Aktenzeichen 10 ZB 19.1599
VwGO § 86 Abs. 1, § 108 Abs. 1 S. 1, § 124 Abs. 2 Nr. 1, Nr. 5
Leitsatz
1. Grundvoraussetzung für die Annahme eines “erkennbaren Abstandnehmens” i.S.v. § 54 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG ist jedenfalls die Einsicht des Ausländers in die Unrichtigkeit des ihm vorgeworfenen Handelns; er muss in jedem Fall sein sicherheitsgefährdendes Handeln in der Vergangenheit einräumen und offenlegen (Anschluss an BVerwG BeckRS 2017, 124489). (Rn. 6) (redaktioneller Leitsatz)
2. Ob der Ausländer diese innere Distanz glaubhaft zum Ausdruck gebracht hat, entscheidet das Gericht gemäß § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung; es ist bei der Würdigung aller erheblichen Tatsachen frei. (Rn. 7) (redaktioneller Leitsatz)
3. Die gegenwärtige Gefährlichkeit i.S.v. § 53 Abs. 3 AufenthG besteht nach der Wertung des nationalen Gesetzgebers in § 54 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG so lange fort, bis sich der Ausländer von seinem sicherheitsgefährdenden Handeln erkennbar und glaubhaft distanziert (Anschluss an BVerwG BeckRS 2018, 8954). (Rn. 13) (redaktioneller Leitsatz)
4. Geltend gemachte Erkrankungen und deren behauptete fehlende Behandelbarkeit im Zielstaat der Ausweisung sind nicht im Rahmen der Ausweisungsentscheidung nach § 53 Abs. 3 AufenthG i.v.m. § 53 Abs. 1 AufenthG zu berücksichtigen (Fortführung von BeckRS 2019, 2253). (Rn. 14) (redaktioneller Leitsatz)
Verfahrensgang
Au 6 K 19.61 2019-05-22 VGAUGSBURG VG Augsburg
Tenor
I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II. Der Kläger trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.
III. Unter Abänderung des Beschlusses des Verwaltungsgerichts vom 22. Mai 2019 wird der Streitwert für beide Instanzen auf jeweils 10.000,- Euro festgesetzt.
IV. Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das Zulassungsverfahren wird abgelehnt.
Gründe
Mit seinem Antrag auf Zulassung der Berufung verfolgt der Kläger, ein afghanischer Staatsangehöriger, seine in erster Instanz erfolglose Klage auf Aufhebung des Bescheids des Beklagten vom 29. Oktober 2018 weiter, mit dem er u.a. aus der Bundesrepublik Deutschland ausgewiesen wurde. Anlass der auf § 53 Abs. 1 und 4, § 54 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG gestützten Ausweisung war die Unterstützung der Taliban in Afghanistan durch den Kläger in den Jahren 2011 bis 2015.
Der Antrag auf Zulassung der Berufung ist unbegründet. Aus dem der rechtlichen Überprüfung durch den Senat allein unterliegenden Vorbringen im Zulassungsantrag ergeben sich weder ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des verwaltungsgerichtlichen Urteils (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO), noch ist ein Verfahrensfehler dargelegt, auf dem die Entscheidung des Verwaltungsgerichts beruhen könnte (§ 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO).
Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO bestünden nur dann, wenn der Kläger im Zulassungsverfahren einen einzelnen tragenden Rechtssatz oder eine einzelne erhebliche Tatsachenfeststellung des Erstgerichts mit schlüssigen Gegenargumenten infrage gestellt hätte (BVerfG, B.v. 10.9.2009 – 1 BvR 814/09 – juris Rn. 11; BVerfG, B.v. 9.6.2016 – 1 BvR 2453/12 – juris Rn. 16). Daran fehlt es hier.
