Verwaltungsrecht

Erfolgloser Zulassungsantrag zur Sicherheitslage in Afghanistan

Aktenzeichen  13a ZB 21.31166

Datum:
19.8.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 28454
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG § 4 Abs. 1 S. 2 Nr. 3, § 78 Abs. 3, Abs. 4

 

Leitsatz

1. Ein lediglich pauschaler Verweis auf eine aktuelle Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs zur Prüfung sämtlicher relevanter Umstände im Herkunftsland des Antragstellers stellt keine hinreichende Darlegung fortbestehender Klärungsbedürftigkeit der formulierten Grundsatzfrage zur Ermittlung der Gefahrendichte im Herkunftsland dar. (Rn. 8) (redaktioneller Leitsatz)
2. Um die in Bezug genommene Verschlechterung der Sicherheitslage in Afghanistan zu belegen und die Klärungsbedürftigkeit der aufgeworfenen Frage darzulegen, reicht der bloße Abdruck mehrerer undatierter Links auf nicht beigefügte Presseberichte im Internet nicht aus. (Rn. 9) (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

RN 16 K 18.31689 2021-06-29 Urt VGREGENSBURG VG Regensburg

Tenor

I. Der Antrag wird abgelehnt.
II. Der Kläger hat die Kosten des Antragsverfahrens zu tragen.
Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe

Der Antrag des Klägers auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Regensburg vom 29. Juni 2021 hat keinen Erfolg. Zulassungsgründe nach § 78 Abs. 3 AsylG sind nicht gegeben.
Der Kläger hat seinen Zulassungsantrag damit begründet, dass die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung habe (§ 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG). Klärungsbedürftig sei, ob
1. „in Afghanistan ein innerstaatlicher bewaffneter Konflikt i.S.v. § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG i.V.m. Art. 15c der RL 2011/96/EG solchen Ausmaßes besteht, dass er sich für jeden Angehörigen der Zivilbevölkerung zu einer erheblichen individuellen Gefahr für Leib und Leben verdichtet hat und eine (erreichbare) interne Schutzalternative in ganz Afghanistan nicht besteht.“
2. „unter den aktuell während der Corona-Pandemie und nach dem Abzug der internationalen Truppen in Afghanistan bestehenden Bedingungen eine Existenzsicherung bzw. Lebensunterhaltssicherung auch für alleinstehende gesunde junge Männer noch möglich ist.“
Zu Frage Nr. 1 sei auszuführen, dass das Verwaltungsgericht das Vorliegen der Voraussetzungen des Schutztatbestands aus § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG mit der Begründung verneint habe, dass das Risiko der Verletzung oder Tötung angesichts der zivilen Opferzahlen unterhalb des Schwellenwerts des Bundesverwaltungsgerichts liege. Dieser allein quantitative Ansatz sei jedoch nicht mehr haltbar. Der Europäische Gerichtshof habe aktuell entschieden, dass insoweit sämtliche relevanten Umstände geprüft werden müssten, die die Situation im Herkunftsland des jeweiligen Antragstellers kennzeichneten; eine quantitative Mindestschwelle hinsichtlich der Zahl ziviler Konfliktopfer sei mit der RL 2011/96 unvereinbar (EuGH, U.v. 10.6.2021 – Rs. C-901/19). Die seitens des Verwaltungsgerichts vorgenommene quantitative Ermittlung der Gefahrendichte stehe also im Widerspruch zur europäischen Rechtsprechung. Aktuell liege zudem weder ein Berufungsurteil des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs noch ein Revisionsurteil des Bundesverwaltungsgerichts vor, das sich mit der Frage befasst, ob und ggf. inwieweit mit Blick auf die aktuelle Judikatur des Europäischen Gerichtshofs Änderungen in der Rechtsprechung zur Ermittlung der Gefahrendichte veranlasst sein könnten. Hinsichtlich Frage Nr. 2 gelte, dass der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg bereits entschieden habe, dass auch für gesunde afghanische Männer im arbeitsfähigen Alter ohne soziales oder familiäres Netzwerk und ohne begünstigende Umstände ein Abschiebungsverbot festgestellt werden müsse (VGH BW, U.v. 17.12.2020 – A 11 S 2041/20). Die zitierte Entscheidung stütze sich auf das im dortigen Verfahren eingeholte Schwörer-Gutachten vom 30. November 2020 und die ausführliche Befragung der Sachverständigen in der mündlichen Verhandlung. Angesichts der gravierenden Verschlechterung der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen infolge der COVID-19-Pandemie werde es einem Rückkehrer nach Afghanistan aus dem westlichen Ausland ohne familiäres Netzwerk voraussichtlich nicht gelingen, auf legalem Wege die elementarsten Bedürfnisse nach Nahrung, Unterkunft und Hygiene zu befriedigen. Insbesondere bestehe ohne Netzwerk keine Möglichkeit, auf dem Tagelöhnermarkt eine Arbeit zu finden. Die Lage werde sich noch verschlechtern, da im wohl noch einzigen erreichbaren Ort Kabul die Anzahl der Binnenflüchtlinge stark steigen werde, nachdem die Taliban nach dem Abzug der internationalen Truppen Tag für Tag weitere afghanische Distrikte eroberten. Nach den neueren Berichten sei davon auszugehen, dass die Taliban in wenigen Wochen ganz Afghanistan erobert haben werden; auch Kabul werde sich voraussichtlich nur noch maximal sechs Monate halten können (tagesspiegel.de; spiegel.de; tagesschau.de; deutschlandfunk.de; zdf.de; t-online.de; jeweils undatierte Links ohne ausgedruckte Beifügung der in Bezug genommenen Pressemeldungen). Über ein familiäres Unterstützungsnetzwerk in Afghanistan bzw. Kabul verfüge er nicht.
Der Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache (§ 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG) setzt voraus, dass die im Zulassungsantrag dargelegte konkrete Rechts- oder Tatsachenfrage für die Entscheidung des Verwaltungsgerichts von Bedeutung war, ihre Klärung im Berufungsverfahren zu erwarten und zur Erhaltung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder zur Weiterentwicklung des Rechts geboten ist und ihr eine über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung zukommt (vgl. Happ in Eyermann, VwGO, 15. Aufl. 2019, § 124 Rn. 36). Die Grundsatzfrage muss nach Maßgabe des Verwaltungsgerichtsurteils rechtlich aufgearbeitet sein. Dies erfordert regelmäßig eine Durchdringung der Materie und eine Auseinandersetzung mit den Erwägungen des Verwaltungsgerichts (vgl. BayVGH, B.v. 24.1.2019 – 13a ZB 19.30070 – juris Rn. 5; B.v. 21.12.2018 – 13a ZB 17.31203 – juris Rn. 4; B.v. 13.8.2013 – 13a ZB 12.30470 – juris Rn. 4 m.w.N.).
