ausbildungsform gute Rahmenbedingungen geschaffen werden würden, um die Ausbildung zu schaffen. Nach Auffassung des Antragsgegners sollten diesbezüglich dennoch Nachhilfeangebote und Unterstützungsformen insbesondere außerhalb der Jugendhilfe gesucht werden und eine feste Anbindung stattfinden, damit der Antragsteller auch ohne die Jugendhilfemaßnahmen seine Ausbildung bestehe. Des Weiteren beweise der Antragsteller bei der Einteilung seiner finanziellen Mittel Weitsicht und Verantwortungsbewusstsein. Auch die Organisation seiner Post, Verträge etc., sei ganz in seiner Verantwortung, welcher er verbindlich und pflichtbewusst nachkommen müsse. Es sei des Weiteren thematisiert worden, dass ein weiterer Ausbau seines sozialen Umfelds inklusive Ansprechpartner sehr wichtig sei, damit der Antragsteller nach Beendigung der Jugendhilfe wisse, an wen er sich bei Fragen und Problemen wenden könne. Diesbezüglich sei vereinbart worden, unterschiedliche Beratungsstellen zu kontaktieren und sich dort vorzustellen, um somit eine gute Anbindung zu gewährleisten. Abschließend sei darüber gesprochen worden, dass im weiteren Verlauf der Hilfe intensive Vorbereitungsmaßnahmen auf den Auszug aus der Wohngruppe erfolgen sollten und der Antragsteller zum 30. Juni 2021 in den eigenen Wohnraum oder in ein AEH-Projekt umziehen solle.
Im Rahmen einer Überprüfung der im letzten Hilfeplangespräch aufgestellten Ziele wurde des Weiteren u.a. festgestellt, dass das Ziel der Verselbständigung in alltäglichen Aufgaben und Herausforderungen nur teilweise erreicht worden sei. Das Ziel, sich insgesamt Gedanken über die Beendigung der Jugendhilfe und das Leben ohne Jugendhilfe zu machen, sei des Weiteren nicht erreicht worden. Als Ziele der aktuellen Hilfe wurden zudem die Vorbereitung auf den Auszug aus der teilbetreuten Wohngruppe in ein AEH-Projekt sowie u.a. die Vernetzung mit Ansprechpartnern außerhalb der Jugendhilfe, die Erstellung einer Übersichtsliste mit Kontaktdaten und die Vorstellung bei mindestens drei Beratungsstellen festgehalten.
Mit einem auf den 1. Mai 2021 datierten Antragsformular beantragte der Antragsteller beim Antragsgegner die Weitergewährung der Hilfe in Form der Unterbringung in der teilbetreuten Wohngruppe O. Zur Begründung führte der Antragsteller aus, er fühle sich noch nicht bereit, aus der Wohngruppe auszuziehen und bekomme Angst bei der Vorstellung, nicht mehr so viel Hilfe zu erhalten. Vor allem die Ausbildung mache ihm Sorgen. Vor ein paar Wochen habe er sich mit der Berufsschule so überfordert gefühlt, dass er kurz davor gewesen sei, alles abzubrechen. Die Unterstützung der Betreuer beim Lernen helfe ihm sehr, alleine könne er es momentan nicht schaffen; insbesondere der Online-Unterricht mache ihm große Schwierigkeiten. Er brauche noch ein halbes Jahr Zeit, um sich besser vorbereiten zu können und sich sicher in der Ausbildung zu fühlen. Dem Antrag beigefügt waren eine pädagogische Stellungnahme der teilbetreuten Wohngruppe O. vom 29. April 2021 sowie eine Stellungnahme des … … der Einrichtung vom … … 2021.