Zweifel an der Auffassung des Verwaltungsgerichts, es lägen keine hinreichenden Anhaltspunkte für die Annahme einer nachhaltigen Distanzierung von der Organisation und Ideologie der Taliban im Sinne einer glaubwürdigen und nachvollziehbaren Lösung vor, hat der Kläger nicht hinreichend dargelegt. Das Verwaltungsgericht hat diese Überzeugung gewonnen, weil eine äußere Lösung von den Taliban zwar durch die Flucht stattgefunden habe, eine innere Lösung aber vom Kläger nicht nachvollziehbar erläutert worden sei. Eine innere Distanzierung in Afghanistan sei nicht erfolgt. Weder aus den aktenkundigen asylrechtlichen, ausländerrechtlichen und staatsanwaltschaftlichen Verfahren noch aus der Befragung des Klägers in der mündlichen Verhandlung sei eine innere Haltung ersichtlich geworden, welche zeige, dass er nach seiner Flucht in Deutschland Zweifel an der islamistischen Ideologie und des diese umsetzenden terroristischen Handelns entwickelt habe. Ein überzeugender Vortrag des Klägers hinsichtlich seines inneren Lösungsprozesses von den Taliban werde vermisst. Er habe die Ideologie der Taliban bisher nicht unmissverständlich und nachvollziehbar verurteilt. Die Geschichte um seinen Beitritt zu den Taliban und die der Spionage habe er zur Verbesserung seiner Bleibeperspektive konstruiert. Wenn auch von untergeordneter Bedeutung, sprächen auch die aktenkundigen, in Deutschland geteilten, als talibanfreundlich eingeordneten Facebook-Beiträge des Klägers nicht für seine Distanzierung.
Dagegen wendet der Kläger im Wesentlichen ein, er habe sich aufgrund der Struktur der Anhörung mit Frage und Antwort nicht ausreichend zu seiner inneren Haltung äußern können; auch habe sich die Anhörung überwiegend auf die Vergangenheit bezogen. Sein niedriger Intelligenzquotient sei nicht berücksichtigt worden; eine Reflexion, wie das Verwaltungsgericht sie fordere, könne er nicht vornehmen. Zudem habe das Gericht die dem Schriftsatz vom 21. März 2019 beigefügten Stellungnahmen nicht berücksichtigt. Er habe sich inzwischen eine eigene Meinung gebildet und die Welt der Erwachsenen kritisch hinterfragt. Schon diese entwicklungspsychologische Tatsache sei Grund für seine innere Distanzierung. Die Entscheidung des Verwaltungsgerichts entspreche nicht den Maßstäben des § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Dessen Überzeugungsbildung sei fehlerhaft. Das Urteil weise Lücken und Ungereimtheiten auf.
Mit diesem Vorbringen zieht der Kläger die Richtigkeit der Entscheidung des Verwaltungsgerichts nicht ernsthaft in Zweifel. Das “erkennbare Abstandnehmen” im Sinne des § 54 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG ist ein innerer Vorgang und erfordert daher das Vorliegen äußerlich feststellbarer Umstände, die eine Veränderung der bisher gezeigten Einstellung als wahrscheinlich erscheinen lassen. Dabei genügt nicht das bloße Unterlassen weiterer Unterstützungshandlungen, vielmehr bedarf es hierzu eindeutiger Erklärungen und Verhaltensweisen des Ausländers, mit denen er glaubhaft zum Ausdruck bringt, dass er sich nunmehr von zurückliegenden Aktivitäten erkennbar aus innerer Überzeugung distanziert. Grundvoraussetzung für eine solche Annahme ist jedenfalls die Einsicht des Ausländers in die Unrichtigkeit des ihm vorgeworfenen Handelns; er muss in jedem Fall sein sicherheitsgefährdendes Handeln in der Vergangenheit einräumen und offenlegen (BVerwG, U.v. 27.7.2017 – 1 C 28.16 – juris Rn. 30; B.v. 25.4.2018 – 1 B 11.18 – juris Rn. 12; BayVGH, U.v. 27.10.2017 – 10 B 16.1252 – juris Rn. 53; VGH BW, B.v. 17.6.2019 – 11 S 2118/18 – juris Rn. 12; OVG NW, U.v. 15.3.2016 – 19 A 2330/11 – juris Rn. 65 f.).
