Verwaltungsrecht

Erfolgloser Eilantrag auf Untersagung aufenthaltsbeendender Maßnahmen (hier: Abschiebung nach Tunesien)

Aktenzeichen  M 10 E 16.1851

Datum:
19.9.2016
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AufenthG AufenthG § 25 Abs. 5, § 58 Abs. 1, § 60a Abs. 2
GG GG Art. 6
EMRK EMRK Art. 8
VwGO VwGO § 123 Abs. 1 S. 1

 

Leitsatz

1 Die tatsächliche Unmöglichkeit der Abschiebung kann nur bei fortdauernder Passlosigkeit eines Ausländers angenommen werden, wenn nach den Erfahrungen der Ausländerbehörde die Abschiebung ohne Pass oder Passersatz nicht möglich ist oder ein Abschiebungsversuch gescheitert ist. (red. LS Clemens Kurzidem)
2 Voraussetzung eines rechtlichen Abschiebungshindernisses aus Art. 8 Abs. 1 EMRK ist die abgeschlossene „gelungene“ Integration in die Lebensverhältnisse in Deutschland (vgl. EGMR BeckRS 2009, 70641), die nicht automatisch mit einem bestimmten, auch längerfristigen Aufenthalt im Aufnahmeland einhergeht. Eine Aufenthaltsbeendigung kann vielmehr nur dann einen konventionswidrigen Eingriff in das „Privatleben“ iSv Art. 8 Abs. 1 EMRK darstellen, wenn der Ausländer wegen seines (längeren) Aufenthalts über so starke persönliche, soziale und wirtschaftliche Kontakte zum Aufnahmestaat verfügt, dass er aufgrund der Gesamtentwicklung „faktisch zu einem Inländer“ geworden ist, dem wegen der Besonderheiten seines Falles ein Leben in dem Staat seiner Staatsangehörigkeit, zu dem er keinen Bezug (mehr) hat, schlechterdings nicht zugemutet werden kann (vgl. OVG Saarlouis BeckRS 2008, 34809). (red. LS Clemens Kurzidem)
3 Art. 6 GG und Art. 8 EMRK vermitteln einem Ausländer nur dann einen Duldungsanspruch, wenn eine Vater-Kind-Beziehung bereits tatsächlich gelebt wird. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (vgl. BVerfG BeckRS 2008, 35242) entfaltet Art. 6 GG nämlich nicht schon aufgrund formalrechtlicher familiärer Bindungen ausländerrechtliche Schutzwirkungen, sondern entscheidend ist vielmehr die tatsächliche Verbundenheit zwischen den Familienmitgliedern (vgl. VGH München BeckRS 2013, 51398). (red. LS Clemens Kurzidem)
4 Art. 6 GG und Art. 8 EMRK stehen einer Abschiebung nicht per se entgegen, sondern fordern lediglich eine Verhältnismäßigkeitsprüfung. Dem Interesse an der familiären Bindung ist dabei die durch wiederholte Straffälligkeit manifestierte Gefährlichkeit eines Ausländers entgegenzustellen. (red. LS Clemens Kurzidem)

Tenor

I.
Der Antrag wird abgelehnt.
II.
Der Antragsteller hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III.
Der Streitwert wird auf 2.500,- Euro festgesetzt.

Gründe

I.
Der Antragsteller begehrt die Untersagung aufenthaltsbeendender Maßnahmen.
Der Antragsteller wurde am … April 1984 in Tunesien geboren und ist tunesischer Staatsangehöriger. Am 5. August 1984 ist er im Rahmen des Familiennachzugs nach Deutschland eingereist und hält sich dort seitdem ununterbrochen auf. Am 17. Mai 2005 hat der Antragsteller die Mutter seines am … Februar 2004 geborenen Sohnes geheiratet. Seit Sommer 2010 leben die Ehegatten getrennt, die Ehe ist seit 10. November 2011 geschieden, das Sorgerecht für den Sohn liegt bei der Mutter.