In der Stellungnahme der Wohngruppe wird insbesondere ausgeführt, dass die Einrichtung davon ausgehe, dass ein Abbruch der Jugendhilfe zum 30. Juni 2021 den Antragsteller stark destabilisieren würde. Dieser sei von der Mitteilung im letzten Hilfeplangespräch, dass die Jugendhilfemaßnahme voraussichtlich nicht weiter verlängert werden würde, sehr überrumpelt worden und verspüre diesbezüglich Angst und Unsicherheit. Der Antragsteller könne sich in einem vertrauten, sicheren Setting gut bewegen, für ein Leben außerhalb des geschützten Rahmens werde jedoch das Risiko eines Rückschritts in seiner Persönlichkeitsentwicklung gesehen. Bereits in der Vergangenheit sei festgestellt worden, dass der Antragsteller viel Vorlaufzeit benötige, um sich auf unvertraute, veränderte Lebenssituationen einzulassen. Ein sanfter Übergang mit Vorlaufzeit bis zu seinem 21. Lebensjahr Ende des Jahres würde daher stark befürwortet werden.
Insgesamt habe der Antragsteller während der Heimunterbringung sehr große Fortschritte in Richtung Selbstständigkeit gemacht, er zeige jedoch in vielen Bereichen seines Lebens noch Unterstützungsbedarf auf.
In seiner Ausbildung könne sich der Antragsteller im Praxisbereich unter Beweis stellen und gut mitarbeiten. Allerdings habe der Antragsteller einen enormen Bedarf im Hinblick auf Fachtheorie und Berufsschule, vor allem der Distanzunterricht stelle ihn vor neue Herausforderungen. Ohne die Unterstützung der Fachkräfte könne er momentan der geforderten Selbstdisziplin und Eigenverantwortung nicht gerecht werden. In Absprache mit der Ausbildungsleiterin sei eine feste Lernzeit in der Einrichtung im Rahmen eines Wochenplans festgelegt worden, um Wissenslücken aufzuholen. Vor ein paar Wochen sei der Antragsteller aufgrund seiner mangelnden Leistungen und dem Druck in der Berufsschule so frustriert gewesen, dass er die Ausbildung von heute auf morgen habe abbrechen wollen. In einem Gespräch mit der Ausbildungsstelle und seiner Bezugsbetreuerin habe der Antragsteller dann noch einmal überzeugt werden können, weiterhin durchzuhalten. Der Antragsteller sei insgesamt noch nicht ausreichend gefestigt in der Ausbildung angekommen; es bedürfe zusätzlich eines regelmäßigen Austausches zwischen Einrichtung und Ausbildungsbetrieb, damit der Antragsteller von beiden Seiten bestmöglich unterstützt werden könne. Es sei generell sehr auffällig, dass der Antragsteller weiterhin eine strikte Tagesstruktur brauche, um sich gut im Alltag zurechtzufinden. Auch fehle es ihm noch an Selbstantrieb und Durchhaltevermögen, schwierige und anstrengende Themen versuche er von sich zu schieben.
Der Antragsteller schaffe es immer besser, das Gespräch zu den Fachkräften zu suchen und für seine Bedürfnisse einzustehen. Konstante Bezugspersonen seien für ihn sehr wichtig, er schaffe es immer besser, offen über sich und seine Gedanken zu sprechen. Die Vereinbarung und Wahrnehmung von Terminen könne der Antragsteller immer besser selbstständig meistern. Er könne nach entsprechender Vorbereitung einfache und wiederkehrende Termine ohne Begleitung wahrnehmen. Im Umgang mit Geldern sei zu erkennen, dass der Antragsteller mittlerweile besser mit seinen Finanzen umgehen könne.
In der Stellungnahme des Psychologischen Fachdienstes heißt es zusammenfassend, dass der Antragsteller während der letzten drei Jahre aus psychologischer Sicht Fortschritte in einer ihm entsprechenden Persönlichkeitsentwicklung vollzogen habe. Er zeige jedoch weiterhin Bedarf an psychologischer Unterstützung bei der Umsetzung der erlernten Strategien, der Stabilisierung seiner Identitätsfindung und Stärkung seiner Abstinenz. Bei Beendigung der Jugendhilfe werde eine hohe Gefährdung der bereits erreichten Erfolge gesehen. Die positiv veränderte Alltagsbewältigung inklusive die Weiterführung seiner Ausbildung stünden in Gefahr. Psychiatrische Diagnosen nach ICD-10 lägen der Stellungnahme zufolge nicht vor.