Ob der Ausländer diese innere Distanz glaubhaft zum Ausdruck gebracht hat, entscheidet das Gericht gemäß § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung. Es ist bei der Würdigung aller erheblichen Tatsachen frei (Schenke in Kopp/Schenke, VwGO, 25. Aufl. 2019, § 108 Rn. 4). Soweit eine fehlerhafte Überzeugungsbildung des Verwaltungsgerichts gerügt wird, genügt für den Zulassungsgrund des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO allein der Vortrag, die Tatsachen seien anders als vom Verwaltungsgericht angenommen oder der Sachverhalt sei anders zu bewerten, nicht. Mit Einwänden gegen die freie, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnene richterliche Überzeugung wird die Richtigkeit der Entscheidung des Verwaltungsgerichts erst dann in Frage gestellt, wenn Gründe dafür aufgezeigt werden, dass die vom Verwaltungsgericht vorgenommene Überzeugungsbildung fehlerhaft ist, etwa weil das Verwaltungsgericht entscheidungserheblich von einem unzutreffenden bzw. auch unzureichend ermittelten Sachverhalt ausgegangen ist (OVG LSA, B.v. 3.1.2018 – 2 L 71/16 – juris Rn. 15) oder die Beweiswürdigung gedankliche Lücken oder Ungereimtheiten aufweist. Letzteres ist insbesondere bei einer Verletzung von Denkgesetzen oder allgemeinen Erfahrungssätzen, gegebenenfalls heranzuziehenden gesetzlichen Beweisregeln oder sachwidriger Beweiswürdigung anzunehmen (BayVGH, B.v. vom 25.10.2017 – 5 ZB 17.340 – juris Rn. 39; OVG Bln-Bbg, B.v. 29.9.2017 – OVG 5 N 40.16 – juris Rn. 9). Derartige Mängel zeigt die Begründung des Zulassungsantrags jedoch nicht auf.
Dies gilt insbesondere, soweit der Kläger vorträgt, das Verwaltungsgericht habe die mit Schriftsatz vom 21. März 2019 vorgelegte Stellungnahme des Caritas e.V. bzw. die anliegende E-Mail des Kompetenzzentrums für Deradikalisierung nicht berücksichtigt. Dieser E-Mail lässt sich zu einer inneren Einstellungsänderung des Klägers bezüglich der Ideologie der Taliban nichts Konkretes entnehmen. Die Aussage, es habe sich kein Aufgabenfeld (Deradikalisierung) eröffnet, enthält keine nachvollziehbaren Anhaltspunkte, die es dem Verwaltungsgericht ermöglicht hätten, einen Einstellungswandel des Klägers bezüglich seiner jahrelangen Tätigkeit für die Taliban in Afghanistan zu entnehmen. Dies trifft auch für die Stellungnahme des Caritas e.V. zu, der für den Kläger in erster Linie Unterstützung und Hilfestellung im Asylverfahren und bei alltäglichen Fragestellungen geleistet hat, ohne sich gezielt mit seiner Distanzierung zur Ideologie der Taliban zu beschäftigen. “Höflichkeit, Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft gegenüber Geflüchteten aller Nationalitäten” reichen dafür nicht aus.
Auch die geltend gemachte Intelligenzminderung hat das Verwaltungsgericht nicht übersehen. Es kam aber zum Ergebnis, dass sich diese Schwäche nicht auf die Fähigkeit des Klägers ausgewirkt hat, Fragen ausführlich, überlegt und flüssig zu beantworten und sogar eine Verfolgungsgeschichte so zu konstruieren, dass seine Bleibeperspektive in Deutschland verbessert wird. Zu dieser Einschätzung kam im Übrigen auch das Oberlandesgericht München im Urteil vom 6. November 2018, auf das sich das Verwaltungsgericht ausdrücklich bezogen hat.
