Verwaltungsrecht

Erfolglose Asylklage einer schiitischen Familie mit schwer geistig behinderten Kindern aus dem Irak

Aktenzeichen  AN 2 K 16.30750

Datum:
24.5.2017
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Ansbach
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG AsylG § 3 Abs. 1, § 3a, § 4
AufenthG AufenthG § 60 Abs. 5, Abs. 7 S. 1 – 3
EMRK EMRK Art. 3

 

Leitsatz

1. Eine Gruppenverfolgung von Schiiten besteht jedenfalls in Bagdad und im Südirak nicht.  (Rn. 16) (redaktioneller Leitsatz)
2. Dort liegt auch kein innerstaatlicher bewaffneter Konflikt vor.  (Rn. 17) (redaktioneller Leitsatz)
3. Allein die Verbesserung der Lebensqualität schwerbehinderter Kinder aus dem Irak durch bessere Betreuung und Förderung in Deutschland sowie die infolge dessen sich ergebende Entlastung ihrer Eltern kann ein Abschiebungsverbot nicht begründen. (Rn. 18 – 27) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

1. Die Klagen werden abgewiesen.
2. Die Kläger tragen die Kosten des Verfahrens.
Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe

Die Klage ist zulässig, aber unbegründet. Der angefochtene Bescheid des BAMF vom 10. Juni 2016 ist rechtmäßig und verletzt die Kläger nicht in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 und Abs. 5 VwGO). Weder besteht ein Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 Abs. 1 AsylG, noch auf Zuerkennung subsidiären Schutzes im Sinne von § 4 AsylG und Feststellung des Vorliegens von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 Satz 1 AufenthG. Auch die in Ziffer 4 und 5 getroffenen Nebenentscheidungen begegnen keinen Bedenken. Nachdem die Kläger bei ihrer Anhörung vor dem BAMF am 1. Juni 2016 ihre Asylanträge entsprechend beschränkt haben und der Asylanspruch nach Art. 16 a GG auch vom Klageantrag in der mündlichen Verhandlung vom 19. Mai 2017 nicht umfasst ist, ist er nicht Gegenstand der Klagen.
Das Gericht nimmt zur Begründung des Urteils gemäß § 77 Abs. 2 AsylG Bezug auf die ausführliche und zutreffende Begründung des streitgegenständlichen Bescheides des Bundesamtes und führt ergänzend aus:
Auch im für die Entscheidung maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 AsylG) ergibt sich keine davon abweichende rechtliche Bewertung des geltend gemachten Schicksals.
Das BAMF hat zu Recht den geltend gemachten Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft im Sinne von § 3 Abs. 1 AsylG verneint. Die Zugehörigkeit zur schiitischen Glaubensrichtung begründet aktuell nicht die Gefahr von Verfolgung bzw. Übergriffen im Sinne von § 3 a AsylG. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (U.v. 21.4.2009, 10 C 11/08 – juris) liegt eine asylrechtlich erhebliche Verfolgungsgefahr für Mitglieder einer Gruppe dann vor, wenn Verfolgungshandlungen im Verfolgungszeitraum und Verfolgungsgebiet auf alle sich dort aufhaltenden Gruppenmitglieder zielen und sich in quantitativer und qualitativer Hinsicht so ausweiten, wiederholen und um sich greifen, dass daraus für jeden Gruppenangehörigen nicht nur die Möglichkeit, sondern auch ohne Weiteres die aktuelle Gefahr eigener Betroffenheit besteht. Dies gilt nach den vom Gericht beigezogenen Erkenntnisquellen für Schiiten aus Bagdad und damit außerhalb der Regionen, die von der Terrorgruppe „Islamischer Staat“ besetzt werden oder wurden, nicht allgemein. Zwar existieren im Irak der Auskunftslage nach neben dem erheblichen, auch kämpferischen Konflikt zwischen dem „Islamischen Staat“ einerseits und der Regierung und den sie unterstützenden Einheiten andererseits auch Spannungen innerhalb des Bündnisses zwischen den Angehörigen der Regierung bzw. staatlichen Sicherheitskräften und deren Unterstützern, zu denen auch schiitische Milizen und die kurdische Peschmerga gehören, jedoch kommt es entlang dieser Konflikte aufgrund von Religions- und Volkszugehörigkeit nur zu vereinzelten Übergriffen, die jedenfalls in der Herkunftsregion der Klägerseite kein solches Ausmaß erreichen, dass sie davon ausgehen müssten, selbst betroffen zu sein. Im Irak leben ca. 60 bis 65 Prozent Schiiten, die südlichen Regionen des Irak sind ganz überwiegend schiitisch bevölkert, sodass jedenfalls dort grundsätzlich nicht mit ethnisch oder religiös motivierten Übergriffen gerechnet werden muss. Was einer Niederlassung in einen überwiegend schiitisch bevölkerten Stadtteil von Badgad oder im südlichen Landesteil entgegenstünde, in dem auch die Herkunftsfamilie der Klägerin zu 2) wohnt, ist nicht ersichtlich. Individuelle Verfolgungsgründe haben die Kläger nicht geltend gemacht, auch nicht, dass die Behinderung der Klägerinnen zu 3) und zu 5) zu Übergriffen bzw. asylrechtlich relevanten Gefahren geführt hätte.