Am 9. Juni 2021 fand ein telefonisches Zwischengespräch zwischen den Beteiligten statt. In dem hierüber gefertigten Aktenvermerk des Antragsgegners wurde unter anderem festgehalten, dass der Antragsteller große Schwierigkeiten habe, dem Unterricht in der Berufsschule zu folgen und sich sein Bedarf durch den coronabedingten Online-Unterricht deutlich erhöht habe. Zur zusätzlichen Förderung solle der Antragsteller daher an der A.-Berufsschule angemeldet werden, für welche am 16. Juni ein Testungstermin stattfinde. Des Weiteren sei über zwei massive Zwischenfälle in der Ausbildungsstelle berichtet worden. In Hinblick darauf, dass der Antragsteller verschiedene Rahmenziele des letzten Hilfeplans nicht umgesetzt hätte, habe die Bezugsbetreuerin des Antragstellers zudem erläutert, dass der Fokus des Antragstellers auf der Ausbildungs- und Wohnungssuche gelegen habe; der Antragsteller sei durch das letzte Hilfeplangespräch extrem verunsichert und überrumpelt worden, sodass er nicht imstande gewesen sei, andere Themen zu bearbeiten.
In einer internen Fachteamberatung beim Antragsgegner am … … 2021 wurde die Entscheidung getroffen, die Hilfe für junge Volljährige in Form der Unterbringung des Antragstellers in der teilbetreuten Wohngruppe nicht über den … … 2021 zu verlängern. Der Antragsteller solle stattdessen in ein sog. AEH-Projekt wechseln, in welchem er ambulante Hilfe im Rahmen des § 41 i.V.m.§ 30 SGB VIII im Umfang von sechs Fachleistungsstunden in der Woche erhalte. Diese Entscheidung wurde dem Antragssteller (wohl) zunächst telefonisch bekanntgegeben.
Am 23. Juni 2021 beantragte der Antragsteller beim Verwaltungsgericht München zur Niederschrift,
den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, vorläufig die Hilfe für junge Volljährige in Form von sozialpädagogischer teilbetreuter Unterbringung in der Wohngruppe O. über den … … 2021 hinaus weiter zu gewähren.
Zur Begründung nahm der Antragsteller auf das Vorbringen in seinem Weitegewährungsantrag samt Anlagen Bezug. Der Antrag sei eilbedürftig, um zu verhindern, dass der Antragsteller am 1. Juli 2021 aus der teilbetreuten Wohngruppe ausziehen müsse.
Mit Schriftsatz vom 24. Juni 2021, bei Gericht eingegangen am 25. Juni 2021, beantragte der Antragsgegner,
den Antrag abzulehnen.
Zur Begründung wurde ausgeführt, dass die Voraussetzungen gemäß § 41 i.V.m. § 34 SGB VIII nicht vorlägen. Der Antragsteller befinde sich aktuell im Rahmen der integrativen „Berufsausbildung in außerbetrieblichen Einrichtungen“ (BaE) der Agentur für Arbeit im zweiten Lehrjahr seiner Ausbildung zum Koch; die Probezeit habe er gut bestanden. Im Rahmen dieser Ausbildungsform, insbesondere durch die engmaschige Betreuung durch die Ausbildungsleiterin, fühle sich der Antragsteller gut aufgehoben. Jedoch bestehe im theoretischen Teil der Ausbildung noch Unterstützungsbedarf, weswegen in einem Zwischengespräch am 9. Juni 2021 mit der Wohngruppe O. festgehalten worden sei, dass eine umgehende Anmeldung an der A.