Verwaltungsrecht

Erfolgreicher Eilantrag gegen die Ablehnung eines Asylantrags als offensichtlich unbegründet wegen Zerstörung des Reisepasses

Aktenzeichen  AN 4 S 20.30768

Datum:
4.9.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 24945
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Ansbach
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG § 15 Abs. 2 Nr. 4, § 30 Abs. 3 Nr. 5
RL 2013/32/EU Art. 31 Abs. 8

 

Leitsatz

Eine gröbliche Verletzung der Mitwirkungsrechte setzt voraus, dass der Antragsteller der Mitwirkungsverpflichtung bereits unterlag und dass der Antragsteller über seine Rechte und Pflichten informiert worden ist. (Rn. 14) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

1. Die aufschiebende Wirkung der am 24. August 2020 erhobenen Klage gegen Ziffer 5 des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 13. August 2020, Geschäftszeichen …, wird angeordnet.
2. Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
3. Der Gegenstandswert beträgt 2.500,00 EUR.

Gründe

I.
Der Antragsteller, tadschikischer Staatsan- und Volkszugehöriger islamisch-sunnitischen Glaubens, reiste nach eigenen Angaben mit einem deutschen Schengen-Visum am 16. März 2020 auf dem Luftweg über die Russische Föderation in die Bundesrepublik Deutschland ein.
Am 25. März 2020 suchte der Antragsteller bei der Bezirksregierung …, Landeserstaufnahmeeinrichtung …, um Asyl nach. Bei der Erfassung der Personendaten gab er unter dem Punkt „Vorhandene Unterlagen: Nationalpass, Reisepass, […]“ an, ohne Unterlagen eingereist zu sein. In der Folge wurde der Antragsteller zunächst am 27. März 2020 in der Erstaufnahmeeinrichtung …, dann am 6. Mai 2020 in der Zentralen Aufnahmeeinrichtung Zirndorf als Asylsuchender aufgenommen. Am 7. Mai 2020 wurde ihm durch die Zentrale Ausländerbehörde Mittelfranken, Außenstelle Zirndorf, u.a. eine Belehrung nach § 15 AsylG in russischer Sprache ausgehändigt. Eine Untersuchung nach § 15 Abs. 4 AsylG fand wegen des Coronavirus nicht statt. Vom Antragsteller wurden keine Dokumente gemäß § 15 Abs. 2 Nr. 4 und 5 AsylG in Verwahrung genommen.
Mit beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) am 7. Mai 2020 eingegangenem Schreiben stellte der Antragsteller einen förmlichen Asylantrag. Er sprach am 26. Mai 2020 wegen eines Termins zur Aktenanlage persönlich beim Bundesamt vor. Ihm wurde u.a. die „Wichtige Mitteilung – Belehrung für Erstantragsteller über Mitwirkungspflichten und Allgemeine Verfahrenshinweise“ in russischer Sprache ausgehändigt. Seine persönliche Anhörung vor dem Bundesamt gemäß § 25 AsylG fand am 9. Juni und 7. August 2020 statt.
Bei der Anhörung am 9. Juni 2020 gab der Antragsteller u.a. an, in seinem Heimatland einen Inlandspass, einen Reisepass und einen Führerschein besessen zu haben. Den Reisepass habe er auf dem Weg zum Bundesamt zerstört. Andere Asylbewerber hätten ihm gesagt, dass er abgelehnt werden würde, wenn er seinen Reisepass dem Bundesamt vorlege. Das habe er nicht gewollt. Bei der Fortsetzung der Anhörung am 7. August 2020 gab er ergänzend an, seinen Reisepass in Deutschland vernichtet zu haben. Er habe große Angst gehabt. Auf den weiteren Inhalt der Anhörung wird ergänzend Bezug genommen. Der tadschikische Inlandspass des Antragstellers wurde am 9. Juni 2020 im Original vorgelegt und zur Akte genommen. Mit einer physikalisch-technischen Urkundenuntersuchung konnten Manipulationen nicht festgestellt werden.
Mit Bescheid vom 13. August 2020, dem Antragsteller am 17. August 2020 ausgehändigt, hatte das Bundesamt den Asylantrag des Antragstellers als offensichtlich unbegründet abgelehnt (Ziffern 1 bis 3), das Nichtvorliegen von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG festgestellt (Ziffer 4), unter Setzung einer Ausreisefrist von einer Woche die Abschiebung des Antragstellers – in erster Linie – nach Tadschikistan angedroht (Ziffer 5) sowie das Einreise- und Aufenthaltsverbot nach § 11 Abs. 1 AufenthG auf 30 Monate befristet (Ziffer 6). Die Offensichtlichkeitsentscheidung wurde auf § 30 Abs. 3 Nr. 5 i.V.m. § 15 Abs. 2 Nr. 4 AsylG gestützt, da der Antragsteller eigenen Angaben zufolge seinen Reisepass in Deutschland vernichtet habe, um, wie er von anderen Asylbewerbern gehört habe, damit zu verhindern, aus Deutschland abgeschoben zu werden. Auf den weiteren Inhalt des Bescheides wird ergänzend Bezug genommen.
Hiergegen hat der Antragsteller mit bei Gericht am 24. August 2020 eingegangenem Schreiben Klage (AN 4 K 20.30769) erhoben und gleichzeitig nach § 80 Abs. 5 VwGO beantragt,
die aufschiebende Wirkung dieser Klage anzuordnen.
Zur Begründung führte der Klägerbevollmächtigte im Wesentlichen aus, dass mangels Vorliegens einer gröblichen Verletzung der Mitwirkungspflicht nach § 15 Abs. 2 Nr. 4 AsylG ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Offensichtlichkeitsentscheidung bestünden. Die Vernichtung des Reisepasses durch den Antragsteller sei unmittelbar nach der Einreise in die Bundesrepublik, d.h. vor jeglicher Belehrung oder Einweisung durch die Beklagte oder sonstige Behörden erfolgt. Eine Mitwirkungspflicht sei zu diesem Zeitpunkt weder begründet noch dem Antragsteller bekannt oder bewusst gewesen. Vielmehr sei er dem Rat der anderen Asylbewerber lediglich aus Angst vor einer zwangsweisen Rückreise und den damit verbundenen Konflikten durch die tadschikische Polizei nachgekommen. Diese seien stets mit Eingriffen in seine körperliche Unversehrtheit sowie die persönliche Freiheit verbunden, indem ihm gewaltsam jegliches Hab und Gut durch die Behörden genommen worden sei.
Eine Stellungnahme der Antragsgegnerin ist nicht eingegangen.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakte und die beigezogene Ausländerakte des Antragstellers (Az. …*) der Zentralen Ausländerbehörde Mittelfranken verwiesen.
II.
Der Antrag, die gemäß § 75 Asylverfahrensgesetz (AsylG) ausgeschlossene aufschiebende Wirkung der Klage gegen die Ausreiseaufforderung und Abschiebungsandrohung im streitgegenständlichen Bescheid des Bundesamts vom 13. August 2020 nach § 80 Abs. 5 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) anzuordnen, ist zulässig und begründet.
Im für das Gericht nach § 77 Abs. 1 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt der Sach- und Rechtslage bestehen ernstliche Zweifel am Offensichtlichkeitsurteil des Bescheids (vgl. Art. 16a Abs. 4 Satz 1 GG, § 36 Abs. 4 Satz 1 AsylG). Es sprechen erhebliche Gründe dafür, dass die Abschiebungsandrohung einer rechtlichen Prüfung nicht standhält (vgl. zum Maßstab BVerfG, U.v. 14. Mai 1996 – 2 BvR 1516/93 -, juris Rn. 99).
Rechtsgrundlage der Abschiebungsandrohung ist § 34 Abs. 1 Satz 1 AsylG. Hiernach erlässt das Bundesamt eine schriftliche Abschiebungsandrohung, wenn der Ausländer nicht als Asylberechtigter anerkannt, ihm nicht die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt und kein subsidiärer Schutz gewährt wird sowie die Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 und § 60 Abs. 7 AufenthG nicht vorliegen und der Ausländer keinen Aufenthaltstitel besitzt.
Die Überprüfung durch das Verwaltungsgericht erstreckt sich dabei auf die Frage, ob das Offensichtlichkeitsurteil des Bundesamts weiterhin Bestand haben kann (vgl. BVerfG, B.v. 25. Februar 2019 – 2 BvR 1193/18 -, juris Rn. 21 m.w.N.). Hieran gemessen liegen die Voraussetzungen für eine Ablehnung als offensichtlich unbegründet nicht vor.
Insbesondere fehlt es an den Voraussetzungen des § 30 Abs. 3 Nr. 5 AsylG, weil das Bundesamt nicht von einer gröblichen Verletzung der Mitwirkungsrechte ausgehen durfte. Dies setzt nämlich voraus, dass der Antragsteller der Mitwirkungsverpflichtung bereits unterlag, wie sich bereits daraus ergibt, dass systematisch die Mitwirkungsverpflichtung des § 15 AsylG im Abschnitt 4 „Asylverfahren“ enthalten ist (vgl. auch VG Leipzig, Beschluss vom 27. Mai 2019 – 4 L 492/19.A -, Rn. 20, juris), und dass der Antragsteller gemäß § 24 Abs. 1 Satz 2 AsylG über seine Rechte und Pflichten informiert worden ist.
Das Bundesamt durfte dabei nicht davon ausgehen, dass der Antragsteller seinen Pass erst nach der Belehrung über die Mitwirkungspflichten im Asylverfahren durch die Regierung von Mittelfranken am 7. Mai 2020 (Bl. 95/96 der Ausländerakte) und durch das Bundesamt am 26. Mai 2020 (Bl. 29 der Bundesamtsakte) vernichtet hat. Der insoweit einzige Anhaltspunkt hierfür war die Aussage des Antragstellers in der Anhörung am 9. Juni 2020, er habe „auf dem Weg zum Bundesamt“ seinen Pass zerstört. Ob durch die so formulierte Übersetzung tatsächlich gemeint gewesen sein soll, dass der Kläger seinen Ausweis genau am Tag der Anhörung und noch unterwegs seinen Reisepass vernichtet haben soll, erscheint höchst zweifelhaft; insbesondere wegen der direkten Nachbarschaft seiner Unterbringung in der ZAE und der direkt benachbarten Außenstelle des Bundesamtes. Dies hätte sich nur durch Nachfragen des Bundesamts hierzu aufklären lassen. Eine derartige Aufklärung ist jedoch nicht erfolgt.
Daneben steht diese Schlussfolgerung auch im Widerspruch zu den Angaben des Antragstellers bei der Erfassung der Personaldaten durch die Bezirksregierung … am 25. März 2020 (vgl. Bl. 61/62 und 65/66 der Ausländerakte) und der Beantwortung der Fragen im Rahmen der Dublin-Erstbefragung durch den Antragsteller (Bl. 55-58, Übersetzung Bl. 78 der Bundesamtsakte). Gerade letztere sind undatiert und müssen offensichtlich zwischen dem 26. Mai 2020 und dem 4. Juni 2020 beantwortet worden sein. Hieraus ergibt sich, dass nur über den Inlandspass gesprochen wurde. Bezüglich weiterer katalogisierter Fragen wurden wohl keine Aussagen durch den Antragsteller getätigt, dies kann allerdings ohne eine deutsche Übersetzung auch des Fragenkatalogs, die nicht in der Akte des Bundesamts enthalten ist, nicht nachvollzogen werden.
Selbst wenn man davon ausginge, dass der Antragsteller seinen Reisepass nach erstmaliger Belehrung über seine Mitwirkungspflichten im Asylverfahren am 7. Mai 2020 zerstört hätte, hätte eine Ablehnung des Asylantrags als offensichtlich unbegründet jedenfalls nach summarischer Prüfung nicht auf § 30 Abs. 3 Nr. 5 i.V.m. § 15 Abs. 2 Nr. 4 AsylG gestützt werden dürfen, weil hiermit im konkreten Fall keine Täuschung über die Identität oder die Staatsangehörigkeit des Antragstellers verbunden war. Insoweit dürfte nämlich § 30 Abs. 3 Nr. 5 AsylG richtlinienkonform dahingehend auszulegen sein, dass sich für die Ablehnung als offensichtlich unbegründet die Verletzung der Mitwirkungspflichten durch Zerstörung seines Identitäts- oder Reisedokuments gerade auf die Identitäts- und Staatsangehörigkeitsfeststellung beziehen muss. Dies ergibt sich aus Art. 31 Abs. 8 lit. c und d Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rats, welche eine Verkürzung des gewöhnlichen Asylverfahrens erlauben, wie es mit dem Verfahren des § 36 AsylG bewirkt wird. Gleichwohl bezieht sich dies nur auf die Zulässigkeit der Durchführung dieses beschleunigten Verfahrens i.S.d. Art. 31 Abs. 8 RL 2013/32/EU bzw. die Ablehnung als offensichtlich unbegründet mit der Konsequenz des § 36 AsylG und hat grundsätzlich nicht zur Folge, dass eine Verletzung von Mitwirkungspflichten des § 15 Abs. 2 AsylG nicht anderweitig berücksichtigt werden kann.
Die Identität und die Staatsangehörigkeit des Antragstellers konnte vorliegend durch die Vorlage des Inlandspasses im Original geklärt werden (siehe Unterlagen zur Dokumentenprüfung Bl. 119/120 der Bundesamtsakte), folglich ist auch auf der Aufenthaltsgestattung (vgl. Bl. 25/26 der Ausländerakte) nicht der Hinweis enthalten, die Angaben zur Person würden lediglich auf eigenen Angaben des Antragstellers beruhen.
Die Ablehnung des Asylantrags des Antragstellers durfte auch nicht aus anderen Gründen als offensichtlich unbegründet erfolgen (vgl. zur Möglichkeit des Austausches der Offensichtlichkeitsgründe (VG Berlin, Beschluss vom 27. April 2018 – 34 L 1592.17 A -, Rn. 20, juris m.w.N.), nachdem insbesondere keine materiellen Offensichtlichkeitsgründe i.S.d. § 30 Abs. 1 und 2 AsylG erkennbar sind. Auch wenn das Bundesamt nachvollziehbare Zweifel am klägerischen Vortrag herausgearbeitet hat, genügen diese nicht für eine Ablehnung als (materiell) offensichtlich unbegründet.
Die Kostenentscheidung stützt sich auf §§ 161 Abs. 1 und 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83b AsylG). Der Gegenstandswert ergibt sich aus § 30 Abs. 1 Satz 1 RVG.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).
gez.

– …


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