Verwaltungsrecht

Erfolgloser Antrag auf Gewährung von Prozesskostenhilfe im Klageverfahren gegen eine ausländerrechtliche Aufenthaltsbeschränkung und Meldeauflage

Aktenzeichen  Au 1 K 21.970

Datum:
1.7.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 30869
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Augsburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AufenthG § 54a Abs. 1 S. 1, § 56 Abs. 2
VwGO § 166
ZPO § 114 Abs. 1 S. 1
BayVwVfG Art. 51

 

Leitsatz

1. Hinreichende Erfolgsaussicht ist etwa dann gegeben, wenn schwierige Rechtsfragen zu entscheiden sind, die im Hauptsacheverfahren geklärt werden müssen. Auch wenn eine Beweisaufnahme ernsthaft in Betracht kommt und keine konkreten Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass diese mit großer Wahrscheinlichkeit zum Nachteil des Mittellosen ausgehen wird, ist vorab Prozesskostenhilfe zu gewähren.  (Rn. 19) (redaktioneller Leitsatz)
2. Insgesamt dürfen die Anforderungen an die Erfolgsaussichten eines gerichtlichen Verfahrens nicht überspannt werden, eine gewisse Wahrscheinlichkeit des Erfolges genügt. Denn die Rechtsverfolgung darf nicht in das summarische Verfahren der Prozesskostenhilfe vorverlagert werden und unbemittelten Personen soll ein weitgehend gleicher Zugang zum Gericht ermöglicht werden wie Personen, denen ausreichende finanzielle Mittel zur Verfügung stehen.  (Rn. 19) (redaktioneller Leitsatz)
3. Die Behörde handelt grundsätzlich nicht ermessensfehlerhaft, wenn sie ein Wiederaufgreifen im Hinblick auf die rechtskräftige Bestätigung ihrer Entscheidung ablehnt. In diesen Fällen bedarf es regelmäßig keiner weiteren ins Einzelne gehenden Ermessenserwägungen der Behörde.  (Rn. 25) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe wird abgelehnt.

Gründe

I.
Der Kläger, ein am … 1980 geborener irakischer Staatsangehöriger, begehrt die Erleichterung von Überwachungsmaßnahmen.
Er reiste am 28. Februar 2000 in das Bundesgebiet ein und erhielt durch das … mit Bescheid vom 26. Juli 2000 die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt. Mit Bescheid vom 10. Mai 2007 widerrief das … die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft und stellte fest, dass Abschiebungsverbote gemäß § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG nicht vorliegen würden. Eine hiergegen erhobene Klage (Au 5 K 07.30164) wurde mit Urteil vom 15. Oktober 2007 und die hiergegen zugelassene Berufung mit Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 19. Juli 2018 (20 B 18.30800) abgewiesen. Die Revision gegen dieses Urteil wurde durch Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts vom 5. November 2018 (1 B 78.18) nicht zugelassen.
Mit Bescheid vom 28. Oktober 2010 wurde der Kläger aus der Bundesrepublik ausgewiesen (Ziffer 1) und eine Wiedereinreise untersagt (Ziffer 2). In Ziffer 3 wurden zuvor gestellte Anträge auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis abgelehnt und in Ziffer 4 der Kläger verpflichtet, innerhalb eines Monats nach Vollziehbarkeit des Widerrufs seiner Flüchtlingseigenschaft das Bundesgebiet zu verlassen. In Ziffer 5 wurde ihm die Abschiebung in den Irak angedroht. Gemäß Ziffer 6 wird der Aufenthalt des Klägers von der Vollziehbarkeit der Ausweisungsverfügung an bis zu seiner Ausreise auf das Stadtgebiet … beschränkt. Nach Ziffer 7 ist der Kläger verpflichtet, ab Vollziehbarkeit der Ausweisung bis zu seiner Ausreise sich einmal täglich zwischen 17:00 und 19:00 Uhr bei der Polizeiinspektion … zu melden. Bei Nichtbeachtung der in Ziffern 6 und 7 festgelegten Pflichten wurde in Ziffer 8 ein Zwangsgeld angedroht. Gegen diesen Bescheid ließ der Kläger Klage erheben, welcher mit Urteil des Verwaltungsgerichts Augsburg vom 5. Juli 2011 (Au 1 K 10.1876) stattgegeben wurde. Mit Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 8. Januar 2020 (10 ZB 11.1878) wurde die Klage auf die Berufung des Beklagten hin abgewiesen. Mit Beschluss vom 4. Mai 2020 (1 B 17.20) ließ das Bundesverwaltungsgericht die Revision nicht zu.