-Berufsschule stattfinden sollen, um den Antragsteller – außerhalb der Jugendhilfe – zusätzlich zu fördern. Im letzten Hilfeplangespräch seien die letzten Schritte in der Jugendhilfe in Form von einzelnen Rahmenzielen ausführlich thematisiert und verschriftlicht worden. Der Antragsteller habe sowohl in der Persönlichkeitsentwicklung wie auch im Hinblick auf die berufliche Entwicklung gute Fortschritte gemacht. Er habe seine Probezeit bestanden und sei gut im Rahmen der Ausbildung eingebunden. Zudem sei im Rahmen des Zwischengespräches der weitere Verlauf hinsichtlich zusätzlicher Unterstützung besprochen und festgehalten worden. Seitens des Antragstellers seien jedoch Zielsetzungen des Hilfeplans wie die Erstellung einer Übersichtsliste mit Kontaktdaten und die Vorstellung bei mindestens drei Beratungsstellen sowie des Weiteren die vereinbarte Vorbereitung auf den Auszug aus der Wohngruppe nicht umgesetzt worden. Problemlagen bezüglich der Wohnungssuche und der beruflichen Stabilisierung seien bereits in Hilfeplangespräche am … … 2020 und am … … 2021 thematisiert worden und könnten ebenfalls durch anderweitige Helfersysteme abgedeckt werden. Der Antragsteller habe sich insgesamt in seinem Verselbstständigungsprozess gut entwickelt und sei ebenfalls in seiner Persönlichkeitsentwicklung wie auch in der Bewältigung seiner alltagspraktischen Angelegenheiten vermehrt verselbstständigt. Aus sozialpädagogischer Sichtweise werde eine Weitergewährung der Jugendhilfe in Form einer ambulanten Unterstützung im Umfang des maximalen Stundensatzes von sechs Fachleistungsstunden in der Woche in einem AEH-Projekt befürwortet. Mit Bescheid vom 25. Juni 2021 sei für den Antragsteller statt der beantragten Unterbringung in der teilbetreuten Wohngruppe Hilfe für junge Volljährige in Form einer Erziehungsbeistandschaft gemäß §§ 41, 30 SGB VIII bewilligt worden.
Der Antragsgegner teilte dem Gericht am 25. Juni 2021 des Weiteren telefonisch mit, dass für den Antragsteller ein Platz in einem AEH-Projekt in … gefunden worden sei. Im Rahmen des AEH-Projekts seien die jungen Volljährigen mietfrei zu dritt oder viert in einem Zimmer untergebracht und würden ambulante Unterstützung durch pädagogische Fachkräfte erhalten. Sie wären also nicht auf sich allein gestellt, sondern würden nach wie vor pädagogische Unterstützung – im Fall des Antragstellers im Umfang von 6 Stunden pro Woche – erhalten.
Mit Bescheid vom 25. Juni 2021 bewilligte der Antragsgegner dem Antragsteller ab dem 1. Juli 2021 eine Erziehungsbeistandschaft gemäß § 41 i.V.m. § 30 SGB VIII, welche in einem sog. AEH-Projekt in … durchgeführt werden solle. In den Gründen des Bescheids wird ausgeführt, dass aus sozialpädagogischer Sicht keine Notwendigkeit und Geeignetheit für eine Weitergewährung der Hilfemaßnahme in einer Wohnform gemäß § 41 i.V.m. § 34 SGB VIII mehr bestehe. Geeignet und notwendig sei vielmehr eine ambulante Unterstützung im Umfang von sechs Fachleistungsstunden in der Woche in einem AEH-Projekt.
Mit Schriftsatz vom 29. Juni 2021 führte eine Mitarbeiterin der teilbetreuten Wohngruppe O. ergänzend aus, dass die bewilligte ambulante Hilfe dem Bedarf des Antragstellers nicht ausreichend gerecht werden würde. Der geschützte, sichere Rahmen des stationären teilbetreuten Settings sei für dessen stabile Persönlichkeitsentwicklung und für die Aufrechterhaltung seines Ausbildungsverhältnisses unerlässlich. In der Wohngruppe fänden u.a. enge und regelmäßige Gespräche des Antragstellers mit den pädagogischen Fachkräften und dem internen psychologischen Fachdienst statt. Zudem werde er täglich zu Lernzeiten angeleitet und die Fachkräfte würden konstanten, engen Austausch mit der Ausbildungsstelle halten. Diese Maßnahmen seien zwingend erforderlich, um die entwickelten Fortschritte zu stabilisieren und weiter voranzutreiben. Mit sechs Fachleistungsstunden Stunden pro Woche könne der Bedarf des Antragstellers nicht angemessen abgedeckt werden.