Angesichts der allgemeinen Situation, insbesondere in Bagdad und im Südirak ist auch keine Situation im Sinne von § 4 AsylG, die zur Zuerkennung subsidiären Schutzes führen würde, anzunehmen. Ein bewaffneter innerstaatlicher Konflikt liegt dort nach Auswertung der zum Verfahren beigezogenen Erkenntnisquellen nicht vor. Einzelne terroristische Anschläge und Gewaltakte, zu denen es im gesamten Irak gekommen ist und weiter kommen kann, genügen hierfür nicht.
Für die Kläger besteht auch kein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 Satz 1 AufenthG aufgrund der Behinderungen der Klägerinnen zu 3) und zu 5). Nach den für die beiden Kinder vorgelegten ärztlichen und sozialpädagogischen Unterlagen besteht für diese ein ganz erheblicher Betreuungsbedarf, jedoch keine medizinische Behandlungsnotwendigkeit durch Medikamente, ärztliche Behandlungen oder Therapien.
Die Klägerinnen zu 3) und zu 5) sind schwer geistig behindert. Für sie ist ein Grad der Behinderung von 80 wegen „psychomotorische Entwicklungsstörung, Verhaltensstörungen, geistige Behinderung“ festgestellt. Der erhebliche Betreuungsbedarf für die Kinder besteht nach den vorgelegten Unterlagen vor allem aufgrund ihrer motorischen Unruhe – auch das Gericht konnte sich in der mündlichen Verhandlung vom 19. Mai 2017 davon überzeugen, dass die Kinder sich in ständiger Bewegung und Unruhe befinden und dabei ständige Lautäußerungen von sich geben – und aufgrund ihres unangemessenen, undistanzierten Sozialverhalten Personen gegenüber. Eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit im Sinne von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG bei der Rückkehr in ihr Heimatland ergibt sich daraus jedoch nicht.
Eine erhebliche Gefahr aus gesundheitlichen Gründen ist nach § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG nur bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden, anzunehmen. Dies kann jedoch nicht festgestellt werden. Die Klägerinnen zu 3) und zu 5) erfahren letztlich auch in Deutschland keine medizinische oder sozialpädagogische Behandlung, auf die sie dringend angewiesen wären, deren Unterbrechung oder Einstellung also zu einer erheblichen und absehbaren Lebens- oder erheblichen Leibesgefährdung führen würde. Die Kinder werden in Deutschland – auch und gerade nach den in der mündlichen Verhandlung übergebenen Stellungnahmen der Lebenshilfe … e.V. vom 17. und 18. Mai 2017 – von Fachpersonal begleitet und betreut, um ihnen ein halbwegs adäquates Verhalten beizubringen (Aggressionsbewältigung, An- und Ausziehen, Körperpflege, selbständiger Toilettengang, Unterrichtsteilnahme, Kommunikation). Nach allen für die Kinder vorgelegten Unterlagen und Aussagen kann jedoch nicht davon ausgegangen werden, dass diese jemals ein selbstständiges Leben ohne Betreuung und Bezugspersonen führen können werden, weder in Deutschland noch im Irak.
Bei den gravierenden und auf Dauer bestehenden Beeinträchtigungen der Klägerinnen zu 3) und zu 5) ist einerseits keine erhebliche Verbesserung der Lebenssituation im Hinblick auf eine selbstständige Lebensführung durch die intensive Betreuung in Deutschland zu erwarten, andererseits aber auch keine erhebliche Verschlechterung im Sinne einer Lebensgefährdung bei einer Einstellung der aktuellen Hilfe und einer Rückkehr in ihr Heimatland. Dies ist auch dann der Fall, wenn im Irak, wovon ausgegangen werden kann und dies für die Entscheidung zu Grunde gelegt wird, entsprechende Betreuungsmaßnahmen nicht zur Verfügung stehen.
Nach § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG ist ein Abschiebungshindernis nicht schon dann anzunehmen, wenn im Heimatland keine gleichwertige Versorgung vorliegt. § 60 Abs. 7 AufenthG schützt nur vor realen Lebensgefahren bzw. schwerwiegenden Gesundheitsgefahr. Insoweit sind die Klägerinnen zu 3) und zu 5) nicht auf einen Verbleib in Deutschland angewiesen, da ihnen derartige Gefahren auch bei einer Rückkehr in den Irak nicht drohen. Die Verbesserung der Lebensqualität der Klägerinnen zu 3) und zu 5) in Deutschland genügt für die Feststellung eines Abschiebungshindernisses nach den klaren und strengen Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 AufenthG nicht.