Das Verwaltungsgericht hat seine Überzeugung, eine glaubhafte innere Distanzierung von der Ideologie der Taliban liege beim Kläger nicht vor, nicht nur aus dem Eindruck und dessen Antworten in der mündlichen Verhandlung, sondern auch aus dessen Anhörungen im Straf- und Asylverfahren gewonnen, auf die es ebenfalls Bezug genommen hat. In der Beschuldigtenvernehmung vom 28. Februar 2018 distanziert sich der Kläger nicht eindeutig von den Taliban, sondern sieht die “Schuld” für die Zustände in Afghanistan auch bei den Russen und Amerikanern. Der konkreten Frage zur seiner religiösen Toleranz weicht er aus. In der mündlichen Verhandlung räumt er zwar ein, dass er jetzt wisse, dass der Weg der Taliban falsch sei, findet aber auch kritische Worte für die afghanische Regierung. Die Frage zu seiner Religiosität beantwortet er wiederum nur ausweichend.
Das Verwaltungsgericht hat die Flucht des Klägers aus Afghanistan als äußere Abkehr von den Taliban gewertet. Einen inneren Einstellungswandel hat es darin aber nicht gesehen. Der Kläger verließ Afghanistan auf Wunsch seines Vaters bzw. aus Furcht vor seinem Onkel, aber nicht, weil er die Gewaltanwendung und die Ideologie der Taliban für falsch hielt. Für eine glaubhafte Distanzierung reicht auch nicht aus, dass alle dem Kläger vorgeworfenen Unterstützungshandlungen vor seiner Flucht aus Afghanistan lagen, weil hierfür nicht nur erforderlich ist, dass er weitere Unterstützungshandlungen unterlässt, sondern dass er sich von den zurückliegenden Aktivitäten erkennbar aus innerer Überzeugung distanziert.
Entgegen dem Vorbringen des Klägers ist die Auffassung des Verwaltungsgerichts, seine Aussage, die Richtung der Taliban sei falsch, sei nur ein erster Schritt zur Distanzierung, nicht widersprüchlich. Das Verwaltungsgericht hat nämlich diesbezüglich erläutert, dass es diese Aussage des Klägers deshalb nicht als hinreichende Abwendung gewertet hat, weil er nicht erklärt hat, aus welchen Gründen der Weg der Taliban der falsche sei.
Die Berufung ist auch nicht zuzulassen, weil – wie der Kläger vorbringt – das Verwaltungsgericht die Voraussetzungen des § 53 Abs. 3 i.V.m. § 54 Abs. 4 Satz 2 Nr. 1 AufenthG fehlerhaft geprüft hätte. Maßstab für die Ausweisung eines Asylbewerbers bleibt auch nach der Änderung des § 53 Abs. 3 AufenthG durch das Zweite Gesetz zur besseren Durchsetzung der Ausreisepflicht § 53 Abs. 3 i.V.m. § 53 Abs. 4 Satz 2 Nr. 1 n.F. AufenthG. Durch die Änderung wurde lediglich der Maßstab für die Ausweisung von anerkannten international Schutzberechtigten und Asylberechtigten durch § 53 Abs. 3a und 3b AufenthG an die europa- und völkerrechtlichen Vorgaben angepasst (BT-Drs. 19/10047, S. 34). Ob die Anforderungen aus der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts vom 25. Juli 2017 (1 C 12.16 – juris) an den Maßstab, der der Ausweisung eines anerkannten Asylberechtigten zugrunde zu legen ist und die nunmehr in § 53 Abs. 3a AufenthG n.F. kodifiziert sind, nach der Rechtsänderung auch noch für Asylantragsteller gelten, wenn sie – wie der Kläger – unbedingt ausgewiesen werden, kann hier offenbleiben, weil das Verwaltungsgericht seiner Entscheidung jedenfalls den für anerkannte Flüchtlinge geltenden Maßstab des Art. 21 Abs. 2 bzw. Art. 24 RL 2011/95/EU bzw. § 53 Abs. 3a AufenthG n. F. zugrunde gelegt hat. Das