Am 30. Juni 2021 teilte der Antragsgegner dem Gericht per E-Mail mit, man hätte von der Einrichtung O. die Information erhalten, dass der Antragsteller einen Platz in einem Ausbildungswohnheim habe, falls der Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz keinen Erfolg haben werde. Dass es noch eine andere Unterbringungsmöglichkeit gegeben habe, sei dem Jugendamt des Antragsgegners verschwiegen worden.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten im Übrigen wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie auf die vorgelegten Behördenakten verwiesen.
II.
Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist zulässig, hat in der Sache jedoch nur im tenorierten Umfang Erfolg.
In Hinblick auf die Bezugnahme des Antragstellers in der Antragsbegründung auf seine Ausführungen im Weiterbewilligungsantrag vom 1. Mai 2021 war der vorliegende Antrag gemäß § 122 Abs. 1, 88 VwGO dahingehend auszulegen, dass der Antragsteller die vorläufige Weitergewährung der Hilfe für junge Volljährige im Rahmen der Unterbringung in der teilbetreuten Wohngruppe O. bis zur Vollendung seines 21. Lebensjahres begehrt.
Nach § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO sind einstweilige Anordnungen zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn diese Regelung, vor allem bei dauernden Rechtsverhältnissen, um wesentliche Nachteile abzuwenden oder drohende Gewalt zu verhindern oder aus anderen Gründen nötig erscheint. Voraussetzung ist, dass der Antragsteller das von ihm behauptete streitige Recht (den Anordnungsanspruch) und die drohende Gefahr seiner Beeinträchtigung (den Anordnungsgrund) glaubhaft macht, § 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 920 Abs. 2 ZPO.
Für das Vorliegen eines Anordnungsgrunds ist grundsätzlich Voraussetzung, dass es dem Antragsteller unter Berücksichtigung seiner Interessen, aber auch der öffentlichen Interessen und der Interessen anderer Personen nicht zumutbar ist, eine Hauptsacheentscheidung abzuwarten. Maßgebend sind dabei die tatsächlichen und rechtlichen Verhältnisse im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (vgl. BayVGH, B.v. 10.10.2011 – 12 CE 11.2215 – juris Rn. 6).
Grundsätzlich dient die einstweilige Anordnung nach § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO der vorläufigen Regelung eines Rechtsverhältnisses. Mit der vom Antragsteller begehrten Entscheidung wird die Hauptsache aber – zumindest teilweise – vorweggenommen. In einem solchen Fall sind an die Prüfung von Anordnungsgrund und Anordnungsanspruch qualifiziert hohe Anforderungen zu stellen, d.h. der Erlass einer einstweiligen Anordnung kommt nur in Betracht, wenn ein hoher Grad an Wahrscheinlichkeit für einen Erfolg in der Hauptsache jedenfalls dem Grunde nach spricht und der Antragsteller ohne die einstweilige Anordnung unzumutbaren Nachteilen ausgesetzt wäre (BayVGH, B.v. 18.3.2016 – 12 CE 16.66 – juris Rn. 4).
Nach diesen Maßgaben hat der Antragsteller sowohl einen – in zeitlicher Hinsicht beschränkten – Anordnungsanspruch als auch einen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht.
Ein Anspruch des Antragstellers auf Hilfe für junge Volljährige nach § 41 SGB VIII (i.d.F. vom 3. Juni 2021), dem vorliegend allein durch die Unterbringung in der teilbetreuten Wohngruppe O. Rechnung getragen werden kann, ist hinsichtlich eines sich an die aktuelle Hilfe anschließenden Zeitraumes von drei Monaten ausreichend glaubhaft gemacht.
Gemäß § 41 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII erhalten junge Volljährige geeignete und notwendige Hilfe, wenn und solange ihre Persönlichkeitsentwicklung eine selbstbestimmte, eigenverantwortliche und selbständige Lebensführung nicht gewährleistet. Für die Ausgestaltung der Hilfe gelten § 27 Abs. 3 und 4 sowie die §§ 28 bis 30, 33 bis 36, 39 und 40 SGB VIII entsprechend mit der Maßgabe, dass an die Stelle des Personensorgeberechtigten, des Kindes oder des Jugendlichen der junge Volljährige tritt, § 41 Abs. 2 SGB VIII.