Am 28. März 2007 verurteilte das Amtsgericht Ingolstadt den Antragsteller wegen gemeinschaftlicher gefährlicher Körperverletzung und vorsätzlichen unerlaubten Besitzes von Betäubungsmitteln (Heroin) zu einer Haftstrafe von 2 Jahren und 9 Monaten. Zuvor war der Antragsteller bereits vielfach strafrechtlich in Erscheinung getreten, u. a. wegen unerlaubten Erwerbs von Betäubungsmitteln (Amtsgericht Ingolstadt, 2001), vorsätzlicher Körperverletzung (Amtsgericht Ingolstadt, 2002), vorsätzlichen Fahrens ohne Fahrerlaubnis tateinheitlich mit fahrlässiger Straßenverkehrsgefährdung (Amtsgericht Ingolstadt, 2002) sowie wegen Diebstahls in fünf Fällen in Tatmehrheit zu unerlaubtem Erwerb von Betäubungsmitteln (Amtsgericht Ingolstadt, 2006). Der Antragsteller stand zum Zeitpunkt der Verurteilung vom 28. März 2007 unter Bewährung, das Amtsgericht Ingolstadt betonte die „kurze Rückfallgeschwindigkeit“ und bewertete das Tatgeschehen als „besonders verwerfliche Lynchjustiz“.
Der Antragsteller konsumierte in der Vergangenheit Betäubungsmittel, u. a. zeitweilig Heroin, zudem Marihuana und Amphetamine; auf eine gegenwärtig anhaltende Suchtproblematik lässt schließen, dass er sich in stationärer Therapie befindet.
Mit Bescheid vom 25. Juni 2008 wurde der Antragsteller von der Antragsgegnerin ausgewiesen und sein Antrag auf Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis abgelehnt. Zudem legte der Bescheid fest, die Antragsgegnerin werde dem Antragsteller nach Haftentlassung eine Duldung für ein Jahr erteilen, welche bis zu einer Gesamtdauer von 3 Jahren um jeweils ein weiteres Jahr verlängert werde. Nach Ablauf des Duldungszeitraums werde dem Antragsteller nur unter den folgenden Voraussetzungen eine Aufenthaltserlaubnis erteilt: das Fortbestehen der ehelichen Lebensgemeinschaft des Antragstellers, wirtschaftliche und soziale Integration, Nachweis der Drogenfreiheit durch Drogenscreenings und Erfüllen der Unterhaltspflicht. Andernfalls müsse der Antragsteller bis vier Wochen nach Ablauf der Duldung ausreisen. Die Duldung werde während des Duldungszeitraums widerrufen, wenn der Antragsteller wegen einer Straftat verurteilt werde. In diesem Fall sei der Antragsteller ausreisepflichtig innerhalb von vier Wochen nach dem Widerruf. Für beide Fälle der Ausreisepflicht wurde dem Antragsteller die Abschiebung angedroht. Der Bescheid ist mittlerweile bestandskräftig. Der Antragsteller hatte sich über seinen damaligen Bevollmächtigten am 22. April 2008 mit den Bedingungen einverstanden erklärt.
Am 9. März 2009 wurde der Antragsteller aus der Haft entlassen. Seit der Haftentlassung wurde der Antragsteller rechtskräftig verurteilt wegen Beleidigung (Amtsgericht Ingolstadt, 2012), Beihilfe zur unerlaubten Einfuhr von Betäubungsmitteln in nicht geringen Mengen (2013, Amtsgericht Krefeld) und Unterschlagung (Amtsgericht Köln, 2013). Weitere Strafverfahren wurden eingestellt.
Die letzte Duldung des Antragstellers endete am 15. September 2012.
Am 24. Januar 2013 beantragte der Antragsteller bei der Antragsgegnerin einen Aufenthaltstitel, welcher ihm mit Verweis darauf versagt wurde, dass er die im Bescheid vom 25. Juni 2008 festgelegten Voraussetzungen nicht erfülle. Unter anderem verwies die Antragsgegnerin auf die erneute Straffälligkeit des Antragstellers.
Am 1. Februar 2014 wurde der Antragsteller erneut in Haft genommen und wegen gefährlicher Körperverletzung zu einer Haftstrafe von 2 Jahren und 10 Monaten verurteilt (rechtskräftig nach Berufung zum Landgericht Ingolstadt am 12. März 2015).
Das Verhältnis des Antragstellers zu seinem Sohn beschreiben die Beteiligten unterschiedlich intensiv: Nach eigenen Angaben besuchte der Antragsteller seinen Sohn vor seiner erneuten Inhaftierung mehrfach wöchentlich und beschenkte ihn. Die Antragsgegnerin verweist dagegen auf Aussagen der Kindsmutter, wonach der Antragsteller sich an gerichtliche Besuchszeiten nicht gehalten habe und seine Besuche beim Sohn insgesamt unregelmäßig erfolgten, so dass Mutter und Sohn davon ausgehen würden, der Antragsteller habe kein Besuchsrecht mehr. Unterhalt bezahlt der Antragsteller nicht. Über das aktuelle Vater-Sohn-Verhältnis haben die Beteiligten nichts mitgeteilt.
Am 21. April 2016 hat der Bevollmächtigte des Antragstellers per Telefax die einstweilige Verfügung beantragt,
der Antragsgegnerin zu untersagen, aufenthaltsbeendende Maßnahmen gegen den Antragsteller einzuleiten.
Zur Begründung wird ausgeführt, der Antragsteller habe einen Anspruch auf eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG. Zudem habe der Antragsteller ein enges Verhältnis zu seinem Sohn und somit Anspruch auf Schutz gem. Art. 6 GG, Art. 8 EMRK, so dass eine Duldung gem. § 60a AufenthG in Betracht komme. Zudem sei der Antragsteller faktischer Inländer. Die Ausweisung sei unter der aktuellen Rechtslage neu zu entscheiden, da die Ausweisung bereits vor 8 Jahren erfolgt sei. Überdies seien die Bedingungen aus dem Bescheid vom 25. Juni 2008 unangemessen. Die Antragsgegnerin beabsichtige, den Antragsteller direkt aus der Haft abzuschieben, so dass Eile geboten sei. Beigelegt war ein Schreiben des ehemaligen Schwiegervaters des Antragstellers, nach dessen Meinung der Antragsteller von seinem Sohn gebraucht werde und der Antragsteller sich gut um seinen Sohn kümmere, sowie Schriftverkehr zwischen dem Antragsgegner und der JVA, der sich die Planung einer Abschiebung aus der Haft entnehmen lässt.
Mit Schreiben vom 22. April 2016 sicherte die Antragsgegnerin zu, keine aufenthaltsbeendenden Maßnahmen gegen den Antragsteller bis zum 10. Mai 2016 zu ergreifen. Mit Schreiben vom 29. April 2016, bei Gericht eingegangen am 9. Mai 2016 hat die Beklagte beantragt,
den Antrag abzulehnen.
Zur Begründung wird ausgeführt, der Antragsteller habe die Voraussetzungen, die im Bescheid vom 28. Juni 2008 für eine Aufenthaltserlaubnis festgelegt seien, nicht erfüllt: Er lebe von seiner Ehefrau getrennt und geschieden, habe kein festes Beschäftigungsverhältnis, begleiche seine Unterhaltsrückstände nicht und seine Unterhaltsverpflichtungen unvollständig, sei seit Haftentlassung 2009 mehrfach verurteilt worden, zudem gebe es Hinweise auf weiteren Betäubungsmittelkonsum. Der Ausweisungsbescheid sei vollziehbar. Eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG stehe dem Antragsteller, den die Sorge um sein Kind in den vergangenen Jahren weder von Drogenkonsum noch von Straffälligkeit abgehalten habe, nicht zu. Enger Kontakt zwischen dem Antragsteller und seinem Sohn habe bereits vor der Inhaftierung nicht bestanden und bestehe auch mittlerweile nicht. Rechtliche oder tatsächliche Gründe für eine Duldung nach § 60a Abs. 2 AufenthG lägen nicht vor, da der Antragsteller als tunesischer Staatsangehöriger sich einen Reisepass verschaffen könne.
Am 13. Mai 2016 teilte der Bevollmächtigte des Antragstellers mit, dass der Antragsteller aus der Haft entlassen werde und ein Angebot für eine stationäre Therapie habe.
Nach telefonischer Auskunft vom 17. Mai 2016 werde der Antragsgegner keine aufenthaltsbeendenden Maßnahmen bis zur Gerichtsentscheidung ergreifen.
Der Antragsteller wurde am 17. Mai 2016 aus der Haft entlassen.
Mit Schreiben vom 1. Juni 2016 teilte der Bevollmächtigte des Antragstellers mit, dass dieser sich in stationärer Therapie befinde, aus der beigefügten Therapiebestätigung ergibt sich als Tag der Aufnahme der 20. Mai 2016.
Mit Schreiben vom 6. Juni 2016 teilte die Antragsgegnerin mit, der Antragsteller habe seit dem 22. Juli 2014 keinen gültigen Reisepass mehr und sich nach der Haftentlassung auch nicht sofort um einen bemüht. Sie schlussfolgert daraus auf eine zögerliche Mitwirkung des Antragstellers. Zudem wertet sie die weiterhin bestehende Drogenabhängigkeit des Antragstellers, die zu überwinden ihm bereits 2008 zur Bedingung gemacht wurde, als Indiz für die mangelnden Erfolgsaussichten der nunmehr durchgeführten Drogentherapie.
Mit Schreiben vom 15. Juni 2016 trat der Bevollmächtigte des Antragstellers dem Vorwurf entgegen, der Antragsteller habe nicht ausreichend mitgewirkt.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichts- bzw. die vorgelegten Behördenakten verwiesen.
II.
Der zulässige Antrag ist unbegründet. Ein Anordnungsanspruch, der durch den Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 123 Abs. 1 VwGO gesichert werden könnte, ist nicht glaubhaft gemacht (§ 123 Abs. 3 VwGO i. V. m. § 920 Abs. 2 ZPO).
Nach § 123 Abs. 1 Satz 1 VwGO kann das Gericht eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustandes die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte (sog. Sicherungsanordnung) oder auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes, wenn dies nötig erscheint, um wesentliche Nachteile für den Antragsteller abzuwenden (sog. Regelungsanordnung). Wesentliche Nachteile sind u. a. wesentliche rechtliche, wirtschaftliche oder ideelle Nachteile, die der Antragsteller in Kauf nehmen müsste, wenn er das Recht im langwierigen Hauptsacheprozess erstreiten müsste (vgl. Eyermann, VwGO, 14. Auflage 2014, § 123, Rn. 23). Nach § 123 Abs. 3 VwGO i. V. m. § 920 Abs. 2, § 294 Abs. 1 ZPO sind sowohl ein Anordnungsanspruch, d. h. der materielle Grund, für den der Antragsteller vorläufig Rechtsschutz sucht, als auch ein Anordnungsgrund, der insbesondere durch die Eilbedürftigkeit der Regelung begründet wird, glaubhaft zu machen. Maßgeblich sind die tatsächlichen und rechtlichen Verhältnisse im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung.
Eine einstweilige Anordnung ist nicht nur zu erlassen, wenn mit zweifelsfreier Sicherheit feststeht, dass das materielle Recht besteht, dessen Sicherung der Antragsteller im Fall des § 123 Abs. 1 Satz 1 VwGO erstrebt oder dessen Regelung er im Sinn von § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO erreichen will. Es genügt vielmehr, dass das Bestehen dieses Rechts überwiegend wahrscheinlich ist, so dass der Rechtsschutzsuchende in der Hauptsache voraussichtlich obsiegen würde (vgl. BayVGH, B. v. 16.8.2010 – 11 CE 10.262 – juris Rn. 20 m. w. N.). Grundsätzlich darf das Eilverfahren die Hauptsache nicht vorwegnehmen.