Verwaltungsgericht ist davon ausgegangen, dass die Unterstützung der Taliban in Afghanistan durch den Kläger einen zwingenden Grund der nationalen Sicherheit im Sinne von Art. 24 Abs. 3 RL 2011/95/EU darstellt und hat darauf verwiesen, dass der Begriff der “öffentlichen Sicherheit und Ordnung” auch für die Fälle gilt, in denen ein Drittstaatsangehöriger eine Vereinigung unterstützt, die den internationalen Terrorismus unterstützt (vgl. BVerwG, U.v. 22.2.2017 – 1 C 3/16 – juris Rn. 52). Dass es sich bei den Taliban um eine solche Vereinigung handelt, hat das Verwaltungsgericht in den Entscheidungsgründen ausführlich dargelegt (UA Rn. 46 ff.). Die Unterstützungshandlungen des Klägers sind auch als gewichtig im Sinne der Rechtsprechung des EuGH (U.v. 24.6.2015 – C-373/13 – juris) und des Bundesverwaltungsgerichts (U.v. 22.2.2017 – 1 C 3.16 – juris Rn. 54) anzusehen. Die Bewertung erfolgt anhand der Vorgaben des nationalen Gesetzgebers in § 54 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG (BVerwG, U.v. 22.2.2017 – 1 C 3.16 – juris Rn. 54) sowie der Qualität der Unterstützungshandlungen des Klägers. Dabei hat das Verwaltungsgericht insbesondere berücksichtigt, dass sich der Kläger freiwillig den Taliban angedient und ihnen über einen längeren Zeitraum angehört hat und durch seine Ordonanztätigkeit und das Nachladen von Waffen Unterstützungshandlungen für deren terroristische Aktivitäten vorgenommen hat. Die Unterstützungshandlungen des Klägers gingen daher weit über eine bloße psychische Unterstützung hinaus. Die gegenwärtige Gefährlichkeit besteht nach der Wertung des nationalen Gesetzgebers in § 54 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG so lange fort, bis sich der Ausländer von seinem sicherheitsgefährdenden Handeln erkennbar und glaubhaft distanziert (BVerwG, B.v. 25.4.2018 – 1 B 11.18 – juris Rn. 12; VGH BW, B.v. 19.7.2019 – 11 S 1631/19 – juris Rn. 27).
Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit der erstinstanzlichen Entscheidung bestehen auch nicht deshalb, weil das Verwaltungsgericht von einem Überwiegen des öffentlichen Interesses an der Ausreise des Klägers ausgegangen ist. Entgegen seinem Vorbringen hat das Verwaltungsgericht trotz des Vorliegens eines besonders schwerwiegenden Ausweisungsinteresses nach § 54 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG die in § 53 Abs. 1 i.V.m. Abs. 2 AufenthG geforderte umfassende Interessenabwägung vorgenommen und die Rechtstreue des Klägers und seine bisherigen Integrationsleistungen gewürdigt (UA Rn. 80). Es hat lediglich festgestellt, dass gesetzlich normierte Bleibeinteressen im Sinne des § 55 AufenthG nicht vorliegen. Die geltend gemachte Erkrankung des Klägers und deren behauptete fehlende Behandelbarkeit in Afghanistan sind nicht im Rahmen der Abwägungsentscheidung nach § 53 Abs. 3 i.V.m. Abs. 1 AufenthG zu berücksichtigen. Ob das diesbezügliche Vorbringen ein Abschiebungsverbot begründet, ist vom Bundesamt im Asylverfahren zu klären, soweit es sich um die fehlende Behandelbarkeit handelt, oder als inlandsbezogenes Abschiebungshindernis nach § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG bei einer eventuellen Abschiebung des Klägers zu berücksichtigen (vgl. BayVGH, B.v. 1.2.2019 – 10 ZB 18.2455 – juris Rn. 10; OVG Bremen, U.v. 5.7.2019 – 2 B 98.18 – juris Rn. 12).
