Verwaltungsrecht

Es bestehen keine systemischen Mängel des Asylverfahrens und/oder der Aufnahmebedingungen in Polen

Aktenzeichen  M 24 S 16.50496

Datum:
7.10.2016
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VO (EU) Nr. 604/2013 Art. 3 Abs. 2
MuSchG MuSchG § 3 Abs. 2, § 6 Abs. 1
AsylG AsylG § 27a, § 29 Abs. 1 Nr. 1a, § 34a Abs. 1 S. 1, Abs. 2 S. 1
AufenthG AufenthG § 60a Abs. 2
EMRK EMRK Art. 3
GRCh GRCh Art. 4

 

Leitsatz

Es sind keine hinreichenden Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Asylsuchende in Polen systemische Schwachstellen aufweisen, die die Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung iSd Art. 4 GRCh mit sich bringen. (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I.
Die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die Abschiebungsanordnung im Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 30. Juni 2016 wird angeordnet.
II.
Die Antragsgegnerin hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.

Gründe

I.
Die Antragsteller wenden sich im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes gegen die von der Antragsgegnerin verfügte Anordnung der Abschiebung nach Polen im Rahmen eines sog. Dublinverfahrens.
Die Antragsteller, ein Ehepaar, sind ukrainische Staatsangehörige. Sie reisten ihren Angaben zufolge am … Februar 2016 in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellten dort am … April 2016 einen Asylantrag beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt).
Bei ihrer Anhörung im Rahmen des Verfahrens zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaates für die Durchführung des Asylverfahrens am …. April 2016 gaben die Antragsteller an, ihr Herkunftsland am 5. Februar 2016 verlassen zu haben und am 7. Februar 2016 über Polen nach Deutschland eingereist zu sein. Der Antragsteller zu 1) sei dabei im Besitz eines Schengenvisums gewesen. Sie hätten in keinem anderen Staat einen Asylantrag gestellt; ihnen seien in keinem Staat Fingerabdrücke abgenommen worden. Bei der Zweitbefragung am … April 2016 gaben die Antragsteller an, dass gegen eine Überstellung in einen anderen Dublin-Staat spreche, dass die Antragstellerin zu 2) schwanger sei und nach der Geburt die Unterstützung ihrer in Deutschland lebenden Mutter benötige.
Kopien der von 28. Januar 2016 bis 23. Februar 2016 gültigen Schengenvisa für beide Antragsteller befinden sich auf Bl. 61 und 64 der Bundesamtsakte.
Mit Schreiben vom … April 2016 zeigten die Antragstellerbevollmächtigten gegenüber dem Bundesamt die Vertretung der Antragsteller an. Mit Schreiben vom … Mai 2016 wurden die entsprechenden Vollmachten nachgereicht.
Am … April 2016 wurden die Antragsteller vom Bundesamt zu ihrem Verfolgungsschicksal und ihren Asylgründen angehört; die Bevollmächtigten machten mit Schreiben vom …. Mai 2016 hierzu ergänzende Ausführungen.
Im Rahmen ihrer erneuten „Erstbefragung“ am 2. Juni 2016 gaben die Antragsteller an, dass Ihnen am … Februar 2016 in Polen Fingerabdrücke abgenommen worden seien.
Das Bundesamt richtete am … Juni 2016 aufgrund der von Polen ausgestellten Schengenvisa ein Wiederaufnahmeersuchen zur Durchführung des Asylverfahrens an Polen. Die zuständige Behörde erklärte sich am … Juni 2016 mit der Wiederaufnahme der Antragsteller nach Art. 12 Abs. 4 Dublin-III-VO einverstanden (Bl. 130/131 der Behördenakte).
Mit streitgegenständlichem Bescheid vom 30. Juni 2016, der an die Antragstellerbevollmächtigten mit Schreiben vom 4. Juli 2016 übersandt wurde, lehnte das Bundesamt die Asylanträge als unzulässig ab (Nr. 1 des Bescheides) und ordnete die Abschiebung nach Polen an (Nr. 2). Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG) wurde auf 6 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Nr. 3).