Am 22. Juni 2020 erhob der Kläger Verfassungsbeschwerde (2 BvR 1075/20), über welche noch nicht entschieden worden ist.
Am 20. Juli 2020 beantragte der Bevollmächtigte des Klägers die Aufhebung der Ziffern 6, 7 und 8 des Bescheids vom 28. Oktober 2010. Mit Bescheid vom 5. August 2020 lehnte der Beklagte diesen Antrag ab, wogegen sich der Kläger mit Klage vom 28. August 2020 (Au 1 K 20.1504) wandte. Nach Bewilligung der Prozesskostenhilfe durch den Bayerischen Verwaltungsgerichtshof vom 12. Februar 2021 nahm der Beklagte am 30. März 2021 den Bescheid vom 5. August 2020 zurück. Das Verfahren wurde nach übereinstimmender Erledigterklärung mit Beschluss vom 16. April 2021 eingestellt.
Mit weiterem Bescheid vom 30. März 2021 lehnte der Beklagte den Antrag des Klägers vom 20. Juli 2020 hinsichtlich der Aufhebung der Ziffern 6, 7 und 8 des Bescheids vom 28. Oktober 2010 erneut ab. Der Antrag sei nach der Rechtsauffassung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs als Wiederaufgreifensantrag im weiteren Sinne nach Art. 51 Abs. 5 BayVwVfG i.V.m. Art. 48, 49 BayVwVfG anzusehen. Hierbei bestehe für den Kläger ein Anspruch auf fehlerfreie Ermessensausübung. Ein Anspruch auf Wiederaufgreifen des Verfahrens bestehe hingegen nur, wenn die Aufrechterhaltung des Erstbescheids schlechthin unerträglich sei, was von den Umständen des Einzelfalls und einer Gewichtung der einschlägigen Gesichtspunkte abhänge. Im Fall des Klägers falle die Ermessensausübung zu dessen Ungunsten aus.
Die Aufenthaltsbeschränkung (Ziffer 6 des Ausweisungsbescheids) beruhe auf § 56 Abs. 2 AufenthG, welcher § 54a Abs. 1 Satz 1 AufenthG zum Zeitpunkt des ursprünglichen Bescheidserlasses vom 28. Oktober 2010 (a.F.) entspreche. Die gesetzliche Vorgabe diene der Gefahrenabwehr und solle die Gefahr der Weiterführung von Handlungen im Vorfeld des Terrorismus eindämmen, wenn mit einer baldigen Aufenthaltsbeendigung des Ausländers nicht zu rechnen sei. Die räumliche Beschränkung aus § 56 Abs. 2 AufenthG sei verhältnismäßig, da sie geeignet sei, die vom Kläger ausgehende Gefährlichkeit weitestgehend bzw. so weit wie möglich zu unterbinden. Sie sei erforderlich, da ansonsten die Überwachbarkeit nicht effektiv gewährleistet werden könne. Die Beschränkung des Aufenthalts schränke sicherheitsrelevante Aktivitäten im starken Maße ein. Eine Abweichung vom gesetzlichen Normalfall stehe zwar im Ermessen der Ausländerbehörde, komme jedoch im Falle des Klägers nicht in Betracht, da von diesem – wie vom Bayerischen Verwaltungsgerichtshof im Urteil vom 8. Januar 2020 festgestellt – nach wie vor eine Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik ausgehe. Seit dem Urteil seien keine Tatsachen bekannt geworden, welche die Annahme einer reduzierten Gefahr rechtfertigen würden. Insbesondere streite der Kläger Unterstützungshandlungen zu AAI nach wie vor ab, sodass von einer Einsicht des Klägers hinsichtlich der Unrichtigkeit des ihm vorgeworfenen Handelns nicht ausgegangen werden könne. Allein der lange Zeitablauf seit dem Erlass der Ausweisungsverfügung reiche für ein Abstandnehmen nicht aus. Darüber hinaus lägen Erkenntnisse vor, welche dafürsprechen würden, dass der Kläger weiterhin islamistischem Gedankengut anhänge. Er habe auch nach seiner Ausweisung Kontakt zu Personen unterhalten, welche der islamistischen bzw. salafistischen Szene zuzuordnen seien. Zudem habe er im Jahr 2015 an Koranverteileraktionen der inzwischen verbotenen Organisation „Die wahre Religion“ teilgenommen, welche sich gegen die verfassungsmäßige Ordnung sowie den Gedanken der Völkerverständigung richte. Das öffentliche Interesse der Gefahrenabwehr überwiege daher deutlich das persönliche Interesse des Klägers, insbesondere die allgemeine Handlungsfreiheit. Soziale Kontakte könnten auch durch Besuche in der Wohnung des Klägers bzw. durch gemeinsame Aktivitäten im Stadtgebiet … aufrechterhalten werden. Der Kläger lebe zusammen mit seinen Kindern und der Kindsmutter in, sodass das familiäre Zusammenleben durch die räumliche Beschränkung nicht beeinträchtigt sei. Eine Erwerbstätigkeit außerhalb des Stadtgebiets liege ebenfalls nicht vor.