Die Berufung ist auch nicht wegen eines Verfahrensmangels (§ 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO) zuzulassen. Das Verwaltungsgericht hat weder den Anspruch des Klägers auf Gewährung von rechtlichem Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) noch seine Sachaufklärungspflicht (§ 86 Abs. 1 VwGO) verletzt.
Der Kläger bringt vor, das Verwaltungsgericht habe ihn zwei Stunden befragt. Es sei für ihn nicht erkennbar gewesen, dass er sich von sich aus zu seiner Distanzierung von den Taliban habe äußern sollen. Hierzu seien ihm keine Fragen gestellt worden. Das Gericht hätte zu erkennen geben müssen, dass es aufgrund des bisherigen Vortrags den geltend gemachten Anspruch für nicht hinreichend substantiiert hält. Zudem habe das Verwaltungsgericht die mit Schriftsatz vom 21. März 2019 übergebene E-Mail der Mitarbeiterin des Kompetenzzentrums für Deradikalisierung und das Schreiben des Caritas e.V. vom 10. März 2019 nicht berücksichtigt. Damit ist eine Verletzung des rechtlichen Gehörs jedoch nicht dargelegt.
Die Verfahrensgarantie des rechtlichen Gehörs gemäß besteht darin, jedem Verfahrensbeteiligten die Gelegenheit zu geben, sich zu dem gesamten, nach der Rechtsauffassung des Verwaltungsgerichts entscheidungserheblichen Stoff des gerichtlichen Verfahrens in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht zu äußern. Sie verpflichtet die Gerichte, die Ausführungen der Beteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen, jedoch nicht, ihnen in der Sache zu folgen. Das Grundrecht auf rechtliches Gehör schützt also insbesondere nicht davor, dass das Gericht die Rechtsansicht eines Beteiligten nicht teilt und seinen Ausführungen in der Sache nicht folgt (BVerfG, B.v. 22.11.2005 – 2 BvR 1090/05 – juris Rn. 26; vgl. auch Remmert in Maunz/Dürig, Grundgesetz-Kommentar, Stand: August 2019, Art. 103 Abs. 1 GG Rn. 95 m.w.N.). Ebenso wenig kann die tatrichterliche Sachverhalts- bzw. Beweiswürdigung des Verwaltungsgerichts als solche mit der Gehörsrüge angegriffen werden (BVerfG, B.v. 23.2.2007 – 1 BvR 2368/06 – NVwZ 2007, 688 m.w.N.; stRspr des Senats, vgl. z.B. BayVGH, B.v. 29.1.2018 – 10 ZB 17.31788 – juris Rn. 2; B.v. 8.11.2019 – 10 ZB 19.33896 – Rn. 4 m.w.N.). Dem Zulassungsvorbringen des Klägers lässt sich nicht entnehmen, welche seiner tatsächlichen Ausführungen das Verwaltungsgericht nicht zur Kenntnis genommen haben sollte. Den Schriftsatz vom 21. März 2019 hat das Verwaltungsgericht ausdrücklich im Tatbestand des Urteils erwähnt (UA S. 14) und damit zur Kenntnis genommen. Eine Verletzung des rechtlichen Gehörs liegt nicht darin, dass das Verwaltungsgericht den dem Schriftsatz vom 21. März 2019 beigefügten Unterlagen für seine Überzeugungsbildung zur Frage der Distanzierung des Klägers von der Ideologie der Taliban keine entscheidungserhebliche Bedeutung beigemessen hat.
Eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör liegt auch unter dem Gesichtspunkt einer Überraschungsentscheidung nicht vor. Das wäre nur dann der Fall, wenn das Verwaltungsgericht einen bis dahin nicht erörterten oder sonst hervorgetretenen rechtlichen oder tatsächlichen Gesichtspunkt zur Grundlage seiner Entscheidung gemacht und damit dem Rechtsstreit eine Wendung gegeben hätte, mit der die Beteiligten nach dem bisherigen Verlauf des Verfahrens auch unter Berücksichtigung der Vielfalt vertretbarer Rechtsauffassungen nicht zu rechnen brauchten, und die Beteiligten sich dazu nicht äußern konnten (stRspr, vgl. BVerwG, B.v. 27.7.2015 – 9 B 33.15 – juris Rn. 8; B.v. 19.7.2010 – 6 B 20.10 – juris Rn. 4). Die Frage, ob sich der Kläger erkennbar und glaubhaft von der Ideologie der Taliban distanziert hat, war Gegenstand der mündlichen Verhandlung. Wenn er in der mündlichen Verhandlung der Auffassung gewesen wäre, dass die Fragen des Gerichts die tatsächliche Problematik nicht vollständig umfassten, hätte es ihm frei gestanden, von sich aus ergänzende Ausführungen zu machen, um seine Distanzierung von der Ideologie der Taliban zu untermauern. Das Verwaltungsgericht hat ihm vor Schluss der mündlichen Verhandlung nochmals das Wort erteilt. Seine Prozessbevollmächtigte hat von der Möglichkeit, sich unabhängig von gerichtlichen Fragen zur Sache zu äußern, Gebrauch gemacht. Von einer unzulässigen Überraschungsentscheidung kann nicht gesprochen werden, wenn das Gericht Tatsachen, zu denen sich die Beteiligten – wie hier – äußern konnten, in einer Weise würdigt, die nicht den subjektiven Erwartungen eines Prozessbeteiligten entspricht oder die von ihm für unrichtig gehalten werden (BVerwG, B.v. 25.5.2017 – 5 B 75.15 D – juris Rn. 11). Nach ständiger Rechtsprechung besteht auch keine, auch nicht aus Art. 103 Abs. 1 GG abzuleitende, generelle Pflicht des Gerichts, die Beteiligten vorab auf seine Rechtsauffassung oder die mögliche Würdigung des Sachverhalts hinzuweisen, weil sich die tatsächliche oder rechtliche Einschätzung regelmäßig erst aufgrund der abschließenden Entscheidungsfindung nach Schluss der mündlichen Verhandlung ergibt (siehe z.B. BVerfG, B.v. 15.2.2017 – 2 BvR 395/16 – juris Rn. 6; BVerwG, B.v. 2.5.2017 – 5 B 75.15 D – juris Rn. 11).
Das Verwaltungsgericht hat auch seine Sachaufklärungspflicht nach § 86 Abs. 1 VwGO nicht verletzt. Eine Aufklärungsrüge nach § 86 Abs. 1 VwGO setzt die Darlegung voraus, welche Tatsachen auf der Grundlage der materiell-rechtlichen Auffassung des Verwaltungsgerichts ermittlungsbedürftig gewesen wären, welche Beweismittel zur Verfügung gestanden hätten und welche tatsächlichen Feststellungen bei der Durchführung der vermissten Sachverhaltsaufklärung voraussichtlich getroffen worden wären (BVerwG, B.v. 8.7.2009 – 4 BN 12.09 – juris Rn. 7). Ein Gericht verletzt seine Pflicht zur erschöpfenden Aufklärung des Sachverhalts grundsätzlich dann nicht, wenn es von einer Beweiserhebung absieht, die ein anwaltlich vertretener Beteiligter in der mündlichen Verhandlung nicht ausdrücklich beantragt hat. Dass ein solcher Beweisantrag nicht gestellt wurde, ist nur dann unerheblich, wenn sich dem Gericht auch ohne ausdrücklichen Beweisantrag eine weitere Ermittlung des Sachverhalts hätte aufdrängen müssen. Die Aufklärungsrüge ist dabei nur dann erfolgreich, wenn das Gericht auf der Grundlage seiner Rechtsauffassung Anlass zu weiterer Sachaufklärung hätte sehen müssen. Außerdem muss der Kläger darlegen, welche tatsächlichen Feststellungen bei Durchführung der unterbliebenen Aufklärung voraussichtlich getroffen worden wären und inwiefern das unterstellte Ergebnis zu einer für ihn günstigen Entscheidung geführt hätte (vgl. BVerwG, B.v. 16.3.2011 – 6 B 47.10 – juris Rn. 12; BayVGH, B.v. 21.3.2012 – 10 ZB 10.100 – juris Rn. 22; B.v. 18.10.2013 – 10 ZB 11.618 – juris Rn. 25; B.v. 25.8.2014 – 10 ZB 12.2673 – juris Rn. 16; B.v. 8.10.2014 – 10 ZB 12.2742 – juris Rn. 52; B.v. 12.5.2015 – 10 ZB 13.629 – juris Rn. 23). Das Vorbringen des Klägers, das Verwaltungsgericht hätte die E-Mail des Kompetenzzentrums für Deradikalisierung berücksichtigen müssen, weil der für den Kläger zuständige Sachbearbeiter sich viel intensiver mit ihm beschäftigt habe als das Gericht, genügt diesen Anforderungen nicht.