Zwar ist trotz des Umstandes, dass ein konkreter Abschiebungstermin noch nicht feststeht, wegen des Hinweises der Antragsgegnerin auf die in naher Zukunft beabsichtigte bzw. jedenfalls nicht auszuschließende Abschiebung des Antragstellers wohl ein Anordnungsgrund gegeben, jedoch liegt bei der gebotenen summarischen Prüfung kein Anordnungsanspruch vor.
Der Antragsteller ist aufgrund der bestandskräftigen Ausweisungsverfügung vom 25. Juni 2008 seit über 8 Jahren vollziehbar ausreisepflichtig. Eine erneute Entscheidung über die bestandskräftige Ausweisung ist nicht erforderlich. Zudem hat die Antragsgegnerin implizit in der Ablehnung des am 24. Januar 2013 beantragten Aufenthaltstitels entschieden, dass sie an der Ausweisung festhält.
1. Der anwaltlich vertretene Antragsteller begehrt nicht die (vorläufige) Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis, sondern wendet sich gegen aufenthaltsbeendende Maßnahmen. Dass der Antragsteller nach summarischer Prüfung die Voraussetzungen des Bescheids vom 25. Juni 2008 nicht erfüllt, ist mithin unerheblich.
2. Ein Abschiebungshindernis liegt nicht vor.
a. Dem Antragsteller steht kein Anspruch auf eine vorübergehende Aussetzung der Abschiebung (Duldung) nach § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG zu.
Danach ist die Abschiebung eines Ausländers auszusetzen, solange die Abschiebung aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen unmöglich ist und keine Aufenthaltserlaubnis erteilt wird. Die Abschiebung des Antragstellers nach Tunesien ist aber weder tatsächlich noch rechtlich unmöglich.
aa. Eine tatsächliche Unmöglichkeit der Abschiebung kann nur bei fortdauernder Passlosigkeit des Antragstellers angenommen werden, wenn nach den Erfahrungen der Ausländerbehörde die Abschiebung ohne Pass oder Passersatz nicht möglich ist oder ein Abschiebungsversuch gescheitert ist (vgl. Hailbronner, Ausländerrecht, Stand: April 2016, § 60a AufenthG Rn. 50 f., 56).
Der Antragsteller hat nicht glaubhaft gemacht und es ist auch sonst nicht ersichtlich, dass ein tunesischer Reisepass nicht erreichbar ist.
Tatsächliche Abschiebehindernisse sind daher nach summarischer Prüfung nicht ersichtlich.
bb. Ein rechtliches Abschiebehindernis ergibt sich für den Antragsteller nicht, weil durch seine Abschiebung der Schutz von Ehe und Familie sowie des Privat- und Familienlebens nach Art. 6 Abs. 1 und 2 GG und Art. 8 Abs. 1 EMRK in unverhältnismäßiger Weise beeinträchtigt würde.