Die Meldeauflage (Ziffer 7 des Ausweisungsbescheids) beruhe nun auf § 56 Abs. 1 Satz 1 AufenthG, welcher dem damaligen § 54a Abs. 1 Satz 1 AufenthG (a.F.) entspreche. Die gesetzliche wöchentliche Meldeauflage sei im Fall des Klägers durch den Ausweisungsbescheid in eine tägliche Meldeauflage geändert worden. Die tägliche Meldepflicht sei ein geeignetes, erforderliches und angemessenes Mittel, um die vom Kläger ausgehende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung kontrollieren und überwachen zu können. Insbesondere sei die Beschränkung notwendig und geeignet, um längere unbemerkte Aufenthalte außerhalb des zugewiesenen Bereiches unterbinden zu können. Ein milderes Mittel sei weder ersichtlich, noch stehe es zur Verfügung. Die Meldeauflage sei zudem angemessen, da das öffentliche Interesse an einer Gefahrenabwehr die privaten Interessen überwiegen würde. Es sei zwar zutreffend, dass die Meldeverpflichtung erstmals knapp zehn Jahre nach deren Erlass in Kraft getreten sei, daraus ergebe sich jedoch kein Anspruch auf künftigen Verzicht. Das Versäumnis der damals zuständigen Behörde, einen Sofortvollzug anzuordnen, sei unbeachtlich. Das Vorbringen des Klägers, er habe keine Straftaten begangen und seinen Lebensunterhalt durch eigene Erwerbstätigkeit finanziert, würden eine Änderung der Meldeauflage nicht rechtfertigen, da es sich hierbei um sachfremde Erwägungen handeln würden. Die Gefährlichkeit des Klägers sei im Januar 2020 durch rechtskräftigen Abschluss des Klageverfahrens gegen die Ausweisung bestätigt worden.