Ein Abschiebungshindernis aufgrund der Behinderungen der Klägerinnen zu 3) und zu 5) besteht derzeit auch nicht mit Blick auf die Eltern der Klägerinnen zu 3) und 5), die bei einer Rückkehr in den Irak wohl die Hauptlast der Betreuung zu tragen hätten. Das Gericht verkennt dabei nicht, dass die notwendige Betreuung ihrer behinderten Kinder für den Kläger und für die Klägerin zu 2) eine sehr hohe Belastung darstellen wird. Dass diese Belastung aber mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu einer lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen bzw. Beeinträchtigung der Eltern selbst führen wird, ist nicht ersichtlich. Dies haben sie selbst nicht geltend gemacht und Anzeigen hierfür sind nicht ersichtlich.
Bis zu ihrer Ausreise haben der Kläger und die Klägerin zu 2) die Betreuung ebenfalls fast ausschließlich selbst übernommen, ohne bisher ernstliche eigene Gesundheitsprobleme zu verzeichnen. Auch in Deutschland hängt die Last der Betreuung überwiegend an ihnen. Die Entlastung durch die zeitweise Übernahme der Betreuung durch die Schule der Klägerinnen zu 3) und zu 5) stellt für die Kläger zu 1) und zu 2) sicherlich eine starke Entlastung und einen Gewinn an Lebensqualität dar. Das Entfallen dieser Entlastung, weil im Heimatland der Kläger eine Beschulung und staatliche Betreuung der Klägerinnen zu 3) und zu 5) wohl nicht möglich sein wird, führt jedoch für den Kläger und die Klägerin zu 2) nicht absehbar und zwingend zu einer Situation i.S.v. § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG. Im Übrigen dürfte eine tatsächliche, die Belastung jedenfalls mindernde Unterstützung der Familie durch den im Irak lebenden Clan bzw. die Großfamilie der Kläger, die dort eine wesentlich größere Rolle spielt, als dies in den westlichen Ländern und Kulturen der Fall ist, durchaus realistisch sein.
Dass eine sozialpädagogische Betreuung und behindertengerechte Förderung der Klägerinnen zu 3) und zu 5) wie sie sie in Deutschland erfahren, in ihrem Heimatland, sei es aus Mangel an derartigen Einrichtungen, sei es, weil die finanziellen Verhältnisse der Kläger dies nicht zulassen, nicht möglich sein wird, kann für die Entscheidung ohne weitere Aufklärung damit unterstellt werden. Die Situation führt aus den dargelegten Gründen nicht zu einem Abschiebungshindernis nach § 60 Abs. 7 AufenthG.
Nachdem die Kläger diese Situation bereits vor ihrer Ausreise gemeistert haben, ohne dass sie an lebensbedrohlicher Armut gelitten haben, der Kläger trotz der Belastungssituationen einer erwerbswirtschaftlichen Tätigkeit nachgegangen ist, die den Lebensunterhalt der Familie gesichert hat, ist nicht anzunehmen, dass dies bei einer Rückkehr in ihr Heimatland auf Dauer anders sein würde.
Auch ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. einem Recht bzw. einer Freiheit aus der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) sieht das Gericht für die Kläger im Ergebnis nicht. Insbesondere liegt in der – insoweit unterstellten – Annahme, dass eine sozialpädagogische Betreuung und Beschulung der Klägerinnen zu 3) und zu 5) in ihrem Heimatland nicht möglich ist, noch keine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 3 EMRK. Art. 3 EMRK schützt nur vor extremen Gefahrenlagen, insbesondere vor Misshandlungen, die in ihrer Art, Intensität und Urheberschaft die Menschenwürde des Betroffenen verletzen. Art. 3 EMRK setzte regelmäßig ein geplantes, vorsätzliches, auf eine bestimmte Person gerichtetes Handeln voraus, ist aber regelmäßig noch nicht verletzt, wenn Personengruppen, die einer besonderen Fürsorge bedürfen, von den nachteiligen Auswirkungen eines unterentwickelten Gesundheits- oder Sozialsystems betroffen sind (vgl. BVerwG, U.v. 2. September 1997, 9 C 40/96 – juris). Die auch hier erforderliche Schwelle einer lebensbedrohlichen Gefahr ist, wie oben dargelegt, nicht erreicht.
Die Abschiebungsandrohung in Ziffer 4 des Bescheids beruht auf § 34 Abs. 1 AsylG i.V.m. § 59 AufenthG und ist rechtmäßig, da die entsprechenden gesetzlichen Voraussetzungen vorliegen.
Die im Rahmen der nach § 11 Abs. 3 AufenthG zu treffenden Ermessensentscheidung über die Dauer des Einreise- und Aufenthaltsverbots gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG ist nicht zu beanstanden, § 114 Abs. 1 VwGO.
Die Kostenentscheidung der damit abzuweisenden Klage resultiert aus § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden gemäß § 83 b AsylG nicht erhoben.


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