Der Gesetzgeber hat mit der Neufassung des § 41 SGB VIII nunmehr ausdrücklich formuliert, unter welchen Voraussetzungen Hilfe für junge Volljährige zu gewähren ist. Die Gewährleistung von Hilfe für junge Erwachsene wird damit verbindlicher, weil die Tatbestandsvoraussetzungen nunmehr explizit formuliert sind und die Rechtsfolge zwingend („muss“) daran anknüpft. Der öffentliche Träger hat festzustellen, ob im Rahmen der Möglichkeiten des jungen Volljährigen die Gewährleistung einer Verselbständigung nicht oder nicht mehr vorliegt. Ist dies der Fall, so muss dem jungen Volljährigen in jedem Fall eine geeignete und notwendige Hilfe (weiterhin) gewährt werden (vgl. die Gesetzesbegründung, BT-Drs. 19/26107, S. 94).
Grundsätzlich unterliegt die Entscheidung über die Erforderlichkeit und Geeignetheit einer bestimmten Hilfemaßnahme nach ständiger verwaltungsgerichtlicher Rechtsprechung einem kooperativen, sozialpädagogischen Entscheidungsprozess unter Mitwirkung des betroffenen Hilfeempfängers und der Fachkräfte des Jugendamtes, welche nicht den Anspruch objektiver Richtigkeit erhebt, sondern nur eine angemessene Lösung zur Bewältigung der festgestellten Belastungssituation enthalten muss, die fachlich vertretbar und nachvollziehbar sein muss (sog. sozialpädagogische Fachlichkeit). Die verwaltungsgerichtliche Überprüfung hat sich in diesem Fall darauf zu beschränken, ob allgemeingültige fachliche Maßstäbe beachtet wurden, keine sachfremden Erwägungen eingeflossen und die Leistungsadressaten in umfassender Weise beteiligt worden sind. Die Entscheidung über die Geeignetheit und Notwendigkeit einer bestimmten Hilfemaßnahme ist damit gerichtlich nur auf ihre Vertretbarkeit hin überprüfbar (BayVGH, B.v. 6.2.2017 – 12 C 16.2159 – juris Rn. 11 m.w.N.).
Will ein Betroffener – wie hier der Antragsteller – die Verpflichtung des Jugendhilfeträgers zur Durchführung einer bestimmten Hilfemaßnahme im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes erwirken, muss er im Hinblick auf den im Rahmen der sozialpädagogischen Fachlichkeit bestehenden Beurteilungsspielraum des Jugendamts darlegen und glaubhaft machen, dass allein die beanspruchte Hilfemaßnahme zur Deckung des Hilfebedarfs erforderlich und geeignet ist (vgl. BayVGH, B.v. 30.1.2017 – 12 C 16.1693 – juris Rn. 8; B.v. 17.8.2015 – 12 AE 15.1691 – juris Rn. 31; B.v. 21.2.2013 – 12 CE 12.2136 – juris Rn. 30).
Ein grundsätzlicher Bedarf des Antragstellers nach Hilfe zur Persönlichkeitsentwicklung und zu einer eigenständigen Lebensführung im Sinne des § 41 Abs. 1 SGB VIII ist vorliegend unstreitig – anderenfalls hätte der Antragsgegner dem Antragsteller keine Leistung nach § 41 i.V.m. § 30 SGB VIII angeboten. Allerdings erachtet der Antragsgegner nicht die Weitergewährung der stationären Unterbringung in der teilbetreuten Wohngruppe O., sondern die Bewilligung einer Erziehungsbeistandschaft im Rahmen eines AEH-Projekts mit sechs Fachleistungsstunden in der Woche als aktuell angemessene Hilfemaßnahme.