Gegen diesen Bescheid ließ der Kläger durch seinen Bevollmächtigten am 19. April 2021 Klage erheben. Der Bescheid des Beklagten sei ermessensfehlerhaft ergangen. Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof sei in seiner rechtskräftigen Entscheidung vom 8. Januar 2020 davon ausgegangen, dass der Kläger durch die Beteiligung an Geldsammlungen für die AAI ein besonders schwerwiegendes Ausweisungsinteresse durch Unterstützung einer terroristischen Vereinigung verwirklicht habe. Die der Ausweisung zu Grunde liegende Norm habe den Zweck, auch in Fällen, in denen es für die Eröffnung eines Strafverfahrens keinen ausreichenden Tatverdacht gebe, eine Ausweisung zu ermöglichen. Auf dieser Grundlage seien zur Unterbindung einer Gefährdung der freiheitlichdemokratischen Grundordnung oder der Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland weitere grundrechtseinschränkende Maßnahmen möglich. Eine Ermessensentscheidung über die Aufhebung oder Abänderung der im Jahr 2010 verfügten Überwachungsmaßnahmen müsse daher notwendigerweise eine aktuelle Gefährdungsprognose beinhalten, insbesondere, ob eine Gefährdung durch den Kläger zum Zeitpunkt der Entscheidung noch bestehe. Hiermit setze sich die angefochtene Entscheidung nicht in dem gebotenen Umfang auseinander. Vielmehr stütze sich der Beklagte nur auf die Gefährdungsprognose des Verwaltungsgerichtshofs, ohne eine eigene Bewertung vorzunehmen. Der Beklagte hätte jedoch berücksichtigen müssen, dass lediglich ein untergeordnetes Gewicht der damaligen Gefährdung hinsichtlich des Klägers bestanden habe. So habe der Senatsvorsitzende in der Berufungsverhandlung ausgeführt, dass dieser lediglich Spenden im höchstens zweistelligen Eurobereich gesammelt habe und der Sachverhalt daher am unteren Rand des § 54 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG angesiedelt sei. Zudem habe der Beklagte verkannt, dass das damalige Verhalten des Klägers aufgrund inzwischen eingetretener Entwicklungen ein geringeres Gefährdungspotenzial im Vergleich zu damals aufweise. Die AAI sei als Organisation inzwischen nicht mehr existent, wenngleich sich verbliebene Mitglieder vor Jahren dem IS unterstellt hätten. Der IS habe durch seine militärische Niederlage und den Verlust vormals beherrschter Landstriche an Attraktivität für potentielle Mitglieder und Unterstützer verloren, sodass selbst bei einem angenommenen früheren Kontakt des Klägers zur AAI bereits durch die allgemeinen politischen Bedingungen ein wesentlich verringertes Gefährdungspotenzial vorhanden sei. Zudem habe sich die persönliche Situation des Klägers geändert. In den Jahren 2003/2004 sei der Kläger ein junger alleinstehender Mann gewesen. Diese Bevölkerungsgruppe sei nach soziologischen Untersuchungen am anfälligsten für radikale und die Gewaltausübung einschließende Ideen und Handlungen. Inzwischen sei der Kläger seit Jahren religiös verheiratet und lebe mit seiner Ehefrau und den gemeinsamen drei Kindern ununterbrochen in einer Lebensgemeinschaft zusammen. In dieser Zeit habe er den Lebensunterhalt der Familie überwiegend durch eigene, legale und unselbstständige Erwerbstätigkeit gesichert. Bis zum Eintritt der Rechtskraft der Ausweisung habe sich der Kläger innerhalb Deutschlands frei bewegen können, wenngleich er von dieser Möglichkeit mit Ausnahme einer Berufstätigkeit in … nur selten Gebrauch gemacht habe. In der gesamten Zeit von 2005 bis heute habe der Kläger keine Aktivitäten entfaltet, die die Sicherheit der Bundesrepublik oder anderer Staaten gefährdete. Er sei vielmehr ein gläubiger sunnitischer Muslim, der seinen Glauben auch durch regelmäßige Moscheebesuche, Spenden für Bedürftige und die Einhaltung der Fastenregel praktiziere. Es sei zwar möglich, dass er Kontakt mit Glaubensgenossen gehabt habe, welche radikale islamistische Überzeugungen hätten, der Kläger sei hierüber jedoch nicht informiert. Die lediglich flüchtige Bekanntschaft des Klägers mit anderen Personen sei kein Indiz für eine von ihm ausgehende Sicherheitsgefährdung. In der Gesamtschau sei es schlechthin unerträglich, an der Aufrechterhaltung der aus der Ausweisung abgeleiteten, allerdings nicht zwingenden Überwachungsmaßnahmen festzuhalten. Letztlich sei festzustellen, dass trotz der mutmaßlich schwerwiegenden Gefährdung durch den Kläger in den letzten zehn Jahren seit der Ausweisungsverfügung kein Sofortvollzug angeordnet worden sei, obwohl die nunmehr zuständige Behörde dies jederzeit nachträglich hätte anordnen können. Das Verhalten des Beklagten sei daher widersprüchlich, woraus zu folgern sei, dass die Sicherheitsbehörden in Wahrheit keine vom Kläger persönlich ausgehende schwerwiegende Sicherheitsgefährdung angenommen hätten.
Der Kläger beantragt,
I. Der Bescheid des Bayerischen Landesamtes … vom 30. März 2021 (Az.: …), der in Kopie in Anlage beigefügt ist, wird aufgehoben.