Eine weitere Sachaufklärung, etwa durch die Anhörung eines Vertreters des Violence Prevention Networks e.V., zur Frage, ob sich der Kläger erkennbar und glaubhaft von seinem sicherheitsgefährdendem Handeln distanziert hat, musste sich dem Verwaltungsgericht nicht aufdrängen. Dem Verwaltungsgericht lagen die Protokolle über die Anhörungen des Klägers im asylrechtlichen, ausländerrechtlichen und staatsanwaltlichen Verfahren mit den Fragen zu seiner Einstellung zur Ideologie der Taliban und seine Antworten hierauf vor. Auch aufgrund der Angaben des Klägers in der mündlichen Verhandlung konnte sich das Verwaltungsgericht eine eigene Überzeugung zur Frage einer erkennbaren und glaubhaften Distanzierung bilden. Es ist weder vorgetragen und erkennbar, inwieweit sich aus einer Anhörung eines Vertreters des Violence Prevention Networks e.V. weitere, die Überzeugungsbildung des Verwaltungsgerichts beeinflussende Anhaltspunkte für eine erkennbare und glaubhafte Distanzierung des Klägers hätten ergeben können. Insbesondere ist nicht ausschlaggebend, ob der den Kläger betreuende Sozialarbeiter keinen Bedarf für eine Deradikalisierung gesehen hat, sondern ob beim Kläger eindeutige Erklärungen und Verhaltensweisen vorliegen, mit denen er glaubhaft zum Ausdruck bringt, dass er sich nunmehr von zurückliegenden Aktivitäten erkennbar aus innerer Überzeugung distanziert. Derartiges lässt sich den mit Schriftsatz vom 21. März 2019 vorlegten Schriftstücken nicht entnehmen.
Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe war abzulehnen, weil die beabsichtigte Rechtsverfolgung aus den genannten Gründen keine hinreichende Aussicht auf Erfolg bot (§ 166 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO).
Die Kostenentscheidung für den Zulassungsantrag folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Einer Kostenentscheidung für das Prozesskostenhilfeverfahren bedarf es nicht, weil Kosten nicht erstattet werden (§ 118 Abs. 1 Satz 4 ZPO).
Die Streitwertfestsetzung für das erstinstanzliche Verfahren und das Zulassungsverfahren beruht auf § 63 Abs. 2 Satz 1 und Abs. 3, § 47 Abs. 1, § 39 Abs. 1, § 52 Abs. 2 GKG. Neben der Ausweisung sind für die Aufenthaltsbeschränkung und die Meldepflicht ebenfalls 5000,– Euro anzusetzen (vgl. BayVGH, U.v. 27.10.2017 – 10 B 16.1252 – juris Rn. 71).
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO). Mit der Ablehnung des Antrags auf Zulassung der Berufung wird die Entscheidung des Verwaltungsgerichts rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO).