Aktenzeichen W 8 S 17.50326
Leitsatz
Die Bestimmungen über die Mutterschutzfristen nach § 3 Abs. 2 und § 6 Abs. 1 MuSchG sind bei der Frage der rechtlichen Durchführbarkeit einer Abschiebung entsprechend heranzuziehen, so dass im Zeitraum von acht Wochen nach der Entbindung grundsätzlich ein Abschiebungshindernis besteht. (Rn. 10) (redaktioneller Leitsatz)
Tenor
I. Der Beschluss des Verwaltungsgerichts Würzburg vom 9. Juni 2017 (W 8 S 17.50315) wird insoweit abgeändert, als die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die unter Nr. 3 des Bescheides der Antragsgegnerin vom 31. Mai 2017 verfügte Abschiebungsanordnung bis acht Wochen nach Niederkunft der Antragstellerin zu 2) bzw. nach sonstiger Beendigung der Schwangerschaft angeordnet wird.
Im Übrigen wird der Antrag abgelehnt.
II. Die Beteiligten haben die Kosten des Verfahrens jeweils zur Hälfte zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
Gründe
I.
Das Gericht lehnte den Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage (W 8 K 17.50316) gegen einen Dublin Bescheid der Antragsgegnerin vom 31. Mai 2017 mit Beschluss vom 9. Juni 2017 im Verfahren W 8 S. 17.50315 ab. Unter Nr. 3 des Bescheides vom 31. Mai 2017 wurde die Abschiebung der Antragsteller in die Tschechische Republik angeordnet.
Am 16. Juni 2017 ließen die Antragsteller beantragen,
1.die aufschiebende Wirkung der Klage vom 6. Juni 2017 gegen den Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 31. Mai 2017, zugestellt am 6. Juni 2017 (Az. BAMF: …*) gemäß § 80 Abs. 7 Satz 2 VwGO wiederherzustellen;
2.der Antragsgegnerin – auch vorab telefonisch – aufzugeben, Abschiebemaßnahmen gegen die Antragstellerin bis zur Entscheidung über den vorliegenden Antrag zu unterlassen.
Zur Begründung ließen die Antragsteller im Wesentlichen ausführen: Nunmehr lägen veränderte Umstände vor. Bei der Antragstellerin zu 2) bestehe nun aufgrund der Risikoschwangerschaft Reiseunfähigkeit. Die Reiseunfähigkeit der Antragstellerin zu 2) werde durch das nunmehr vorgelegte Attest vom 16. Juni 2017 substanziiert.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte (einschließlich der Akten der Verfahren W 8 S. 17.50315 und W 8 K 17.50316) und die beigezogene Behördenakten Bezug genommen.
II.
Der Antrag auf Abänderung des im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes nach § 80 Abs. 5 VwGO ergangenen Beschlusses vom 9. Juni 2016 (W 8 S. 17.50315 ist (nur) zulässig, soweit er sich auf die Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen die Abschiebungsanordnung in Nr. 3 des streitgegenständlichen Bescheides bezieht (vgl. auch § 123 Abs. 5 VwGO), und in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang begründet.
Das Gericht kann gemäß § 80 Abs. 7 Satz 1 VwGO Beschlüsse nach § 80 Abs. 5 VwGO jederzeit ändern oder aufheben. Jeder Beteiligte kann die Änderung oder Aufhebung wegen veränderter oder im ursprünglichen Verfahren ohne Verschulden nicht geltend gemachte Umstände beantragen (§ 80 Abs. 7 Satz 2 VwGO).
Vorliegend besteht ein zeitweises inlandsbezogenes Abschiebungshindernis, das die Antragsgegnerin selbst zu berücksichtigen hat. Eine Reise- oder Transportunfähigkeit wurde von den Antragstellern nunmehr substanziiert geltend gemacht.
Denn die Antragsteller haben nunmehr ein fachärztliches Attest betreffend die Antragstellerin zu 2) mit folgender Diagnose vorgelegt: 1. Gravidität 10. SSW; 2. Z. n. septischem Abort bei Geminigravidität mens VI 2016; 3. Z. n. nach Spontanpartus 2010 und 2012. Therapieempfehlung: Weitere ambulante Schwangerschaftsvorsorge. Nach dem ersten Trimenon Empfehlung zum Muttermundverschluss nach Saling. Die aktuelle Schwangerschaft ist als Risikoschwangerschaft einzustufen, es besteht Reiseunfähigkeit.