II. Der Beklagte wird verpflichtet, über den Antrag auf Auf hebung der Ziffern 6, 7 und 8 der Ausweisungsverfügung der Regierung von … vom 28. Oktober 2010 unter Berücksichtigung der Rechtsauffassung des Gerichts erneut zu entscheiden.
Hierfür begehrt der Kläger die Bewilligung von Prozesskostenhilfe und Anwaltsbeiordnung.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Die zulässige Klage sei unbegründet, da der Bescheid vom 30. März 2021 den Kläger nicht in seinen Rechten verletze. Die Vorschrift des § 56 AufenthG diene der Gefahrenabwehr und solle die von ausgewiesenen Ausländern ausgehende Gefahr der Weiterführung von Handlungen im terroristischen Umfeld eindämmen, insbesondere, wenn mit einer baldigen Aufenthaltsbeendigung nicht zu rechnen sei. Der Bescheid sei ermessensgerecht, insbesondere habe der Beklagte eine eigene Abwägung getroffen. Auch nach 15 Jahren habe sich der Kläger noch nicht glaubhaft von seinen Unterstützungshandlungen zu Gunsten der AAI distanziert. Er streite diese nach wie vor ab, sodass ein Abstandnehmen nicht ersichtlich sei. Allein der lange Zeitablauf sei ohne entsprechende Einsicht und nach außen wirkendes Verhalten nicht ausreichend. Darüber hinaus sei der Kläger nach wie vor im islamistischsalafistischem Spektrum vernetzt, dessen Gefährlichkeit sich in einem hohen Gewaltpotential und der Verwirklichung von Anschlägen in der Vergangenheit im Bundesgebiet niederschlage. Im Jahr 2015 habe der Kläger an einer Koranverteilaktion der salfistischen Vereinigung „LIES!/LIES-Stiftung/Die wahre Religion“ teilgenommen, welche sich zum Ziel gesetzt habe, die verfassungsmäßige Ordnung zu verdrängen und den bewaffneten Jihad befürworte. Die einstmals durch den Kläger unterstütze AAI habe sich formal nicht aufgelöst, sondern dem sogenannten „Islamischen Staat“ (IS) angeschlossen, welcher trotz seiner Niederlage in Syrien bzw. dem Irak weiterhin als Untergrundorganisation tätig sei und von welcher nach Einschätzung der Sicherheitsbehörden nach wie vor eine große Anschlagsgefahr ausgehe. Die Auflösung des AAI führe zudem nicht zu einer Reduktion der Gefahr des Klägers, da dieser auch die Nähe zu anderen extremistischen Organisationen suche. Angesichts der Radikalisierung in der Vergangenheit führe die Tatsache, dass der Kläger nunmehr kein junger alleinstehender Mann mehr sei, nicht zu einer reduzierten Gefahrenprognose. Ein Verstoß gegen den Grundsatz des Verbots des widersprüchlichen Behördenhandelns liege nicht vor. Zwar habe die seinerzeit zuständige Regierung von Oberbayern versäumt, den Sofortvollzug der Auflagen anzuordnen, dennoch ergebe sich daraus kein Anspruch auf Unterlassung von Überwachungsmaßnahmen, wenn dies zur Gefahrenabwehr notwendig sei.
Ergänzend wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie der von der Beklagten vorgelegten Behördenakte Bezug genommen.
II.
Dem Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe konnte nicht entsprochen werden.
Gemäß § 166 VwGO i.V.m. § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO erhält eine Partei, die nach ihren persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht, nur zum Teil oder nur in Raten aufbringen kann, auf Antrag Prozesskostenhilfe, wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint. Hinreichende Erfolgsaussicht ist etwa dann gegeben, wenn schwierige Rechtsfragen zu entscheiden sind, die im Hauptsacheverfahren geklärt werden müssen. Auch wenn eine Beweisaufnahme ernsthaft in Betracht kommt und keine konkreten Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass diese mit großer Wahrscheinlichkeit zum Nachteil des Mittellosen ausgehen wird, ist vorab Prozesskostenhilfe zu gewähren (vgl. BVerfG, B.v. 14.4.2003 – 1 BvR 1998/02 – NJW 2003, 2976). Insgesamt dürfen die Anforderungen an die Erfolgsaussichten eines gerichtlichen Verfahrens nicht überspannt werden, eine gewisse Wahrscheinlichkeit des Erfolges genügt. Denn die Rechtsverfolgung darf nicht in das summarische Verfahren der Prozesskostenhilfe vorverlagert werden und unbemittelten Personen soll ein weitgehend gleicher Zugang zum Gericht ermöglicht werden wie Personen, denen ausreichende finanzielle Mittel zur Verfügung stehen (ständige Rechtsprechung, vgl. BVerfG, B.v. 4.5.2015 – 1 BvR 2096/13; Eyermann, VwGO, 15. Auflage 2019, § 166 Rn. 26).