Zur Begründung wurde ausgeführt, dass die Asylanträge unzulässig gemäß § 27a AsylG seien, da Polen aufgrund der erteilten Visa gemäß Art. 12 Abs. 4 Dublin-III-VO für die Behandlung der Asylanträge zuständig sei. Außergewöhnliche humanitäre Gründe, die die Bundesrepublik Deutschland veranlassen könnten, ihr Selbsteintrittsrecht gemäß Art. 17 Abs. 1 Dublin-III-VO auszuüben, seien nicht ersichtlich. Die Anordnung der Abschiebung nach Polen beruhe auf § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG. Gründe, das für den Fall der Abschiebung bestehende Einreise- und Aufenthaltsverbot auf weniger als 6 Monate zu befristen, wurden nicht vorgetragen noch sind solche sonst ersichtlich.
Mit am …. Juli 2016 bei Gericht eingegangenem Telefax vom selben Tag erhoben die Antragsteller durch ihre Prozessbevollmächtigte Klage mit dem Antrag, den Bescheid der Beklagten vom 30. Juni 2016 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, ein Asylverfahren bezüglich der Kläger vorzunehmen. Über die unter dem Aktenzeichen M 24 K 16.50495 anhängige Klage ist noch nicht entschieden worden.
Zugleich wurde beantragt,
die aufschiebende Wirkung der Klage anzuordnen.
Die Mutter der Antragstellerin zu 2) halte sich zurzeit in der Bundesrepublik Deutschland auf und werde voraussichtlich ein Visum zum Zwecke des Familiennachzugs gemäß § 28 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG erhalten. Die Antragstellerin zu 2) sei schwanger und benötige die Unterstützung ihrer Mutter.
Mit Schreiben vom 13. Juli 2016 wurde ein Attest einer Gemeinschaftspraxis für Innere Medizin vom 28. Juni 2016 vorgelegt, wonach bei der Antragstellerin zu 2) der hochgradige Verdacht einer akuten Gastritis bei Magenschmerzen und diversen Nahrungsmittelunverträglichkeiten bestehe. Hinzu komme, dass die Antragstellerin zu 2) herzkrank sei. Sie werde am 13. Juli 2016 einem Kardiologen vorgestellt. Es bestehe die Wahrscheinlichkeit, dass es sich hier um eine sog. Risikoschwangerschaft aufgrund der Herzerkrankung der Antragstellerin zu 2) handele. Es werde gebeten, bis dahin noch keine Entscheidung zu treffen.
Mit Schreiben vom … September 2016 wurde unter Vorlage einer Kopie des Mutterpasses darauf hingewiesen, dass die Antragstellerin zu 2) im 8. Monat schwanger sei und es für problematisch erachtet werde, wenn eine Abschiebung erfolgen sollte. Ausweislich der vorgelegten Kopie des Mutterpasses ist der voraussichtliche Entbindungstermin der … November 2016.
Die Antragsgegnerin legte mit Schreiben vom 14. Juli 2016 die Bundesamtsakte vor, stellte aber keinen Antrag.
Mit Beschluss vom 27. September 2016 wurde im Hauptsacheverfahren (M 24 K 16.50495) der Rechtsstreit zur Entscheidung auf den Einzelrichter übertragen.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakten des Klage- sowie des Eilverfahrens sowie auf die vorgelegte Bundesamtsakte Bezug genommen.
II.
1. Der Antrag im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes nach § 80 Abs. 5 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) ist zulässig und hat auch in der Sache Erfolg.
Der Antrag ist gemäß § 80 Abs. 5 Satz 1 Alt. 1 und Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO i. V. m. § 75 Abs. 1 AsylG zulässig, insbesondere rechtzeitig innerhalb der Wochenfrist (§ 34a Abs. 2 Satz 1 AsylG) bei Gericht gestellt worden. Der Antrag ist auch begründet.
