Verwaltungsrecht

Erfolgloser Antrag auf Zulassung der Berufung

Aktenzeichen  13a ZB 19.31056

Datum:
13.8.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 20640
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG § 78 Abs. 3
AufenthG § 60 Abs. 5, Abs. 7 S. 1
EMRK Art. 8
GG Art. 6

 

Leitsatz

1. Lebt der Ausländer auch in Deutschland in familiärer Gemeinschaft mit der Kernfamilie, ist hiernach für die Bildung der Verfolgungsprognose der hypothetische Aufenthalt des Ausländers im Herkunftsland in Gemeinschaft mit den weiteren Mitgliedern dieser Kernfamilie zu unterstellen.  (Rn. 7) (redaktioneller Leitsatz)
2. Die Regelvermutung gemeinsamer Rückkehr als Grundlage der Verfolgungsprognose setzt eine familiäre Gemeinschaft voraus, die zwischen den Eltern und ihren minderjährigen Kindern (Kernfamilie) bereits im Bundesgebiet tatsächlich als Lebens- und Erziehungsgemeinschaft (fort-)besteht und infolgedessen die Prognose rechtfertigt, sie werde bei einer Rückkehr in das Herkunftsland dort fortgesetzt werden. (Rn. 9) (redaktioneller Leitsatz)
3. Für eine „gelebte“ Kernfamilie reichen allein rechtliche Beziehungen, ein gemeinsames Sorgerecht oder eine reine Begegnungsgemeinschaft nicht aus. (Rn. 9) (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

M 17 K 17.49940 2019-01-31 Urt VGMUENCHEN VG München

Tenor

I. Der Antrag wird abgelehnt.
II. Der Kläger hat die Kosten des Antragsverfahrens zu tragen.
Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe

Der Antrag des Klägers auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts München vom 31. Januar 2019 hat keinen Erfolg. Zulassungsgründe nach § 78 Abs. 3 AsylG sind nicht gegeben.
Der Kläger hat seinen ausdrücklich auf § 60 Abs. 5 AufenthG beschränkten Zulassungsantrag damit begründet, dass die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung habe (§ 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG). So sei klärungsbedürftig,
„ob und inwieweit der Schutz von Ehe und Familie aus Art. 6 Abs. 1 GG die Annahme einer gemeinsamen Rückkehr der Kernfamilie auch in Fällen gebieten kann, in denen die übrigen Familienmitglieder bei identischer Fluchtgeschichte einen Schutzstatus erhalten haben.“
Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof selbst habe in einer Entscheidung vom 21. November 2018 (Az. 13a B 18.30632) die Revision mit der aufgeworfenen Grundsatzfrage zugelassen. Diese für eine Vielzahl von Asylverfahren von Familien relevante Frage sei auch in seinem Fall entscheidungserheblich. Er sei 2014 mit seiner Ehefrau und der gemeinsamen Tochter nach Deutschland eingereist und habe hier einen Asylantrag gestellt. Nachdem er und seine Ehefrau sich im Jahr 2016 getrennt hätten, sei der Ehefrau und der Tochter mit Bescheid des Bundesamts vom 13. März 2017 subsidiärer Schutz zuerkannt worden. Sein Asylantrag sei hingegen mit Bescheid vom 30. November 2017 vollumfänglich abgelehnt worden. Seine hiergegen gerichtete Klage habe das Verwaltungsgericht mit dem angegriffenen Urteil abgewiesen. Zur Begründung habe das Gericht darauf verwiesen, dass die nach Art. 6 GG geschützte Familieneinheit nur im Rahmen inlandsbezogener Abschiebungshindernisse von Relevanz sei, deren Prüfung den Ausländerbehörden – und nicht dem Bundesamt – obliege. Es sei jedoch nicht nachvollziehbar und verstoße gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung, wenn das Verwaltungsgericht im angegriffenen Urteil davon ausgehe, seine Ehefrau als Mutter könne sich auf die „Familieneinheit“ mit der gemeinsamen Tochter berufen, er als Vater hingegen nicht. Soweit das Gericht ausgeführt habe, dass die Tochter bei der Mutter lebe und nicht bei ihm, sei dies unzutreffend. Er kümmere sich vorbildlich um seine Tochter, die jedes Wochenende bei ihm sei. Richtig sei, dass er unter der Woche arbeite, auch um seinen Unterhaltspflichten nachzukommen. Nach alledem sei bei ihm ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG festzustellen.
Der Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache (§ 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG) setzt voraus, dass die im Zulassungsantrag dargelegte konkrete Rechts- oder Tatsachenfrage für die Entscheidung des Verwaltungsgerichts von Bedeutung war, ihre Klärung im Berufungsverfahren zu erwarten und zur Erhaltung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder zur Weiterentwicklung des Rechts geboten ist und ihr eine über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung zukommt (vgl. Happ in Eyermann, VwGO, 15. Aufl. 2019, § 124 Rn. 36). Die Grundsatzfrage muss nach Maßgabe des Verwaltungsgerichtsurteils rechtlich aufgearbeitet sein. Dies erfordert regelmäßig eine Durchdringung der Materie und eine Auseinandersetzung mit den Erwägungen des Verwaltungsgerichts (vgl. BayVGH, B.v. 21.12.2018 – 13a ZB 17.31203 – juris Rn. 4; B.v. 13.8.2013 – 13a ZB 12.30470 – juris Rn. 4 m.w.N.).
Hiervon ausgehend hat die Rechtssache jedenfalls zum maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofs keine grundsätzliche Bedeutung (mehr).
Denn die durch den Kläger zu § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG aufgeworfene Frage ist durch die neuere Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG, U.v. 4.7.2019 – 1 C 45.18 – InfAuslR 2019, 45 – juris Rn. 15 ff.) zwischenzeitlich geklärt. Hiernach ist bei der Prognose, welche Gefahren einem Ausländer bei Rückkehr in den Herkunftsstaat drohen, eine – zwar notwendig hypothetische, aber doch – realitätsnahe Rückkehrsituation zugrunde zu legen. Lebt der Ausländer auch in Deutschland in familiärer Gemeinschaft mit der Kernfamilie, ist hiernach für die Bildung der Verfolgungsprognose der hypothetische Aufenthalt des Ausländers im Herkunftsland in Gemeinschaft mit den weiteren Mitgliedern dieser Kernfamilie zu unterstellen. Bereits für die Bestimmung der voraussichtlichen Rückkehrsituation im Rahmen von § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 Satz 1 AufenthG ist daher im Grundsatz davon auszugehen, dass ein nach Art. 6 GG und Art. 8 EMRK besonders schutzwürdiger Familienverband aus Eltern mit ihren minderjährigen Kindern nicht aufgelöst oder gar durch staatliche Maßnahmen zwangsweise getrennt wird. Eine im Regelfall gemeinsame Rückkehr im Familienverband ist der Gefährdungsprognose im Rahmen von § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 Satz 1 AufenthG mit Blick auf den Schutz der Familie aus Art. 6 GG und Art. 8 EMRK auch dann zugrunde zu legen, wenn einzelnen Mitgliedern der Kernfamilie bereits bestandskräftig ein Schutzstatus zuerkannt oder für diese ein nationales Abschiebungsverbot festgestellt worden ist. Mit dieser Betrachtungsweise wollte das Bundesverwaltungsgericht zugleich Friktionen mindern, die sich daraus ergeben können, dass über die Schutzanträge einzelner Mitglieder der Kernfamilie nicht gleichzeitig, sondern zeitversetzt entschieden wird. Seine entgegenstehende Rechtsprechung (BVerwG, U.v. 27.7.2000 – 9 C 9.00 – Buchholz 402.240 § 53 AuslG Nr. 39 S. 63 f.; U.v. 23.5.2000 – 9 C 2.00 – juris Rn. 2; U.v. 21.9.1999 – 9 C 12.99 – BVerwGE 109, 305) hat das Bundesverwaltungsgericht ausdrücklich aufgegeben.