Gemessen daran konnte dem Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe nicht entsprochen werden, da die durch den Kläger erhobene Klage aller Voraussicht nach erfolglos bleiben wird. Die zulässige Klage ist unbegründet, da der Bescheid des Beklagten voraussichtlich rechtmäßig ist und der Kläger keinen Anspruch auf ein Wiederaufgreifen des Verfahrens hat (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO).
1. Rechtsgrundlage für die nachträgliche Korrektur der Ziffern 6 bis 8 des bestands kräftig gewordenen Bescheids des Beklagten vom 28. Oktober 2010 ist Art. 51 BayVwVfG.
2. Der Kläger hat keinen Anspruch auf ein Wiederaufgreifen des Verfahrens nach Art. 51 Abs. 1 BayVwVfG, da seit dem Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 8. Januar 2020 (10 ZB 11.1878) keine Änderung der Sach- und Rechtslage eingetreten ist (VG Augsburg, B.v. 27.11.2020 – Au 1 K 20.1504 – Rn. 22 f.; BayVGH, B.v. 12.2.2021 – 10 C 20.3061 – Rn. 13). Eine solche hat der Klägerbevollmächtigte auch nicht vorgetragen. Nach der Klagebegründung vom 17. Mai 2021 bezieht sich der Bevollmächtigte auf den bereits dem Urteil vom 8. Januar 2020 zu Grunde liegenden Sachverhalt. Neue Tatsachen, die eine günstigere Entscheidung möglich erscheinen lassen könnten, wurden dagegen nicht vorgetragen. Allein der zeitliche Fortschritt des Sachverhalts seit dem Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs stellt aufgrund des bislang geringen Zeitablaufs keine neue Tatsache dar. Nötig wäre bei Dauersachverhalten insoweit ein „Qualitätssprung“, d.h. eine Entwicklung bzw. Verdichtung einer geänderten Sachlage insoweit, als insgesamt von einer entscheidungserheblichen Veränderung auszugehen ist (BVerfG, B.v. 12.2.2008 – 2 BvR 1262/07 – juris Rn. 15). Soweit sich der Klägerbevollmächtigte darauf beruft, dass sich der Kläger bis zum 4. Mai 2020 im Bundesgebiet habe frei bewegen dürfen, liegt auch darin keine Sachverhaltsänderung, da sich dies als gesetzliche Folge der nicht für sofort vollziehbar erklärten Anordnung in Ziffer 6 des Bescheids vom 28. Oktober 2010 sowie aus den abweisenden Entscheidungen ergibt und somit von ihnen umfasst ist.
Auch neue Beweismittel oder Wiederaufgreifensgründe im Sinne der Zivilprozessordnung sind nicht ersichtlich (Art. 51 Abs. 1 Nrn. 2, 3 BayVwVfG).
3. Ein Wiederaufgreifen des Verfahrens im weiteren Sinne liegt ebenfalls nicht vor. Nach Art. 51 Abs. 5 BayVwVfG i.V.m. Art. 48, 49 BayVwVfG kann die Behörde – auch wenn die in Art. 51 Abs. 1 BayVwVfG normierten Voraussetzungen nicht vorliegen – ein abgeschlossenes Verwaltungsverfahren nach pflichtgemäßem Ermessen zugunsten des Betroffenen wiederaufgreifen und eine neue Sachentscheidung treffen (sog. Wiederaufgreifen im weiteren Sinne). Eine Durchbrechung der Rechtskraft erfordert zunächst eine im Ermessen der Behörde liegende Positiventscheidung zum Wiederaufgreifen (Stufe 1), bevor eine neue Sachentscheidung getroffen wird (Stufe 2). Mit der Befugnis der Behörde, ein rechtskräftig abgeschlossenes Verwaltungsverfahren im Ermessenswege wiederaufzugreifen, korrespondiert ein – nach Art. 19 Abs. 4 GG gerichtlich einklagbarer – Anspruch des Betroffenen auf fehlerfreie Ermessensausübung (vgl. BVerfG, B.v. 27.9.2007 – 2 BvR 1613/07; BVerwG, U.v. 21.3.2000 – 9 C 41.99).