1.1. Nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag die aufschiebende Wirkung der Anfechtungsklage im Fall des hier einschlägigen gesetzlichen Ausschlusses der aufschiebenden Wirkung (§ 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO i. V. m. § 75 Abs. 1 AsylG) ganz oder teilweise anordnen. Hierbei hat das Gericht selbst abzuwägen, ob die Interessen, die für einen gesetzlich angeordneten sofortigen Vollzug des angefochtenen Verwaltungsakts streiten oder die, die für die Anordnung der aufschiebenden Wirkung sprechen, höher zu bewerten sind. Im Rahmen dieser Interessenabwägung sind auch die Erfolgsaussichten des Rechtsbehelfs in der Hauptsache als wesentliches, aber nicht als alleiniges Indiz zu berücksichtigen (beispielsweise BVerwG, B.v. 25.3.1993 – 1 ER 301/92 – NJW 1993, 3213, juris Rn. 3). Wird der in der Hauptsache erhobene Rechtsbehelf bei der im vorläufigen Rechtsschutzverfahren nur möglichen, aber auch ausreichenden summarischen Prüfung voraussichtlich erfolgreich sein, weil er zulässig und begründet ist, so wird im Regelfall nur die Anordnung der aufschiebenden Wirkung in Betracht kommen. Erweist sich dagegen der angefochtene Bescheid bei summarischer Prüfung als offensichtlich rechtmäßig, besteht ein öffentliches Interesse an seiner sofortigen Vollziehung und der Antrag bleibt erfolglos. Sind die Erfolgsaussichten bei summarischer Prüfung als offen zu beurteilen, findet eine eigene gerichtliche Abwägung der für und gegen den Sofortvollzug sprechenden Interessen statt.
Gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 2 AsylG kommt es für den vorliegenden Beschluss im Eilverfahren, der ohne mündliche Verhandlung ergeht, maßgeblich auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der Entscheidung an.
1.2. Nach derzeitiger Sach- und Rechtslage wird die in der Hauptsache erhobene Anfechtungsklage gegen die Abschiebungsanordnung nach Polen aller Voraussicht nach Erfolg haben. Damit überwiegt das Aussetzungsinteresse der Antragsteller das Vollzugsinteresse der Antragsgegnerin.
Die Anfechtungsklage gegen die Abschiebungsanordnung ist zulässig, insbesondere innerhalb der Wochenfrist des § 74 Abs. 1 Halbs. 2 AsylG erhoben worden. Die Klage ist auch begründet, da das Bundesamt zu Unrecht die Abschiebung nach Polen angeordnet hat.
1.3. Rechtsgrundlage für die Abschiebungsanordnung ist § 34a Abs. 1 AsylG. Danach ordnet das Bundesamt die Abschiebung des Ausländers in einen für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat (§ 29 Abs. 1 Nr. 1a AsylG – in der am 6. August 2016 in Kraft getretenen Fassung durch das Integrationsgesetzes vom 31. Juli 2016 (BGBl. I, 1939 ff) – vormals § 27a AsylG a. F.) an, sobald feststeht, dass sie durchgeführt werden kann. Nach § 29 Abs. 1 Nr. 1a AsylG ist ein Asylantrag in der Bundesrepublik Deutschland unzulässig, wenn ein anderer Staat nach Maßgabe der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und Rates vom 26. Juni 2013 (Dublin-III-VO) für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist.
Die für die Bestimmung des nach § 29 Abs. 1 Nr. 1a AsylG zuständigen Staates maßgebliche Dublin-III-VO ist gem. Art. 49 Unterabs. 2 Satz 1 Alternative 2 Dublin-III-VO auf den vorliegenden Fall anwendbar, da der Antrag auf internationalen Schutz nach dem 1. Januar 2014 gestellt wurde.
1.4. Im vorliegenden Fall ergibt sich die Zuständigkeit Polens für die Durchführung des Asylverfahrens aus Art. 12 Abs. 4 i. V. m. Art. 12 Abs. 2 Dublin-III-VO.
Nach Art. 12 Abs. 2 Dublin-III-VO ist der Mitgliedstaat, der ein Visum ausgestellt hat, während dessen Gültigkeitsdauer für die Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz zuständig, es sei denn, dass das Visum im Auftrag eines anderen Mitgliedstaates im Rahmen einer Vertretungsvereinbarung gemäß Art. 8 der Verordnung (EG) Nr. 810/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom … Juli 2009 über einen Visakodex der Gemeinschaft erteilt wurde.