Hiervon ausgehend hat die Rechtssache keine grundsätzliche Bedeutung.
Hinsichtlich der Frage Nr. 1 wird der Kläger seinen Darlegungspflichten aus § 78 Abs. 4 Satz 4 AsylG nicht gerecht. Er verweist lediglich pauschal darauf, dass der Europäische Gerichtshof (EuGH, U.v. 10.6.2021 – Rs. C-901/19) aktuell entschieden habe, dass im Rahmen von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG sämtliche relevanten Umstände geprüft werden müssten, die die Situation im Herkunftsland des jeweiligen Antragstellers kennzeichneten; eine insoweit vorliegend vom Verwaltungsgericht vertretene quantitative Mindestschwelle hinsichtlich der Zahl ziviler Konfliktopfer sei mit der RL 2011/96 unvereinbar. Diese klägerischen Ausführungen stellen keine hinreichende rechtliche Aufarbeitung der formulierten Grundsatzfrage nach Maßgabe des Verwaltungsgerichtsurteils dar. Insbesondere fehlt es an einer hinreichenden klägerischen Darlegung einer auch nach Vorliegen der zitierten EuGH-Entscheidung fortbestehenden Klärungsbedürftigkeit der aufgeworfenen Frage unter Auseinandersetzung mit der bisherigen Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs sowie des Bundesverwaltungsgerichts. Insoweit ist auch nicht der pauschale Vortrag ausreichend, dass aktuell weder ein Berufungsurteil des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs noch ein Revisionsurteil des Bundesverwaltungsgerichts vorliege, dass sich mit der Frage befasst, ob und ggf. inwieweit mit Blick auf die aktuelle Judikatur des Europäischen Gerichtshofs Änderungen in der Rechtsprechung zur Ermittlung der Gefahrendichte veranlasst sein könnten. Auch trifft es nicht zu, dass sich das Verwaltungsgericht allein auf einen quantitativen Ansatz gestützt hätte. Vielmehr hat es ausdrücklich klargestellt, dass im Rahmen von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG alle Umstände des Einzelfalls einzubeziehen seien, d.h. quantitative sowie qualitative Umstände; ausgehend hiervon führt das Gericht aus, dass weitere vorhandene Erkenntnismittel – BFA v. 9.4.2021; SFH v. September 2020 – kein von den Zahlen ziviler Konfliktopfer abweichendes Bild der allgemeinen Sicherheitslage ergeben hätten (UA S. 11 f.). Soweit der Kläger vorträgt, dass die rechtlichen Maßstäbe des Verwaltungsgerichts der neueren Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs nicht gerecht würden, macht er in der Sache ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils geltend, die jedoch im Asylprozess gemäß § 78 Abs. 3 AsylG keinen Zulassungsgrund darstellen.
Auch soweit es das klägerseitig mit der Frage Nr. 2 in der Sache angesprochene Abschiebungsverbot aus § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK betrifft, wird der Kläger den Darlegungsanforderungen aus § 78 Abs. 4 Satz 4 AsylG nicht gerecht. Es fehlt auch hier an einer hinreichenden rechtlichen Aufarbeitung der Grundsatzfrage nach Maßgabe des Verwaltungsgerichtsurteils. Auf das angegriffene Verwaltungsgerichtsurteil geht der Zulassungsantrag im Kontext des § 60 Abs. 5 AufenthG ebenso wenig ein wie auf den Inhalt und die Begründung der bisherigen Rechtsprechung des Senats hierzu. Der Kläger führt darüber hinaus im Zulassungsantrag nicht in hinreichender Weise eigene aktuelle Erkenntnismittel amtlicher bzw. nicht-amtlicher Stellen und deren Inhalt an, um die von ihm in Bezug genommene Verschlechterung der Sicherheitslage in Afghanistan zu belegen. Die Darlegungsanforderungen werden insoweit nicht durch den bloßen Abdruck mehrerer undatierter Links auf nicht beigefügte Presseberichte im Internet erfüllt. Hiervon ausgehend ist die Klärungsbedürftigkeit der aufgeworfenen Frage nicht hinreichend dargelegt (§ 78 Abs. 4 Satz 4 AsylG).
Abschließend ist klarzustellen, dass auch die aktuellen Ereignisse in Afghanistan nichts daran ändern, dass der Kläger gemäß § 78 Abs. 4 AsylG im Zulassungsantrag innerhalb der Monatsfrist die Gründe, aus denen die Berufung zuzulassen ist, darzulegen hat. In diesem Zusammenhang wird darauf hingewiesen, dass es dem Kläger bei nachträglicher Änderung der Sach- oder Rechtslage freisteht, einen Folgeantrag nach § 71 AsylG zu stellen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO, § 83b AsylG.


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