Auch wenn das Attest immer noch nicht voll den Vorgaben des § 60a Abs. 2c Satz 2 und 3 AufenthG entspricht, hat das Gericht keinen Zweifel, dass die vom Frauenarzt gestellte Diagnose zutrifft und eine Risikoschwangerschaft besteht, die zur (vorübergehenden) Reiseunfähigkeit führt. Hinzu kommt, dass sich ebenfalls im vorgelegten Mutterschaftspass sowohl eine Gemini-Frühgeburt im Jahr 2016 als auch die Fehlgeburten im Jahr 2010 und 2012 belegt finden und dort weiter die Empfehlung zum Muttermundverschluss nach Saling aufgeführt ist. Ausgehend von diesen Feststellungen hat das Gericht keine Zweifel, dass bei der Antragstellerin zu 2) eine Risikoschwangerschaft vorliegt und bei einer Reise bzw. Überstellung nach Tschechien zum jetzigen Zeitpunkt eine konkrete und ernsthafte Gefährdung der körperlichen Unversehrtheit der Mutter oder des ungeborenen Kindes (etwa infolge einer erneuten Früh- oder Fehlgeburt) beachtlich wahrscheinlich ist, sodass eine Überstellung nach Tschechien gegenwärtig nicht zumutbar ist. Auch wenn das ärztliche Attest nicht konkret auf mögliche Folgen einer Abschiebung eingeht, sprechen sowohl die früheren Fehlgeburten bzw. Komplikationen bei den früheren Geburten und die Empfehlung zum Muttermundverschluss für die Korrektheit der fachärztlich festgestellten Reiseunfähigkeit.
Die schwangerschaftsbedingte Reiseunfähigkeit begründet indes kein absolutes, sondern nur ein vorübergehendes Abschiebungshindernis. Laut Mutterschaftspass ist die Niederkunft am … 2017 (… 2017) zu erwarten. Von einer Reiseunfähigkeit ist bis zu einem Zeitraum von acht Wochen nach der Entbindung/Niederkunft bzw. nach sonstiger Beendigung der Schwangerschaft auszugehen. Denn die Bestimmungen über die Mutterschutzfristen im Mutterschutzgesetz (vgl. § 3 Abs. 2 und § 6 Abs. 1 Mutterschutzgesetz) sind bei der Frage der rechtlichen Durchführbarkeit einer Abschiebung entsprechend heranzuziehen, so dass im Zeitraum von acht Wochen nach der Entbindung grundsätzlich ein Abschiebungshindernis besteht (vgl. VG Würzburg, U.v. 27.6.2016 – W 2 K 16.50065 – juris; VG Ansbach, B.v. 24.11.2015 – AN 14 S. 15.50402 – juris, jeweils m.w.N.).
Im Hinblick auf Art. 1, 2 und 6 GG ergibt sich aus der vorübergehenden Reiseunfähigkeit der Antragstellerin zu 2) ein temporäres Abschiebungshindernis für alle Antragsteller, so dass insoweit eine Abschiebung zum jetzigen Zeitpunkt insgesamt nicht durchgeführt werden kann. Ist die Abschiebung der Antragstellerin zu 2) vorübergehend rechtlich unmöglich, so liegt auch bei den Antragstellern zu 1) sowie 3) und 4) ein solches inlandsbezogenes Abschiebungshindernis vor. Eine Trennung der Familieneinheit wäre gemäß Art. 20 Abs. 3 Dublin III-VO und gemäß dem in Art. 6 GG und Art. 8 EMRK gewährleisteten Schutz der Ehe und Familie unzulässig. Die Familienbindung der Antragstellerin zu 2) zu ihrem Ehemann sowie zu ihren Kindern unterfallen dem entsprechenden Schutz (vgl. VG Würzburg, U.v. 27.6.2016 – W 2 K 16.50065 – juris; VG Ansbach, B.v. 24.11.2015 – AN 14 S. 15.50402 – juris, jeweils m.w.N.).
Da die schwangerschaftsbedingte Reiseunfähigkeit der Antragstellerin zu 2) lediglich temporär ist und nicht zu einem absoluten Abschiebungshindernis führt, war dem Abänderungsantrag nur teilweise stattzugeben, soweit die Antragsteller die Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen die Abschiebungsanordnung für den Zeitraum der Mutterschutzfrist (acht Wochen nach Entbindung/Niederkunft bzw. sonstige Beendigung der Schwangerschaft) begehren. Soweit die Antragsteller über die Acht-Wochen-Frist hinaus die Aussetzung der Vollziehung ihrer Abschiebungsanordnung bis zum Abschluss des Hauptsacheverfahrens begehren, bleibt der Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO bzw. nach § 80 Abs. 7 Satz 2 VwGO hingegen ohne Erfolg. Insoweit ist die Abschiebungsanordnung rechtmäßig.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO und § 83b AsylG. Die hälftige Kostenteilung orientiert sich am Grad des jeweiligen Obsiegens bzw. Verlierens. Einerseits lässt sich kein endgültiges, sondern nur ein vorübergehendes Abschiebungshindernis durch die schwangerschaftsbedingte Reiseunfähigkeit feststellen; andererseits besteht das Abschiebungshindernis ausgehend von der geplanten Niederkunft im Dezember 2017 und den zusätzlich danach folgenden acht Wochen doch für geraume Zeit.