Unter Zugrundelegung des vom Gericht anzuwendenden Prüfungsmaßstabs der sozialpädagogischen Fachlichkeit erachtet das Gericht die Entscheidung des Jugendamtes hier als nicht mehr vertretbar. Der Antragsteller hat vielmehr glaubhaft gemacht, dass der hinsichtlich der Auswahl der konkreten Hilfemaßnahme gegebene Beurteilungsspielraum des Antragsgegners sich vorliegend – zumindest bis zu einer zeitnahen erneuten Überprüfung des Jugendhilfebedarfs nach einem Vierteljahr – allein auf die beantragte Unterbringung in der teilbetreuten Wohngruppe O. verengt hat. Der Antragsgegner hat in seiner Ablehnungsentscheidung entscheidungserhebliche Gesichtspunkte, die die aktuelle Situation des Antragstellers maßgeblich betreffen und welche – zumindest noch für eine Übergangszeit – eine Unterbringung in der teilbetreuten Wohngruppe erforderlich machen, unberücksichtigt gelassen.
In der Stellungnahme der Wohngruppe vom 29. April 2021 wird von der Bezugsbetreuerin des Antragstellers ausgeführt, dass der Antragsteller insgesamt noch nicht ausreichend gefestigt in der Ausbildung angekommen sei. Er weise einen enormen Bedarf im Hinblick auf Fachtheorie und Berufsschule auf und insbesondere der coronabedingte Distanzunterricht stelle ihn vor neue Herausforderungen. Ohne die Unterstützung der Fachkräfte könne der Antragsteller nach Einschätzung der Einrichtung momentan der geforderten Selbstdisziplin und Eigenverantwortung nicht gerecht werden.
Vor ein paar Wochen sei der Antragsteller aufgrund seiner mangelnden Leistungen und dem Druck in der Berufsschule so frustriert gewesen, dass er die Ausbildung von heute auf morgen habe abbrechen wollen. In einem Gespräch mit der Ausbildungsstelle und seiner Bezugsbetreuerin habe der Antragsteller dann nochmal überzeugt werden können, weiterhin durchzuhalten. Zur Unterstützung bedürfe es zusätzlich eines regelmäßigen Austausches zwischen Einrichtung und Ausbildungsbetrieb.
In der ebenfalls vom Antragsteller vorgelegten Stellungnahme des … … der Einrichtung vom … … 2021 wird die Befürchtung geäußert, bei Beendigung der bisherigen Jugendhilfemaßnahme stünde die Weiterführung der Ausbildung in Gefahr.
Auch der Antragsteller führt in seinem Weiterbewilligungsantrag vom 1. Mai 2021 die Angst, den Ausbildungsplatz zu verlieren, als Hauptargument für die Weitergewährung der bisherigen Hilfemaßnahme an.
Der Verweis des Antragsgegners in seiner Antragserwiderung vom 24. Juni 2021 auf die bestandene Probezeit und einen daher sicheren Ausbildungsplatz für den Antragsteller berücksichtigt die genannten Ausführungen hingegen nicht. Aus den Schilderungen der Einrichtung geht hervor, dass der Antragsteller derzeit noch eine relativ engmaschige Betreuung, Unterstützung beim Lernen sowie konstante Motivation seitens der Fachkräfte benötigt, um den Anforderungen der Ausbildung, die durch die Coronapandemie insbesondere in Hinblick auf Online-Unterricht noch verschärft worden sein dürften, gerecht zu werden. Bereits in der Vergangenheit hat der Antragsteller zwei Ausbildungsplätze, teilweise aufgrund eigenen nachlässigen Verhaltens, verloren. Das Gericht hält es daher zum aktuellen Zeitpunkt durchaus für möglich, dass der Antragsteller, für den als jungen Geflüchteten ohne familiäre Unterstützung der erfolgreiche Abschluss einer Ausbildung eine zentrale Zukunftsperspektive darstellt, die begonnene Ausbildung abbricht oder abbrechen muss, sollte er sein bisheriges unterstützendes Umfeld verlieren. Die vom Antragsgegner vorgesehene Erziehungsbeistandschaft im Umfang von sechs Fachleistungsstunden erscheint keinesfalls ausreichend, um dem Antragsteller die für die Umbruchsphase, in welcher er sich – nicht zuletzt auch mit dem geplanten Wechsel auf die A.-Berufsschule – offensichtlich befindet, benötigte Unterstützung zu gewähren.