Besitzt der Antragsteller ein oder mehrere Visa, die seit weniger als sechs Monaten abgelaufen sind, aufgrund derer er in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaates einreisen konnte, so ist gemäß Art. 12 Abs. 4 Dublin-III-VO u. a. Art. 12 Abs. 2 anwendbar, solange der Antragsteller das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten nicht verlassen hat.
Diese Voraussetzungen sind vorliegend im Hinblick auf die Antragsteller erfüllt, da ihre polnischen Schengenvisa bis … Februar 2016 gültig waren und ihre Anträge auf internationalen Schutz im Bundesgebiet am … April 2016 gestellt wurden. Im Übrigen hat sich Polen auch am …. Juni 2016 mit der Wiederaufnahme der Antragsteller nach Art. 12 Abs. 4 Dublin-III-VO einverstanden erklärt.
1.5. Eine Überstellung an Polen als den nach der Dublin-III-VO zuständigen Mitgliedstaat erweist sich zur Überzeugung des Gerichts auch nicht gemäß Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 Dublin-III-VO wegen systemischer Schwachstellen des polnischen Asylsystems derzeit als unmöglich.
1.5.1. Nach Art 3 Abs. 2 Unterabs. 2 Dublin-III-VO ist die Überstellung unmöglich, wenn es wesentliche Gründe für die Annahme gibt, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Antragsteller in Polen systemische Schwachstellen aufweisen, die die Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne des Artikel 4 der EU-Grundrechtscharta (GRCh) mit sich bringen. Der Regelung liegt die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zugrunde, wonach die im Gemeinsamen Europäischen Asylsystem grundsätzlich aufgrund des Prinzips gegenseitigen Vertrauens bestehende Vermutung, dass die Behandlung der Asylbewerber in jedem einzelnen Mitgliedstaat in Einklang mit den Erfordernissen der Europäischen Grundrechtecharta (GRCh), der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) und der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) steht, nicht unwiderleglich ist, sondern für den Fall, dass dem überstellenden Mitgliedstaat nicht unbekannt sein kann, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Asylbewerber im zuständigen Mitgliedstaat systemische Mängel aufweisen, widerlegt werden kann (EuGH, U.v. 21.12.2011 – C-411/10 u. a. – juris Rn. 79 ff). Die Schwachstellen bzw. Mängel des Asylsystems müssen dabei nicht kumulativ Asylverfahren und Aufnahmebedingungen betreffen, sondern können auch alternativ vorliegen (Marx, AsylVfG, 8. Aufl. 2014, § 27a Rn. 47; vgl. auch BVerwG, B.v. 19.3.2014 – 10 B 6/14 – juris Rn. 9: „Mängel des Asylverfahrens oder der Aufnahmebedingungen“).
Eine Widerlegung der Vermutung ist allerdings an hohe Hürden geknüpft. Nicht jede drohende Grundrechtsverletzung oder geringste Verstöße gegen die einschlägigen EU-Richtlinien genügen, um die Überstellung an den zuständigen Mitgliedstaat zu verhindern (EuGH, a.a.O; BVerwG, B.v. 19.3.2014 – 10 B 6/14 – juris Rn. 6). Ein hinreichend schwerer Verstoß gegen das Verbot der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung des Art. 4 GRCh (bzw. des inhaltsgleichen Art. 3 EMRK) ist im asylrechtlichen Zusammenhang etwa gegeben bei einer systemischen Nichtbeachtung des Refoulementverbots. Es können aber auch die allgemeinen Haft- und Lebensbedingungen für Asylbewerber eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung darstellen (BeckOK AuslR/Günther AsylG § 27a Rn. 24-25; zum im Rahmen von Art. 3 EMRK zu prüfenden Refoulementverbot siehe auch: EGMR, U.v. 21. 1. 2011 – M.S. S./Belgien u. Griechenland, 30696/09 – NVwZ 2011, 413 Rn. 286 ff und 342 ff; EGMR, U.v. 3.7.2014 – Mohammadi/Österreich, 71932/12 – abrufbar unter http://www.ris.bka.gv.at, Rn. 60 und 71 ff). Systemische Schwachstellen liegen also insbesondere dann vor, wenn dem Betroffenen in dem Mitgliedstaat, in den er überstellt werden soll, der Zugang zu einem Asylverfahren, welches nicht mit grundlegenden Mängeln behaftet ist, verwehrt oder massiv erschwert wird, wenn das Asylverfahren an grundlegenden Mängeln leidet oder wenn er während der Dauer des Asylverfahrens wegen einer grundlegend defizitären Ausstattung mit den notwendigen Mitteln elementare Grundbedürfnisse des Menschen (wie z. B. Unterkunft, Nahrungsaufnahme und Hygienebedürfnisse) nicht in einer (noch) zumutbaren Weise befriedigen kann (OVG NRW, U.v. 7. März 2014 – 1 A 21/12.A – juris Rn. 126).