Die Rückkehr nach Tunesien ist dem Antragsteller vielmehr auch unter Berücksichtigung des Grundrechts auf Schutz der Familie nach Art. 6 Abs. 1 GG und auf das Recht auf Familienleben nach Art. 8 Abs. 1 EMRK zumutbar. Art. 6 GG gewährt keinen unmittelbaren Anspruch auf Einreise und Aufenthalt im Bundesgebiet. Allerdings folgt aus Art. 6 Abs. 1 GG ein Anspruch des Grundrechtsträgers und die korrespondierende Pflicht der Ausländerbehörden, dass diese bei der Entscheidung über ein Aufenthaltsbegehren die bestehenden familiären Bindungen des Ausländers an Personen, die sich berechtigterweise im Bundesgebiet aufhalten, zu berücksichtigen haben und entsprechend dem Gewicht dieser Bindungen in ihren Erwägungen zur Geltung zu bringen haben (vgl. BVerfG, B. v. 10.5.2008 – 2 BvR 588/08 – juris Rn. 11 m. w. N.). Ebenso ist nach Art. 8 EMRK bei aufenthaltsbeendenden Maßnahmen die familiäre Situation des Ausländers zu berücksichtigen (vgl. EGMR, U. v. 2.8.2001 – Boultif, Nr. 54273/00 – InfAuslR 2001, 476/478). Das von diesen Bestimmungen u. a. geschützte Recht auf Achtung des Privatlebens umfasst, auch soweit es keinen familiären Bezug hat, die Summe der persönlichen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Beziehungen, die für das Privatleben eines jeden Menschen konstitutiv sind und denen – angesichts der zentralen Bedeutung dieser Bindungen für die Entfaltung der Persönlichkeit eines Menschen – bei fortschreitender Dauer des Aufenthalts wachsende Bedeutung zukommt (vgl. BVerwG, U. v. 27.1.2009 – 1 C 40.07 – juris Rn. 21; BVerfG, B. v. 10.5.2007 – 2 BvR 304/07 – juris Rn. 33).
Grundvoraussetzung eines rechtlichen Abschiebungshindernisses aus Art. 8 Abs. 1 EMRK ist die abgeschlossene „gelungene“ Integration in die Lebensverhältnisse in Deutschland (z. B. EGMR, U. v. 23.6.2008 – 1638/03 – Maslov – InfAuslR 2008, 333), die nicht automatisch mit einem bestimmten, auch längerfristigen Aufenthalt im Aufnahmeland einhergeht. Eine Aufenthaltsbeendigung kann vielmehr nur dann einen konventionswidrigen Eingriff in das „Privatleben“ im Verständnis des Art. 8 Abs. 1 EMRK darstellen, wenn der Ausländer wegen seines (längeren) Aufenthalts über so starke persönliche, soziale und wirtschaftliche Kontakte zum Aufnahmestaat verfügt, dass er aufgrund der Gesamtentwicklung „faktisch zu einem Inländer“ geworden ist, dem wegen der Besonderheiten seines Falles ein Leben in dem Staat seiner Staatsangehörigkeit, zu dem er keinen Bezug (mehr) hat, schlechterdings nicht zugemutet werden kann (vgl. OVG Saarl, B. v. 30.4.2008 – 2 B 214/08 juris Rn. 11).
Art. 6 GG und Art. 8 EMRK vermitteln dem Antragsteller keinen Duldungsanspruch. Dies wäre nur dann der Fall, wenn eine Vater-Kind-Beziehung bereits tatsächlich gelebt würde. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (vgl. z. B. B. v. 10.5.2008 – 2 BvR 588/08 – juris) entfaltet Art. 6 GG nämlich nicht schon aufgrund formalrechtlicher familiärer Bindungen ausländerrechtliche Schutzwirkungen, sondern entscheidend ist vielmehr die tatsächliche Verbundenheit zwischen den Familienmitgliedern (vgl. auch VGH München, B. v. 24.11.2008 – 10 CE 08.3014 – juris; VGH München, B. v. 17.5.2013 – 10 CE 13.1065 – juris, VG München B. v. 23.10.2013 – M 10 E 13.3727 – juris). Der Antragsteller hat eine solche Verbundenheit zu seinem Sohn nicht ausreichend glaubhaft gemacht. Der Brief des ehemaligen Schwiegervaters bleibt zu vage, um ein für § 60a AufenthG ausreichendes Vater-Sohn-Verhältnis zu beschreiben, insbesondere bleiben die Häufigkeit von Treffen, Geschenken und Briefen offen. Sohn und Vater