Vorliegend ist die Berufung auch nicht unter dem Gesichtspunkt der nachträglichen Divergenz zuzulassen (vgl. allg. BVerwG, U.v. 29.10.2015 – 3 B 70.15 – BVerwGE 153, 169 – juris Rn. 9; Happ in Eyermann, VwGO, 15. Aufl. 2019, § 124 Rn. 40). Zwar darf dem Kläger kein Nachteil daraus erwachsen, wenn aufgrund eines nach Ablauf der Zulassungsantragsfrist ergangenen Urteils des Bundesverwaltungsgerichts eine zuvor gegebene grundsätzliche Bedeutung entfallen ist, das Urteil des Verwaltungsgerichts aber (nunmehr) zum Nachteil des Klägers von der höchstrichterlichen Rechtsprechung abweicht. Eine solche Konstellation ist vorliegend jedoch nicht gegeben. Denn das angegriffene Urteil des Verwaltungsgerichts steht im Ergebnis im Einklang mit der nunmehrigen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts.
Grund hierfür ist, dass das Bundesverwaltungsgericht in seiner neueren Rechtsprechung entschieden hat, dass die Regelvermutung gemeinsamer Rückkehr als Grundlage der Verfolgungsprognose eine familiäre Gemeinschaft voraussetzt, die zwischen den Eltern und ihren minderjährigen Kindern (Kernfamilie) bereits im Bundesgebiet tatsächlich als Lebens- und Erziehungsgemeinschaft (fort-)besteht und infolgedessen die Prognose rechtfertigt, sie werde bei einer Rückkehr in das Herkunftsland dort fortgesetzt werden. Für eine in diesem Sinne „gelebte“ Kernfamilie reichen allein rechtliche Beziehungen, ein gemeinsames Sorgerecht oder eine reine Begegnungsgemeinschaft nicht aus (BVerwG, U.v. 4.7.2019 – 1 C 45.18 – InfAuslR 2019, 45 – juris Rn. 18).
Eine solche „gelebte“ Kernfamilie im Sinne der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist vorliegend jedoch nicht gegeben.
Dem Zulassungsantrag des Klägers ist zu entnehmen, dass er seit 2016 von seiner Ehefrau getrennt lebe. Die 2008 geborene, bei der Mutter lebende Tochter sei „jedes Wochenende bei ihm“. Gegenüber dem Verwaltungsgericht hatte der Kläger insoweit zudem vorgetragen, für seine Tochter neben dem Naturalunterhalt monatlich EUR 100,– als Barunterhalt zu leisten. Er habe täglich telefonischen Kontakt mit der Tochter und hole sie mittwochs von der Schule ab. Am Wochenende besuche ihn die Tochter, auch die Hälfte der Ferien verbringe sie bei ihm (siehe zum Ganzen: UA S. 4 f.).
Unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts und des obigen klägerischen Vortrags im Zulassungsantrag ist festzustellen, dass aufgrund der seit 2016 bestehenden dauerhaften Trennung ersichtlich keine familiäre bzw. eheliche Gemeinschaft mehr zwischen dem Kläger und seiner Ehefrau besteht, auch wenn die Ehe formal noch fortbestehen sollte (vgl. allg. BVerwG, B.v. 22.5.2013 – 1 B 25.12 – BayVBl 2014, 56 – juris Rn. 4). Die Ehefrau des Klägers ist daher von vornherein im Rahmen der Rückkehrprognose nicht zu berücksichtigen. Ob im Verhältnis zwischen dem Kläger und seiner bei der Ehefrau lebenden minderjährigen Tochter eine Lebens- und Erziehungsgemeinschaft fortbesteht oder es sich aber insoweit um eine bloße Begegnungsgemeinschaft handelt (vgl. hierzu allg. BVerfG, B.v. 1.12.2008 – 2 BvR 1830/08 – BVerfGK 14, 458 – juris Rn. 29 f.; B.v. 8.12.2005 – 2 BvR 1001/04 – juris Rn. 19-21; BVerwG, U.v. 9.12.1997 – 1 C 19.96 – juris Rn. 22), kann offenbleiben. Denn selbst wenn man zugunsten des Klägers von einer fortbestehenden Lebens- und Erziehungsgemeinschaft zu seiner Tochter ausginge, führte dies nicht dazu, dass die Tochter im Lichte der neueren Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts im Rahmen der Rückkehrprognose des § 60 Abs. 5 AufenthG zu berücksichtigen wäre.
Grund hierfür ist, dass der Verwaltungsgerichtshof davon ausgeht, dass die inmitten stehende Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG, U.v. 4.7.2019 – 1 C 45.18 – InfAuslR 2019, 45 – juris Rn. 17 f.) von vornherein allein die im damaligen Fall gegebene Konstellation betrifft, dass der Ausländer auch in Deutschland in familiärer Gemeinschaft mit der Kernfamilie – d.h. mit dem anderen Elternteil und den minderjährigen Kindern – zusammenlebt (siehe BVerwG, U.v. 4.7.2019 – 1 C 45.18 – InfAuslR 2019, 45 – juris Rn. 17: „Lebt der Ausländer auch in Deutschland in familiärer Gemeinschaft mit der Kernfamilie…“). Denn nur in dieser Situation ist die vom Bundesverwaltungsgericht aufgestellte Regelvermutung einer (hypothetischen) gemeinsamen Rückkehr ins Heimatland im Familienverband gerechtfertigt. Bei einem dauerhaften Getrenntleben der Eltern in Deutschland ist es hingegen gerade nicht so, dass typischerweise davon auszugehen wäre, dass ein minderjähriges Kind mit einem getrennt von ihm lebenden Elternteil in dessen Heimatland zurückkehren würde, während das andere Elternteil, bei dem das minderjährige Kind bisher gelebt hat, im Bundesgebiet verbleibt. Vielmehr läge es hier nach der allgemeinen Lebenserfahrung näher, dass das Kind mit dem Elternteil, bei dem es auch bisher gelebt hat, in Deutschland verbleibt. Dies gilt selbst dann, wenn man das Fortbestehen einer Lebens- und Erziehungsgemeinschaft zwischen dem minderjährigen Kind und dem von ihm getrenntlebenden Elternteil im Einzelfall bejaht; denn es besteht zugleich ebenfalls eine Lebens- und Erziehungsgemeinschaft mit dem Elternteil, bei dem das Kind lebt (vgl. BVerwG, U.v. 9.12.1997 – 1 C 19.96 – juris Rn. 22). Auf die beim Kläger vorliegende Konstellation kann daher die typisierende Regelvermutung aus der neueren Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts nicht übertragen werden. Besondere Umstände, die bei Fehlen einer Regelvermutung den hinreichend sicheren Schluss zuließen, dass das minderjährige Kind im Fall einer Abschiebung mit dem Kläger nach Afghanistan zurückkehren würde, sind dem Zulassungsantrag nicht zu entnehmen und auch sonst nicht ersichtlich.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO, § 83b AsylG.


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