Verwaltungsrecht

Erfolglose Klage auf subsidiären Schutz und Abschiebungsverbot (Afghanistan)

Aktenzeichen  M 24 K 17.38700

Datum:
28.9.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 26150
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG § 3, § 3e, § 4 Abs. 1 S. 2
AufenthG § 60 Abs. 5, Abs. 7 S. 1

 

Leitsatz

1. Für die Feststellung der erforderlichen Gefahrendichte im Rahmen eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts (§ 4 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 AsylG) bedarf es einer wertenden Gesamtbetrachtung auf der Grundlage einer quantitativen Ermittlung des Tötungs- und Verletzungsrisikos (Anschluss an VGH München BeckRS 2017, 100999 Rn. 4). (Rn. 15) (redaktioneller Leitsatz)
2. Es ist nicht ersichtlich, dass die UNAMA-Daten zu zivilen Konfliktopfern nicht hinreichend valide bzw. belastbar sein könnten. (Rn. 18) (redaktioneller Leitsatz)
3. Es ist davon auszugehen, dass ein alleinstehender und arbeitsfähiger Mann regelmäßig auch ohne nennenswertes Vermögen im Fall einer zwangsweisen Rückführung in sein Heimatland Afghanistan in der Lage wäre, durch Gelegenheitsarbeiten etwa in seiner Heimatregion oder in Kabul ein kleines Einkommen zu erzielen und damit wenigstens ein Leben am Rande des Existenzminimums zu bestreiten. (Rn. 25) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Der Kläger hat die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.

Gründe

Über den Rechtsstreit konnte trotz des Ausbleibens der Beklagten im Termin zur mündlichen Verhandlung entschieden werden, da das Bundesamt fristgemäß geladen und in der Ladung darauf hingewiesen wurde, dass bei Ausbleiben eines Beteiligten auch ohne diesen verhandelt und entschieden werden könne (§ 102 Abs. 2 VwGO). Die Beklagte hat mit allgemeiner Prozesserklärung vom 27. Juni 2017 auf Ladung gegen förmlichen Zustellnachweis verzichtet.
Die zulässige Klage bleibt in der Sache ohne Erfolg.
Der Kläger hat im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung bzw. Entscheidung des Gerichts (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG) keinen Anspruch auf Zuerkennung subsidiären Schutzes (§ 4 AsylG). Er hat auch keinen Anspruch auf Verpflichtung der Beklagten, ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 oder § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG festzustellen. Der Bescheid des Bundesamts vom 24. April 2017 ist daher rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten, § 113 Abs. 5, Abs. 1 Satz 1 VwGO. Das Gericht folgt der zutreffenden Begründung des Bescheids und sieht insoweit von einer Darstellung der Entscheidungsgründe ab (§ 77 Abs. 2 AsylG). Ergänzend wird folgendes ausgeführt:
1. Der Kläger hat keinen Anspruch auf die Zuerkennung subsidiären Schutzes.
1.1. Wie bereits das Bundesamt konnte auch das Gericht aufgrund des Vortrags des Klägers nicht die Überzeugung gewinnen, dass er vor seiner Ausreise aus Afghanistan unmittelbar von Verfolgung oder einer unmenschlichen Behandlung bedroht war und dass ihm im Falle der Rückkehr nach Afghanistan deshalb eine solche droht (zur Überzeugungsbildung vgl. BVerwG, U.v. 12.11.1985 – 9 C 27/85 – juris; BVerwG, U.v. 30.10.1990 – 9 C 72/89 – juris Rn. 15; OVG NRW, U.v. 17.8.2010 – 8 A 4063/06.A – juris Rn. 34).
Die geschilderten Probleme mit dem Onkel und dem Cousin des Klägers, die in erster Linie Streitigkeiten um die Grundstücke des Vaters des Klägers betreffen, weisen keine asylrechtlich relevante Qualität auf. Überdies ist es dem 26-jährigen Kläger zuzumuten, in seinem Heimatland ein eigenständiges Leben ohne den Onkel zu führen, wie dies auch der Bruder des Klägers in Afghanistan tut. Auch das ergänzende Vorbringen in der mündlichen Verhandlung, der Onkel sei nunmehr Dorfvorsteher, habe die Grundstücke der klägerischen Familie übernommen und habe versucht, den Sohn des Bruders des Klägers zu entführen, um den Bruder zum Verzicht auf das Erbe zu bewegen, begründet keine asylrechtlich relevante Gefahr eines ernsthaften Schadens für den Kläger. Das Verhalten des Onkels stellt rein kriminelles Unrecht dar, gegen das der Kläger in Afghanistan vorzugehen versuchen muss. Sollte dies keinen Erfolg versprechen, muss ihm letztlich zugemutet werden, auf das Erbe zu verzichten und ein eigenständiges Leben aufzubauen, um Schaden von seiner Person abzuwenden. Dem Onkel geht es dem Vortrag des Klägers zufolge allein um die Grundstücke und nicht um eine Verfolgung der Person des Klägers.
Von einer unmittelbaren und persönlichen Bedrohung hat der Kläger nicht berichtet. Nach alldem kann nicht davon ausgegangen werden, dass der Kläger sein Heimatland vorverfolgt verlassen hat.