Auch der Hinweis des Antragsgegners sowohl im Aktenvermerk über das Zwischengespräch vom 9. Juni 2021 als auch in der Antragsbegründung auf die vom Antragsteller verfehlten Ziele des letzten Hilfeplans vermag keine andere Betrachtung zu rechtfertigen. Dass der Antragsteller die Zielsetzung, sich bei drei Beratungsstellen vorzustellen, nicht erreicht hat, wurde laut Aktenvermerk zum Zwischengespräch von seiner Bezugsbetreuerin nachvollziehbar damit erklärt, dass der Fokus des Antragstellers auf drängenden Themen wie Wohnungssuche und Ausbildung lag und der Antragsteller durch die Aussicht, die Jugendhilfemaßnahme werde beendet, offensichtlich aus der Bahn geworfen wurde. Auch das Verfehlen des Ziels, sich gut auf den Auszug aus der Wohngruppe vorbereitet zu haben, zeigt aus Sicht des Gerichts des Weiteren vielmehr die Notwendigkeit auf, den Antragsteller noch für einen weiteren Zeitraum auf eine größere Selbstständigkeit vorzubereiten. Insoweit bestehen auch keine Anhaltspunkte dafür, dass der Antragsteller grundsätzlich nicht bereit ist, an der Erreichung der Hilfeziele (seiner Verselbständigung) mitzuwirken, sondern tatsächlich hierzu noch nicht im ausreichendem Maße befähigt ist.
Ebenso wenig führt die Mitteilung des Antragsgegners, der Antragsteller habe für den Fall der Ablehnung seines Antrags einen Platz in einem Ausbildungswohnheim gefunden, zu einer anderen Beurteilung. Dass der Antragsteller die lediglich im Rahmen der Erziehungsbeistandschaft vorgesehene Unterstützung – wie vorliegend auch das Gericht – als nicht ausreichend erachtet und daher eventuell gänzlich auf diese verzichten möchte bzw. sich zumindest nach alternativen Wohnmöglichkeiten umgesehen hat, hat für die streitgegenständliche Entscheidung keine Relevanz. Vielmehr zeigt der Antragsteller hierdurch gerade, dass er die mit ihm vereinbarten Ziele – zumindest hilfsweise – zu erreichen sucht.
Da der Antragsteller ausweislich des Hilfeplans vom 9. März 2021 insgesamt bereits große Fortschritte in Richtung Verselbstständigung gemacht hat und eine Konfrontation mit der Aussicht eines Lebens außerhalb der unterstützenden Einrichtung unweigerlich erfolgen muss, erachtet das Gericht derzeit die Weitergewährung der Hilfe bis zum Ablauf von drei Monaten als sinnvoll. Ob der Bedarf des Antragstellers nach diesem Zeitpunkt die weitere teilbetreute Unterbringung notwendig macht, ist sodann in einem neuerlichen Hilfeplangespräch zu untersuchen. Die Erforderlichkeit einer vorläufigen Gewährung der Hilfe, wie beantragt, bis zum Ende des Jahres ist aus Sicht des Gerichts vorliegend nicht dargetan. Im Übrigen erlaubt sich das Gericht den Hinweis, dass § 41 Abs. 1 Satz 2 HS. 2 SGB VIII die Gewährung von Hilfe für junge Volljährige in Einzelfällen auch über das 21. Lebensjahr hinaus vorsieht; eine automatische Beendigung der Jugendhilfe tritt daher – entgegen der offenbar von dem Antragsgegner vertretenen Auffassung – mit Erreichen der Altersgrenze keineswegs ein.
Der Antragsteller hat auch einen Anordnungsgrund glaubhaft machen können. Würde dem Antragsteller die beantragte Hilfe für junge Volljährige vorläufig für die kommenden drei Monate nicht gewährt werden, wäre – insbesondere in Hinblick auf den schon einmal beinahe erfolgten Abbruch der Ausbildung – mit erheblichen Nachteilen für die berufliche und persönliche Entwicklung des Antragstellers zu rechnen.
Die Kostenfolge ergibt sich aus §§ 154 Abs. 1, 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO.
Das Verfahren ist nach § 188 Satz 2 VwGO gerichtskostenfrei.


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