lebten, zudem unterbrochen von einem Klinikaufenthalt, vor allem in den ersten fünf Lebensjahren des Kindes zusammen, bevor der Antragsteller 2009 inhaftiert wurde, seit 2010 von der Kindsmutter getrennt lebt und 2014 erneut inhaftiert wurde. Eine enge Bindung mit dem zwölfjährigen Sohn beruht in den letzten Jahren jedenfalls nicht auf einem gemeinsamen Zusammenleben. Auch hat der Antragsteller nicht glaubhaft gemacht, dass durch Telefonate, Besuche und Briefe dennoch ein enges Verhältnis entstanden sei, das sich nicht aus dem Ausland ebenso weiterführen ließe: Besuche erfolgten auch vor der Haft nur unregelmäßig. Der Antragsteller hat angegeben, er habe vor der Haft seinen Sohn zwei- bis dreimal wöchentlich gesehen, konkrete Nachweise, Beispiele oder Mittel der Glaubhaftmachung fehlen. Die Kindsmutter dagegen hat gegenüber der Antragsgegnerin mitgeteilt, die Besuche seien nur manchmal mehrfach wöchentlich erfolgt. Auch die weiteren von der Antragsgegnerin eingeführten Aussagen der Kindsmutter, auf die sich auch der Antragsteller bezieht, weisen auf ein distanziertes Verhältnis hin, da der Sohn nach Angaben der Mutter die Abwesenheit des Vaters gewohnt sei. Zudem gehe er nach Einschätzung der Antragsgegnerin wohl davon aus, der Antragsteller habe überhaupt kein Besuchsrecht mehr. Zwar beschenkt der Antragsteller seinen Sohn, doch spricht gegen eine enge Bindung, dass der Antragsteller zum Unterhalt seines Sohnes nicht zuverlässig beiträgt und auch nicht beitrug, als er noch eine Arbeitsstelle hatte. Vor allem hat der Antragsteller versäumt mitzuteilen, wie sich aktuell nach der Haftentlassung und mithin zum maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt sein Verhältnis zu seinem Sohn darstellt.
Überdies stehen Art. 6 GG und Art. 8 EMRK einer Abschiebung nicht per se entgegen, sondern fordern lediglich eine Verhältnismäßigkeitsprüfung. Dem Interesse an der familiären Bindung ist damit die durch die wiederholte Straffälligkeit manifestierte Gefährlichkeit des Antragstellers entgegenzustellen. Insbesondere vermochten die Bedingungen, die für die erneute Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis vereinbart waren, sowie die bestandskräftige Ausweisung ihn nicht zur Straffreiheit zu motivieren. Der Antragsteller hat sich über einen langen Zeitraum in erheblicher Häufigkeit und Schwere strafbar gemacht.
Zwar lebt der Antragsteller nahezu sein gesamtes Leben ununterbrochen in der Bundesrepublik und hat dementsprechend ein schützenswertes Privatleben in der deutschen Gesellschaft aufgebaut. Doch rechtfertigt den Eingriff die Schwere und Häufigkeit seiner Straftaten. Gerade Verstöße gegen das Betäubungsmittelgesetz stellen eine besondere Gefahr für die Gesellschaft dar (vgl. EGMR, U. v. 19.03.2013 – 45971/08 – juris Rn. 47). Erneut steht dem Interesse des Antragstellers am Schutz seines Privatlebens gewichtig entgegen, dass ihn auch die Duldung auf Bewährung weder von Drogenkonsum noch von Straffälligkeit abhalten konnte. Auch hat der Antragsteller nicht glaubhaft gemacht oder ist sonst ersichtlich, dass ihm ein Leben in Tunesien unzumutbar wäre.
2. Auch eine Duldung im Ermessensweg nach § 60a Abs. 2 Satz 3 AufenthG kommt nicht in Betracht. Dringende humanitäre oder persönliche Gründe im Sinne des § 60a Abs. 2 Satz 3 AufenthG für eine Ermessensduldung wurden vom Antragsteller weder dargelegt noch sind solche Gründe sonst ersichtlich.
3. Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 53 Abs. 2 Nr. 1, 52 Abs. 1 GKG i. V. m. dem Streitwertkatalog.


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