1.2. Die allgemeine Gefährdungslage in Afghanistan bzw. in der Provinz Kabul, wohin wohl eine Abschiebung erfolgen würde und woher der Kläger stammt, erreicht auch unter Zugrundelegung der aktuellen Erkenntnismittel keine Intensität, aufgrund der bereits ohne das Vorliegen individueller gefahrerhöhender Umstände von der Erfüllung des Tatbestands des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG auszugehen wäre. Das Risiko, dort durch Anschläge Schaden an Leib oder Leben zu erleiden, ist nach den von der Rechtsprechung hierfür angelegten Maßstäben unterhalb der Schwelle der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (vgl. BayVGH, U.v. 8.11.2018 – 13a B 17.31918 – juris Rn. 14 ff.; BayVGH, B.v. 29.4.2019 – 13a ZB 19.31492 – juris Rn. 6 ff).
In der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts und des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs ist geklärt, unter welchen Voraussetzungen eine erhebliche individuelle Gefahr für Leib oder Leben im Rahmen eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts (§ 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG) besteht und dass es für die Feststellung der erforderlichen Gefahrendichte einer wertenden Gesamtbetrachtung auf der Grundlage einer quantitativen Ermittlung des Tötungs- und Verletzungsrisikos bedarf (vgl. BayVGH, U.v. 17.1.2017 – 13a ZB 16.30182 – juris Rn. 4 ff. m.w.N.). Eine Individualisierung der allgemeinen Gefahr kann auch dann, wenn individuelle gefahrerhöhende Umstände in der Person des Betroffenen fehlen, ausnahmsweise bei einer außergewöhnlichen Situation eintreten, die durch einen so hohen Gefahrengrad gekennzeichnet ist, dass praktisch jede Zivilperson allein aufgrund ihrer Anwesenheit in dem betroffenen Gebiet einer ernsthaften individuellen Bedrohung ausgesetzt wäre. Liegen keine gefahrerhöhenden persönlichen Umstände vor, ist somit ein besonders hohes Niveau willkürlicher Gewalt erforderlich (BayVGH, U.v. 17.1.2017 a.a.O. Rn. 5 m.w.N.). Zur Ermittlung der für die Annahme einer erheblichen individuellen Gefahr ausreichenden Gefahrendichte ist dabei aufgrund aktueller Quellen die Gesamtzahl der in der Herkunftsprovinz lebenden Zivilpersonen annäherungsweise zu ermitteln und dazu die Häufigkeit von Akten willkürlicher Gewalt sowie der Zahl der dabei Verletzten und Getöteten in Beziehung zu setzen. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist dabei ein Risiko von ca. 1:800 oder 0,125%, in der Herkunftsprovinz verletzt oder getötet zu werden, so weit von der Schwelle der für den subsidiären Schutz beachtlichen Wahrscheinlichkeit entfernt, dass sich das Fehlen einer wertenden Gesamtbetrachtung neben der rein quantitativen Ermittlung nicht auszuwirken vermag (BVerwG, U.v. 17.11.2011 – 10 C 13.10 – juris Rn. 22 f.).
An diesen, in der höchst- und obergerichtlichen Rechtsprechung gefestigten Maßstäben gemessen, ist für den Kläger nicht davon auszugehen, dass die für die Feststellung einer individuellen Bedrohung des Lebens oder der körperlichen Unversehrtheit im Rahmen eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts erforderliche Gefahrendichte auch nur möglicherweise annähernd erreicht wäre:
Zwar ist die Sicherheitslage anhaltend besorgniserregend und dauern die Kämpfe, die zahlreiche Opfer auch in der Zivilbevölkerung fordern, weiter an. Die im UNAMA-Jahresbericht 2019 vom 22. Februar 2020 (UNAMA, Afghanistan Annual Report on Protection of Civilians in Armed Conflict: 2019) ausgewiesenen zivilen Opferzahlen für das Jahr 2019 sind jedoch im Vergleich zum Vorjahr 2018 um 5 v.H. zurückgegangen und befinden sich auf dem niedrigsten Stand seit 2013. Bei einer Gesamtzahl konfliktbedingter ziviler Opfer im Jahr 2019 von 10.392 (3.403 Todesopfer; 6.989 Verletzte) und einer zugunsten der Antragsteller konservativ geschätzten Einwohnerzahl Afghanistans von nur etwa 27 Mio. Menschen (Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 2.9.2019, S. 20; die National Statistics and Information Authority Afghanistan – NSIA – geht für 2019/20 sogar von 32,2 Mio. Einwohnern Afghanistans aus) ergibt sich hieraus ein konfliktbedingtes Schädigungsrisiko von 1:2.598. Auch wenn man die Provinz Kabul zugrunde legt, für die UNAMA im Jahr 2019 die höchste absolute Zahl an zivilen Opfern registriert hat (1.563 zivile Opfer; UNAMA, S. 94), ergibt sich bei einer geschätzten Bevölkerungszahl der Provinz von 5.029.850 Menschen (BFA, Länderinformationsblatt Afghanistan, Gesamtaktualisierung v. 13.11.2019, S. 36) ein Schädigungsrisiko von 1:3.218. Wenngleich ab Mai dieses Jahres von offizieller Seite über eine erneute Zunahme von Kampfhandlungen und Anschlägen im Vergleich zum ersten Quartal 2020 berichtet wird, registrierte die UNAMA im ersten Halbjahr 2020 landesweit 3458 zivile Opfer aufgrund der gewaltsamen Auseinandersetzungen, was einen Rückgang gegenüber dem Vorjahr um rund 13% bedeutet und der niedrigste Wert seit 2012 ist. Für die Provinz Kabul wurden 338 zivile Opfer gezählt, so dass sich hochgerechnet auf das gesamte Jahr ein Schädigungs- und Verletzungsrisiko von 0,014% ergibt. Diese Werte sind derart weit von der Schwelle der beachtlichen Wahrscheinlichkeit entfernt, dass auch bei wertender Gesamtbetrachtung nicht von einer in Afghanistan oder Teilen hiervon aufgrund der Sicherheitslage jeder Zivilperson allein aufgrund ihrer Anwesenheit tatsächlich drohenden Gefahr ausgegangen werden kann (vgl. BVerwG, U.v. 17.11.2011 – 10 C 13.10 – NVwZ 2012, 454 – juris Rn. 22 f. zu einem Schädigungsrisiko von 1:800). Ein sich in diesem Bereich bewegender Gefahrengrad vermag auch unter Berücksichtigung einer etwaigen Dunkelziffer bzw. Untererfassung der zivilen Opfer noch nicht die Annahme einer Situation außergewöhnlicher allgemeiner Gewalt zu begründen (vgl. HessVGH, U.v. 27.9.2019 – 7 A 1923/14.A – juris Rn. 117 m.w.N.; NdsOVG, U.v. 29.1.2019 – 9 LB 93/18 – juris Rn. 63).
Dass die UNAMA-Daten zu zivilen Konfliktopfern nicht hinreichend valide bzw. belastbar sein könnten, ist von Seiten des Klägers weder substantiiert vorgetragen noch sonst ersichtlich. Insoweit ist klarzustellen, dass das Bundesverfassungsgericht (BVerfG, B.v. 25.4.2018 – 2 BvR 2435/17 – NVwZ 2018, 1563 – juris Rn. 35) nicht etwa selbst im Hinblick auf die Belastbarkeit und Validität der UNAMA-Daten grundlegende allgemeine Bedenken erhoben hat, sondern lediglich ausgeführt hat, dass von dritter Seite – etwa vom Schweizerischen Bundesverwaltungsgericht – derartige Bedenken erhoben würden; zudem sind diese Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts im Kontext der gesteigerten Anforderungen an eine offensichtlich unbegründete Klage im Sinn des § 78 Abs. 1 AsylG erfolgt.
Auch die Vorlagen des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg an den Europäischen Gerichtshof zu § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG (VGH BW, B.v. 29.11.2019 – A 11 S 2374/19 und A 11 S 2375/19 – juris) führen zu keiner anderen Bewertung der konfliktbedingten Gefahrendichte in Afghanistan. Die Vorlagebeschlüsse beziehen sich bereits ausdrücklich auf solche Kläger, die aus der Provinz Nangarhar stammen und denen nach Auffassung des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg deshalb kein interner Schutz nach § 3e AsylG zur Verfügung steht, weil es sich nicht um „erwachsene leistungsfähige Männer“, sondern um „Personen mit erhöhter Vulnerabilität“ handele; den vorgelegten Fällen lag ein alleinerziehender Witwer und verheirateter Kläger mit fünf Kindern zugrunde (a.a.O., juris Rn. 5, 13 ff. und 21 ff.). Der hiesige Kläger hingegen stammt aus der Provinz Kabul und gehört zur Gruppe der volljährigen, alleinstehenden und arbeitsfähigen afghanischen Staatsangehörigen. Unabhängig davon ist das Gericht der Auffassung, dass selbst dann, wenn man bei der Ermittlung der Gefahrendichte den vom Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg angedachten Bewertungsmaßstab einer „umfassenden Beurteilung auch anderer gefahrbegründender Umstände“ heranziehen wollte und dabei nicht auf eine (nach dem Verständnis des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg in der deutschen Rechtsordnung angenommene) „quantitative Mindestschwelle“ abstellen wollte, gemessen an den vorliegenden Erkenntnismitteln im Ergebnis unverändert davon auszugehen wäre, dass in Afghanistan und in der Provinz Kabul im Allgemeinen derzeit weiterhin keine hinreichende Gefahrendichte gegeben ist. Denn im Rahmen einer solchen umfassenden Beurteilung aller gefahrbegründenden Umstände würde sich letztlich durchgreifend auswirken, dass sich das konfliktbedingte Schädigungsrisiko mit 1:2.598 bzw. 1:3.218 deutlich unter 1:800 und damit auf einem nicht hinreichend hohen Niveau befindet. Zudem erschließt sich dem Gericht auch nicht, welche entscheidende Relevanz der Lebenssituation der Binnenvertriebenen und Rückkehrer bei der Ermittlung der konfliktbedingten Gefahrendichte zukommen sollte (vgl. zum Ganzen: BayVGH, B.v. 17.1.2020 – 13a ZB 20.30107 – juris Rn. 14 f.).
Im Übrigen geht auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte davon aus, dass die allgemeine Sicherheitslage in Afghanistan nicht derart ist, dass jede Überstellung dorthin notwendig Art. 3 EMRK verletzt (vgl. EGMR, U.v. 11.7.2017 – S.M.A./Netherlands, Nr. 46051/13 – Rn. 53; U.v. 11.7.2017 – Soleimankheel and others/Netherlands, Nr. 41509/12 – Rn. 51; U.v. 11.7.2017 – G.R.S./Netherlands, Nr. 77691/11 – Rn. 39; U.v. 11.7.2017 – E.K./Netherlands, Nr. 72586/11 – Rn. 67; U.v. 11.7.2017 – E.P. and A.R./Netherlands, Nr. 63104/11 – Rn. 80; U.v. 16.5.2017 – M.M./Netherlands, Nr. 15993/09 – Rn. 120; U.v. 12.1.2016 – A.G.R./Niederlande, Nr. 13442/08 – NVwZ 2017, 293 – Rn. 59). Insoweit hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in seinem Urteil vom 9. April 2013 (H. and B./United Kingdom, Nr. 70073/10 – Rn. 92 f.) festgestellt, dass es in Afghanistan keine allgemeine Gewaltsituation gibt, die zur Folge hätte, dass allein wegen der Abschiebung einer Person dorthin tatsächlich die Gefahr von Misshandlungen gegeben sei. In den vorgenannten Urteilen hat er angesichts der ihm mittlerweile vorliegenden Informationen an dieser Einschätzung festgehalten (vgl. zum Ganzen: BayVGH, B.v. 20.2.2018 – 13a ZB 17.31970 – juris Rn. 10).
Das Bestehen individueller, gefahrerhöhender Umstände, die eine Gefährdung im o.g. Sinne dennoch begründen könnten, ergibt sich für den Kläger nach dessen Vorbringen nicht. Auf obige Ausführungen wird Bezug genommen.
2. Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 oder 7 AufenthG liegen nicht vor. Anhaltspunkte dafür, dass die Abschiebung des Klägers nach der Europäischen Menschenrechtskonvention unzulässig ist bzw. für den Kläger in Afghanistan eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht, sind nicht ersichtlich.
2.1. Die allgemeine Versorgungslage in Afghanistan stellt keine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung i. S. d. Art. 3 EMRK dar.
Zwar können schlechte humanitäre Bedingungen eine auf eine Bevölkerungsgruppe bezogene Gefahrenlage darstellen, die zu einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinn von Art. 3 EMRK führt. Eine Verletzung des Art. 3 EMRK aufgrund humanitärer Verhältnisse kommt jedoch nur in außergewöhnlichen Fällen in Betracht, wenn die humanitären Gründe gegen die Ausweisung „zwingend“ sind (BayVGH, U.v. 21.11.2014 – 13a B 14.30285 – juris). Der Gerichtshof der Europäischen Union stellt in seiner neueren Rechtsprechung zu Art. 4 GRCh darauf ab, ob sich die betroffene Person unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befindet, die es ihr nicht erlaubte, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie insbesondere, sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden, und die ihre physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigte oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzte, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre (EuGH, U.v. 19.3.2019 – Ibrahim, C-297/17 u.a. – juris Rn. 89 ff.; U.v. 19.3.2019 – Jawo, C-163/17 – juris). Bei der Prüfung, ob ein Verstoß gegen Art. 3 EMRK vorliegt, ist nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte auf die Umstände an dem Ort abzustellen, an dem die Abschiebung endet; stellen die dortigen Umstände einen Verstoß gegen Art. 3 EMRK dar, ist darüber hinaus zu prüfen, ob auch in anderen Landesteilen solche Umstände vorliegen (vgl. EGMR, U.v. 28.6.2011 – 8319/07, HUDOC Rn. 265, 301 ff., 309 ff.). Davon geht auch die obergerichtliche Rechtsprechung aus (vgl. HessVGH, U.v. 23.8.2019 – 7 A 2750/15.A, juris Rn. 49; OVG Nds., U.v. 29.1.2019 – 9 LB 93/18, juris Rn. 53; BayVGH, U.v. 8.11.2018 – 13a B 17.31960, juris Rn. 41).
Nach der obergerichtlichen Rechtsprechung ist die Lage in Afghanistan für männliche arbeitsfähige afghanische Staatsangehörige ohne Unterhaltsverpflichtungen, auch ohne familiäres oder soziales Netz, weiterhin nicht so ernst, dass eine Abschiebung ohne weiteres eine Verletzung von Art. 3 EMRK darstellen würde und deshalb ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG anzunehmen wäre (BayVGH, U.v. 6.7.2020 – 13a B 18.32817 – juris; U.v. 28.11.2019 – 13a B 19.33361 – juris; U.v. 14.11.2019 – 13a B 19.31153, 13a B 19.33508 und 13a B 19.33359 – juris; VGH BW, U.v. 12.10.2018 – A 11 S 316/17- juris; VGH BW, U.v. 11.4.2018 – A 11 S 924/17 – juris Rn. 336). In Übereinstimmung mit dieser Rechtsprechung geht das Gericht weiterhin davon aus, dass ein alleinstehender und arbeitsfähiger Mann regelmäßig auch ohne nennenswertes Vermögen im Fall einer zwangsweisen Rückführung in sein Heimatland Afghanistan in der Lage wäre, durch Gelegenheitsarbeiten etwa in seiner Heimatregion oder in Kabul ein kleines Einkommen zu erzielen und damit wenigstens ein Leben am Rande des Existenzminimums zu bestreiten. Trotz großer Schwierigkeiten bestehen grundsätzlich auch für Rückkehrer durchaus Perspektiven im Hinblick auf die Sicherung des Lebensunterhalts, insbesondere Rückkehrer aus dem Westen sind auf dem Arbeitsmarkt allein aufgrund ihrer Sprachkenntnisse in einer vergleichsweise guten Position. Auf ein stützendes Netzwerk in Afghanistan oder einen vorherigen Aufenthalt im Heimatland kommt es hierbei nicht an; ausreichend ist vielmehr, dass eine hinreichende Verständigung in einer der afghanischen Landessprachen möglich ist (siehe zum Ganzen: BayVGH, U.v. 28.11.2019 – 13a B 19.33361 – juris; U.v. 14.11.2019 – 13a B 19.31153, 13a B 19.33508 und 13a B 19.33359 – juris; U.v. 8.11.2018 – 13a B 17.31918 – juris Rn. 14, 22; B.v. 20.2.2018 – 13a ZB 17.31970 – juris Rn. 6 m.w.N.; B.v. 29.11.2017 – 13a ZB 17.31251 – juris Rn. 6; B.v. 19.6.2017 – 13a ZB 17.30400 – juris Rn. 13; B.v. 4.1.2017 – 13a ZB 16.30600 – juris Rn. 4; U.v. 12.2.2015 – 13a B 14.30309 – juris).
Hieran hält das Gericht auch unter Berücksichtigung der aktuellsten Erkenntnismittel fest und folgt den diesbezüglichen Ausführungen des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs im Urteil vom 6. Juli 2020 (a.a.O.). Trotz der sich aus den neueren Erkenntnismitteln ergebenden besorgniserregenden humanitären Situation liegen keine Erkenntnisse vor, die hinreichend verlässlich den Schluss zuließen, dass jeder alleinstehende, arbeitsfähige männliche Rückkehrer mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit in Afghanistan eine Art. 3 EMRK widersprechende Behandlung zu erwarten hätte; die hohen Anforderungen aus Art. 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK sind daher weiterhin nicht erfüllt. Zudem liegen Erkenntnisse dahingehend, dass gerade auch leistungsfähige erwachsene männliche Rückkehrer in Afghanistan in großer Zahl oder sogar typischerweise von Obdachlosigkeit, Hunger, Krankheit betroffen oder infolge solcher Umstände gar verstorben wären, trotz hoher Rückkehrzahlen nicht vor (vgl. zum Ganzen bereits BayVGH, U.v. 8.11.2018 – 13a B 17.31918 – juris Rn. 32).
Dies gilt auch unter Berücksichtigung der aktuellen Entwicklungen durch die Corona-Pandemie (vgl. VG Freiburg U.v. 19.5.2020 – A 8 K 9604/17 – beckonli-ne BeckRS 2020, 12454 Rn. 35f.).
Für den Kläger besteht weiterhin die Möglichkeit, sein Existenzminimum zumindest auf niedrigem Niveau zu sichern. Zwar sind in Afghanistan derzeit Mobilität, soziale und geschäftliche Aktivitäten sowie Regierungsdienste eingeschränkt (Österreichisches Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Kurzinformation der Staatendokumentation, COVID-19 Afghanistan; Stand 29.6.2020 – Milo). Dem Lockdown Folge zu leisten, „social distancing“ zu betreiben und zu Hause zu bleiben sei für viele aber keine Option, da viele Afghan/innen arbeiten müssen, um ihre Familien versorgen zu können. Die Einschränkungen zur Bekämpfung der Pandemie seien weiterhin in Kraft, werden Berichten zufolge aber oft nicht beachtet und auch behördlicherseits nicht konsequent umgesetzt (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Gruppe 62 – Informationszentrum Asyl und Migration, Briefing Notes vom 6. Und 27. Juli 2020 sowie vom 7.9.2020). Zwischenzeitlich können beispielsweise die Bewohner von Kabul wieder ihrer Erwerbstätigkeit nachgehen (OCHA, Afghanistan – Brief No. 48 COVID-19, 28 May 2020, S. 3; OCHA, Afghanistan – Brief No. 55 COVID-19, 21 June 2020, S. 3f; BAMF, Briefing Notes Gruppe 62, 15. Juni 2020, S. 1; EASO Special Report: Asylum Trends and Covid-19, June 2020, S. 11). In den meisten Städten haben Geschäfte und Restaurants geöffnet (OCHA, Afghanistan – Strategic Situation Report: COVID-19, No. 65 (26 July 2020), S. 2). Einzelnen Erkenntnismitteln (vgl. z.B. OCHA, Afghanistan, C-19 Access Impediment Report, 1 July to 24 August 2020) lässt sich entnehmen, dass die afghanische Regierung die Wiedereröffnung von privaten Unternehmen, Universitäten und Hochzeitssälen unter Einhaltung der Maßnahmen zur sozialen Distanzierung zulässt. Private und staatliche Schulen würden wieder für 11. und 12. Klassen öffnen. Nach einer dreimonatigen Pause und nach der Wiederaufnahme internationaler Flugverbindungen wurden nun auch Inlandsflugverbindungen wieder aufgenommen (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Gruppe 62 – Informationszentrum Asyl und Migration, Briefing Notes vom 27. Juli 2020).
Wenngleich die Zahl der neu bestätigten Covid-19-Fälle in Afghanistan aktuell zurückgeht, ist verschiedenen Modellierungsstudien zufolge davon auszugehen, dass der Höhepunkt der Pandemie noch nicht erreicht ist und die Fallzahlen in den kommenden Wochen erneut ansteigen werden (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Gruppe 62 – Informationszentrum Asyl und Migration, Briefing Notes vom 7. September 2020).
Die in Afghanistan tätigen Hilfsorganisationen können weiterhin ihrer Tätigkeit nachgehen (z.B. OCHA, Afghanistan – Strategic Situation Report: COVID-19, No. 65 (26 July 2020) S. 2; OCHA, Afghanistan, C-19 Access Impediment Report, covering period from 7 to 25 April 2020). Neben Hilfe bei der Bewältigung der Corona-Pandemie leisten sie auch humanitäre Hilfe für Rückkehrer (OCHA, Afghanistan – Brief No. 55 COVID-19, 21 June 2020, S. 2). Daneben ist eine Kultur der Großzügigkeit, des Freiwilligendienstes und der Fürsorge innerhalb der Gemeinschaft wieder zum Vorschein gekommen. Landesweit verzichten viele Vermieter auf die Miete, Schneider verteilen tausend selbstgemachte Gesichtsmasken, Sportler liefern Lebensmittel an Krankenhäuser und Familien in Not (Österreichisches Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Kurzinformation der Staatendokumentation – COVID 19 Afghanistan; Stand: 2.4.2020, S. 1f).
Eine durch die Corona-Pandemie drastische Verschärfung der Versorgungslage mit Nahrungsmitteln ist derzeit nicht feststellbar. Nahrungsmittel sind auf nahezu allen Märkten erhältlich (IPC, Afghanistan – Acute Food Insecurity Analysis April 2020 – November 2020, May 2020, S. 3, allgemein abrufbar unter https://reliefweb.int/report/afghanistan/afghanistan-ipc-acute-food-insecurity-analysis-april-2020-november-2020-issued, Abruf am 7.8.2020). Allerdings wird in humanitären Geberkreisen von einer Armutsrate von 80% ausgegangen, und auch die Weltbank prognostiziert einen weiteren Anstieg ihrer Rate von 55% aus dem Jahr 2016, da das Wirtschaftswachstum durch die hohen Geburtenraten absorbiert wird und bedingt durch die Covid-19-Krise mit einer wirtschaftlichen Rezession zu rechnen ist (-8%; AA, Lagebericht vom 16.7.2020, Stand Juni 2020). UN-OCHA erwartet, dass 2020 bis zu 14 Millionen Menschen (2019: 6,3 Mio. Menschen) auf humanitäre Hilfe (u. a. mit Unterkunft, Nahrung, sauberem Trinkwasser und medizinischer Versorgung) angewiesen sein werden (Lagebericht vom 16.7.2020, a.a.O.). Die Organisation OXFAM berichtet, dass mehr als 1/3 der Bevölkerung Afghanistans von Ernährungsunsicherheit betroffen sei. Von diesen seien fast 4 Millionen Menschen nur einen Schritt von der Hungersnot entfernt (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Gruppe 62 – Informationszentrum Asyl und Migration, Briefing Notes vom 6. Juli 2020 und vom 13. Juli 2020). Denn die Preise für Lebensmittel sind um durchschnittlich 10% – 20% gestiegen, während das Einkommen der Haushalte Corona bedingt wegen eingeschränkter Erwerbsmöglichkeiten gesunken ist, wobei Einwohner ländlicher Gebiete nicht so stark betroffen sind, da sie im Gegensatz zur städtischen Bevölkerung die Möglichkeit der Selbstversorgung haben (IPC, Afghanistan – Acute Food Insecurity Analysis April 2020 – November 2020, May 2020, S. 3, allgemein abrufbar unter https://reliefweb.int/report/afghanistan/afghanistan-ipc-acute-food-insecurity-analysis-april-2020-november-2020-issued, Abruf am 7.8.2020; ACCORD, Afghanistan – COVID 19, 5. Juni 2020, S. 4). Es konnte aber erreicht werden, dass die Grenzübergänge in den Iran, nach Pakistan, Turkmenistan, Usbekistan und Tadschikistan für den Güterverkehr weiterhin geöffnet sind (OCHA, Afghanistan – Strategic Situation Report: COVID-19, No. 65 (26 July 2020), S. 2). Kasachstan, der Hauptlieferant Afghanistans mit Weizen, hat seine Exportbeschränkungen inzwischen