Im Rahmen des Wiederaufgreifensermessens hat die Behörde insbesondere die Aspekte der Rechtssicherheit und Gerechtigkeit, die Umstände des Einzelfalls, wie Besonderheiten des Rechtsgebiets, die Bedeutung der Belastung für den Betroffenen, besondere Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Verwaltungsakts, die verstrichene Zeit, das Verhältnis zu Parallelfällen, die Anzahl gleichgelagerter anderer Verwaltungsakte oder etwa die Verantwortlichkeit der Behörde für das Unanfechtbarwerden des Verwaltungsakts zu berücksichtigen (Sachs, in: Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, 9. Auflage 2018, Rn. 18 zu § 51). Dabei handelt die Behörde grundsätzlich nicht ermessensfehlerhaft, wenn sie ein Wiederaufgreifen im Hinblick auf die rechtskräftige Bestätigung ihrer Entscheidung ablehnt. In diesen Fällen bedarf es regelmäßig keiner weiteren ins Einzelne gehenden Ermessenserwägungen der Behörde (BVerwG, U.v. 22.10.2009 – 1 C 15/08 – juris Rn. 26).
a) Unter Berücksichtigung dieser Maßstäbe ist die vom Beklagten getroffene Er messensentscheidung, das Verfahren hinsichtlich der Aufenthaltsbeschränkung (Ziffer 6 des Bescheids) nicht wiederaufzugreifen, im Rahmen der gerichtlich eingeschränkten Überprüfbarkeit nach § 114 Satz 1 VwGO nicht zu beanstanden.
aa) Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof hat mit rechtskräftigem Urteil vom 8. Januar 2020 (10 ZB 11.1878) sowohl die Aufenthaltsbeschränkung (Ziffer 6), als auch die Meldeauflage (Ziffer 7) und die Zwangsgeldandrohung (Ziffer 8) als rechtmäßig angesehen (Rn. 48 f., a.a.O.) und hierbei auf die Sach- und Rechtslage dieses Zeitpunkts abgestellt (Rn. 23, a.a.O.).
bb) Der Beklagte hat seine Ermessensentscheidung nach den Gründen des an gefochtenen Bescheids zentral auf die auch durch den Klägerbevollmächtigten aufgeworfene Frage der Einzelfallgerechtigkeit gestützt. Insoweit kann es nicht als ermessensfehlerhaft betrachtet werden, wenn der Beklagte im Rahmen der Gerechtigkeitsprüfung eine glaubhafte Distanzierung des Klägers von Unterstützungshandlungen verneint (so auch: BayVGH, a.a.O., Rn. 41 ff.), aktuelle bis ins Jahr 2018 reichende Kontakte in das islamistischsalafistische Spektrum zu Grunde legt (so auch: BayVGH, a.a.O., Rn. 42 mit Verweis auf die Erkenntnisse des Behördenzeugnisses des Bayerischen Landesamts für Verfassungsschutz, Bl. 717 d. Behördenakte) und so unter Abwägung der aktuellen persönlichen, wirtschaftlichen und familiären Interessen zum Ergebnis kommt, dass das öffentliche Interesse an der Gefahrenabwehr die persönlichen Interessen weiterhin überwiegt.
Soweit der Klägerbevollmächtigte sich darauf bezieht, dass sich der Beklagte damit hätte auseinandersetzen müssen, welches Gewicht der damaligen Gefährdung des Klägers beizumessen ist und ob das damalige Verhalten des Klägers auf Grund der inzwischen eingetretenen Entwicklungen ein verändertes Gewicht aufweist, wird verkannt, dass das Wiederaufgreifen im weiteren Sinne nicht eine weitere Kontrollinstanz nach Ende des rechtskräftig abgeschlossenen Verfahrens darstellt, sondern lediglich aus Verhältnismäßigkeitsgründen seither eingetretene Veränderungen berücksichtigen soll. Die durch den Klägerbevollmächtigten vorgebrachten Veränderungen wie etwa das widersprüchliche Behördenverhalten, der untergeordnete Unterstützungsbeitrag einer nur zweistelligen Summe, die Auflösung des AAI, die Finanzierung des Lebensunterhalts durch Erwerbstätigkeit, die religiöse Eheschließung oder die Geburt der drei Kinder lagen zum Zeitpunkt der Berufungsentscheidung bereits vor. Insoweit handelt der Beklagte nicht ermessensfehlerhaft, wenn er eine Änderung seiner erst kürzlich bestätigten Verwaltungsakte im Hinblick auf diese Entscheidung ablehnt (BVerwG, U.v. 22.10.2009 – 1 C 15/08 – juris Rn. 26).
cc) Konkrete Anknüpfungspunkte seit dem 8. Januar 2020, welche in die Ermes sensentscheidung einzubeziehen wären, liegen dagegen nicht vor. Allein die am 4. Mai 2020 eingetretene Bestandskraft und damit erstmals aufgetretene faktische Beschwer des Klägers mit der Aufenthaltsbeschränkung stellt keine zu berücksichtigende Veränderung dar, da dies als gesetzliche Folge aus § 80 Abs. 1 Satz 1 VwGO einem Verwaltungsgerichtsverfahren immanent ist und die Gefährlichkeit des Klägers mit bzw. ohne vollziehbarer Aufenthaltsbeschränkung im Rahmen der Gefahrenprognose der letzten Tatsacheninstanz zu beurteilen war.
dd) Das zeitliche Fortschreiten der (Un-)Gefährlichkeit des Klägers wird in der Zukunft ein im Rahmen der Ermessensentscheidung nach Art. 51 Abs. 5 BayVwVfG beachtlich einzustellender Belang sein. Zum entscheidungserheblichen Zeitpunkt dieses Beschlusses ergibt sich aufgrund der geringen zeitlichen Distanz von 15 Monaten seit dem rechtskräftigen Abschluss des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens dagegen (noch) kein nach § 114 Satz 1 VwGO beachtlicher Ermessensfehler.
ee) Zwar hat der Beklagte darüber hinaus keine weiteren Belange in die Ermes senserwägungen seiner Wiederaufgreifensentscheidung eingestellt, dies war aufgrund des erst kürzlich abgeschlossenen Erstverfahrens jedoch auch nicht notwendig (BVerwG, U.v. 22.10.2009 – 1 C 15/08 – juris Rn. 26). Jedenfalls ergibt sich auch hieraus kein nach § 114 Satz 1 VwGO beachtlicher Ermessensfehler.
b) Die vom Beklagten getroffene Ermessensentscheidung, das Verfahren hinsicht lich der Meldeauflage (Ziffer 7 des Bescheids) nicht wiederaufzugreifen, ist ebenfalls im Rahmen der gerichtlich eingeschränkten Überprüfbarkeit nach § 114 Satz 1 VwGO nicht zu beanstanden. Der Beklagte hat zentral auch hier die Rechtmäßigkeit der damals getroffenen Entscheidung zum jetzigen Zeitpunkt überprüft (Gerechtigkeit) und kam unter Berücksichtigung des durch das Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs bestätigten Sachverhalts in nicht zu beanstandender Weise zum Ergebnis, dass das öffentliche Interesse die persönlichen Interessen des Klägers weiterhin überwiegt. Auch insoweit lagen keine beachtlichen Ermessensfehler vor (s.o.).
c) Auch die Entscheidung, die Zwangsmittelandrohung (Ziffer 8 des Bescheids) nicht wiederaufzugreifen, ist voraussichtlich rechtmäßig. Der Beklagte hat insoweit zwar seine durch den verfahrensgegenständlichen Bescheid vom 30. März 2021 getroffene und tenorierte Entscheidung nicht begründet, eine solche Begründung war jedoch entbehrlich, da die ablehnenden Wiederaufgreifensentscheidungen (s.o.) hinsichtlich der zu vollstreckenden Grundverwaltungsakte in Ziffern 6 und 7 ausreichend begründet wurden (vgl. Stelkens, in: Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, 9. Auflage 2018, Rn. 118 zu § 39).


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