aufgehoben (IPC, Afghanistan – Acute Food Insecurity Analysis April 2020- November 2020, May 2020, S. 2). Lokale Führer profilieren sich zudem, indem sie u.a. gegen Preistreiberei vorgehen. Auch hat eine Reihe von Religionsgelehrten und afghanischen Bürger/innen die Geschäftswelt und die Händler aufgefordert, von Preistreiberei und Hamstern Abstand zu nehmen (Österreichisches Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Kurzinformation der Staatendokumentation – COVID-19 Afghanistan; Stand: 2.4.2020, S. 2). Wenngleich für den städtischen Bereich noch eine weitere Steigerung der Anzahl von Nahrungsmittelunsicherheit betroffener Personen erwartet wird, wird insgesamt nach der Ernte mit einer Verbesserung der Nahrungsmittelversorgung gerechnet (IPC, Afghanistan – Acute Food Insecurity Analysis April 2020- November 2020, May 2020, S. 3, a.a.O.). So stellt die Weltgesundheitsorganisation (WHO) in ihrem landesweiten wöchentlichen Marktpreisbulletin für die erste Septemberwoche (Stand: 2.9.20) keine wesentlichen Preisänderungen gegenüber der Vorwoche fest (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Gruppe 62 – Informationszentrum Asyl und Migration, Briefing Notes vom 14.9.2020, allgemein abrufbar unter https://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Behoerde/Informationszentrum/BriefingNotes/2020/briefingnotes-kw38-2020.html?nn=282314). Für eine ungebremste Steigerung der Lebensmittelpreise oder allgemeine Engpässe bei der Versorgung mit Nahrungsmitteln ist daher derzeit nichts ersichtlich.
Die Anzahl der Tage pro Woche, an denen Arbeit zur Verfügung steht, liegt zwischen zwei (Kabul) und sechs (Bamyan). Der Verdienst für ungelernte Arbeitskräfte liegt zwischen 300 und 400 AFG pro Tag (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Gruppe 62 – Informationszentrum Asyl und Migration, Briefing Notes vom 14.9.2020, allgemein abrufbar unter https://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Behoerde/Informationszentrum/BriefingNotes/2020/briefingnotes-kw38-2020.html?nn=282314). Die Armutsgrenze liegt bei ca. 2.100 Afghani pro Person im Monat (World Bank/UNHCR, Living conditions and settlement decisions of recent Afghan returnees, 2019, S. 19, allgemein abrufbar unter https://doi.org/10.1596/31944; Amnesty International beziffert die Armutsgrenze bei ca. 1.200 Afghani im Monat, vgl. Amnesty International, Auskunft zur Sicherheitslage in Afghanistan, 5.2.2018, S. 55), wobei sie infolge des oben geschilderten Anstiegs der Nahrungsmittelpreise jüngst etwas höher liegen dürfte.
Hiervon ausgehend kann trotz der schwierigen wirtschaftlichen Lage erwartet werden, dass der Kläger als gesunder, leistungsfähiger junger Mann ohne Unterhaltsverpflichtungen in der Lage sein wird, durch eigene Erwerbsarbeit sein Existenzminimum zu sichern. Bei den Ausgangsbeschränkungen und wirtschaftlichen Einschränkungen wegen der Corona-Pandemie handelt es sich um ein temporäres Phänomen. Sie wurden zwischenzeitlich teilweise wieder aufgehoben bzw. gelockert, so dass die Aussicht besteht, dass sich die Erwerbsmöglichkeiten alsbald wieder verbessern. Der Kläger verfügt seinen Angaben zufolge über eine solide Schulbildung von zehn Jahren, womit er im Vergleich zu den noch immer vielen Analphabeten in Afghanistan im Vorteil ist, sowie über in Afghanistan erworbene Berufserfahrung als Verkäufer. Er ist damit weder in gesundheitlicher noch in wirtschaftlicher Hinsicht als vulnerabel anzusehen. Als Rückkehrer kann er zudem von verschiedenen Rückkehrhilfen profitieren (z.B. im Rahmen der Programme Assisted Voluntary Return, REAG/GARP- und des ERRIN-Programms, vgl. auch Lagebericht vom 16.7.2020, S. 24), die neben finanziellen Hilfen entweder für einen begrenzten Zeitraum selbst eine Unterkunft bereitstellen oder bei der Suche nach einer Unterkunft behilflich sind.
2.2. Auch ein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG ist im Fall des Klägers nicht festzustellen.
Im Hinblick auf die Lebensbedingungen, die einen Ausländer im Zielstaat erwarten – insbesondere die dort herrschenden wirtschaftlichen Existenzbedingungen und die damit zusammenhängende Versorgungslage – kann Abschiebungsschutz in verfassungskonformer Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG nur ausnahmsweise beansprucht werden, wenn der Ausländer bei einer Rückkehr aufgrund dieser Bedingungen mit hoher Wahrscheinlichkeit einer extremen Gefahrenlage ausgesetzt wäre. Nur dann gebieten es die Grundrechte aus Art. 1 Abs. 1 GG und Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG, ihm trotz einer fehlenden politischen Leitentscheidung nach § 60a Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 60 Abs. 7 Satz 6 AufenthG Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu gewähren. Wann danach allgemeine Gefahren von Verfassungs wegen zu einem Abschiebungsverbot führen, hängt wesentlich von den Umständen des Einzelfalls ab und entzieht sich einer rein quantitativen oder statistischen Betrachtung. Die drohenden Gefahren müssen jedoch nach Art, Ausmaß und Intensität von einem solchen Gewicht sein, dass sich daraus bei objektiver Betrachtung für den Ausländer die begründete Furcht ableiten lässt, selbst in erheblicher Weise ein Opfer der extremen allgemeinen Gefahrenlage zu werden. Bezüglich der Wahrscheinlichkeit des Eintritts der drohenden Gefahren ist von einem im Vergleich zum Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit erhöhten Maßstab auszugehen. Die Gefahren müssen dem Ausländer daher mit hoher Wahrscheinlichkeit drohen. Dieser Wahrscheinlichkeitsgrad markiert die Grenze, ab der seine Abschiebung in den Heimatstaat verfassungsrechtlich unzumutbar erscheint. Der erforderliche hohe Wahrscheinlichkeitsgrad ist ohne Unterschied in der Sache in der Formulierung mit umschrieben, dass die Abschiebung dann ausgesetzt werden müsse, wenn der Ausländer ansonsten „gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert würde“. Schließlich müssen sich diese Gefahren alsbald nach der Rückkehr realisieren. Dies bedeutet nicht, dass im Fall der Abschiebung der Tod oder schwerste Verletzungen sofort, gewissermaßen noch am Tag der Abschiebung, eintreten müssen. Vielmehr besteht eine extreme Gefahrenlage beispielsweise auch dann, wenn der Ausländer mangels jeglicher Lebensgrundlage dem baldigen sicheren Hungertod ausgeliefert werden würde (vgl. zum Ganzen: BVerwG, U.v. 29.9.2011 – 10 C 23.10 – NVwZ 2012, 244 – juris Rn. 21 f.; B.v. 14.11.2007 – 10 B 47.07 u.a. – juris Rn. 3; vgl. BayVGH, U.v. 8.11.2018 – 13a B 17.31918 – juris Rn. 40 m.w.N; VGH BW, U.v. 26.6.2019 – A 11 S 2108/18 – juris Rn. 131 ff.; OVG NW, U.v. 18.6.2019 – 13 A 3930/18 – juris Rn. 313 ff.; NdsOVG, U.v. 29.1.2019 – 9 LB 93/18 – juris Rn. 188 ff.).
Unter Berücksichtigung obiger Grundsätze und der aktuellen Erkenntnismittel sind die Voraussetzungen aus § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG im Fall des Klägers nicht gegeben. Insoweit wird auf die vorstehenden Ausführungen zu § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK verwiesen. Insbesondere sind hinsichtlich allgemeiner Gefahren im Zielstaat die Anforderungen in § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG (eine mit hoher Wahrscheinlichkeit drohende Extremgefahr) höher als jene in § 60 Abs. 5 AufenthG (BVerwG, B.v. 23.8.2018 – 1 B 42.18 – juris Rn. 13), so dass im Lichte des Nichtvorliegens eines Abschiebungsverbots aus Art. 60 Abs. 5 AufenthG erst recht die Voraussetzungen aus § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG in verfassungskonformer Anwendung nicht gegeben sind (vgl. BayVGH, U.v. 8.11.2018 – 13a B 17.31918 – juris Rn. 41 m.w.N.).
Es besteht auch kein Abschiebungsverbot aus gesundheitlichen Gründen. Auch vor dem Hintergrund der sich auch in Afghanistan ausbreitenden Corona-Pandemie ist nichts dafür ersichtlich, dass der Kläger als internistisch gesunder, ca. 26-jähriger junger Mann bei einer Rückkehr nach Afghanistan so schwer an dem Virus erkranken könnte, dass er, auch aufgrund mangelhafter medizinischer Versorgung, in eine existenzielle Gesundheitsgefahr geraten könnte (vgl. dazu OVG NRW, B.v. 30.12.2004 – 13 A 1250/04.A – juris Rn. 56). Dass den Kläger ein besonderes Risiko trifft, bei einer Infektion mit dem neuartigen Coronavirus schwer zu erkranken, ist weder dargelegt noch sonst ersichtlich. Bei jungen Menschen ohne relevante Vorerkrankungen geht eine derartige Infektion zumeist nur mit leichten Symptomen einher, die von selbst ausheilen. Schwere Verläufe sind in dieser Personengruppe eher selten (vgl. Steckbrief des RKI, https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Steckbrief.html, abgerufen am 22.9.2020). Von den 1436 bis zum 17. September 2020 in Afghanistan nachweislich mit oder an COVID-19 Verstorbenen war die Mehrheit zwischen 50 und 69 Jahre alt (OCHA, Strategic Situation Report No. 77 v. 17.9.2020, allgemein abrufbar unter https://reliefweb.int/report/afghanistan/afghanistan-strategic-situation-report-covid-19-no-77-17-september-2020). Es ist daher nicht beachtlich wahrscheinlich, dass der Kläger schwerwiegend oder gar lebensbedrohlich erkranken würde.
3. Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO, § 83b AsylG. Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff ZPO.


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