„Systemisch“ sind Schwachstellen, die den Einzelnen in dem zuständigen Mitgliedstaat nicht unvorhersehbar oder schicksalhaft treffen, sondern die sich aus Sicht der deutschen Behörden und Gerichte wegen ihrer systemimmanenten Regelhaftigkeit verlässlich prognostizieren lassen. Dies setzt voraus, dass das Asylverfahren oder die Aufnahmebedingungen im zuständigen Mitgliedstaat aufgrund größerer Funktionsstörungen regelhaft so defizitär sind, dass anzunehmen ist, dass dort auch dem Asylbewerber im konkret zu entscheidenden Einzelfall mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung droht (vgl. BVerwG, B.v. 19.3.2014 – 10 B 6/14 – juris Rn. 9). Für die Annahme systemischer Mängel kann ausreichend sein, dass der Asylbewerber einer Gruppe von Personen angehört, für deren Mitglieder sich die unmenschliche oder erniedrigende Behandlung systemimmanent regelhaft prognostizieren lässt (BeckOK AuslR/Günther, AsylG § 27a Rn. 24-25).
1.5.2. Gemessen an diesen Anforderungen sind keine hinreichenden Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Antragsteller in Polen systemische Schwachstellen aufweisen, die die Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne des Art. 4 GRCh mit sich bringen.
Das Gericht stützt dies auf folgende Erkenntnismittel:
– Asylum Information Database (aida), „National Country Report Poland“, Stand: Juni 2014 und „Country Report Poland“, Stand: November 2015, beide abrufbar unter http://www.asylumineurope.org/reports/country/poland
– Auskunft des Auswärtigen Amtes an das Verwaltungsgericht Wiesbaden vom 6.12.2013, zitiert in VG Wiesbaden, U. v. 19.2.2014 – 5 K 651/13.WI.A – juris Rn. 24
– United States Department of State – Bureau of Democracy, Human Rights and Labor, Country Reports on Human Rights Practices for 2013, „Poland 2013 Human Rights Report”, abrufbar in der öffentlich zugänglichen Datenbank MILO des BAMF (unter: Polen, Analysen International 2014)
– Helsinki Foundation for Human Rights (HR), Report: Migration is not a crime, Stand: 2013, abrufbar unter http://interwencjaprawna.pl/wpcontent/uploads/migrationisnotacrime.pdf
– Antwort der Bundesregierung vom 25.09.2013 (Bundestags-Drucksache – BT-Drs. 17/14795) auf die Kleine Anfrage vom 05.09.2013 (BT-Drs. 17/14713), insbes. zur Frage 6, abrufbar auf der Homepage des Deutschen Bundestages unter: http://dipbt.bundestag.de/dip21/btd/17/147/1714795.pdf und schließt sich bei deren Würdigung den Ausführungen des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs in seinem Beschluss vom 22. Juni 2015 – 11 B 15.50049 – juris Rn. 22-24 (bestätigt in BayVGH, B.v. 19.01.2016 – 11 B 15.50130 – juris Rn. 24-26) an:
Die Kläger haben im Berufungsverfahren keine systemischen Mängel im polnischen Asylsystem dargelegt. Auch den in das Verfahren eingeführten Erkenntnismitteln lassen sich keine solchen gravierenden Mängel entnehmen. Insbesondere aus dem „National Country Report – Poland“ des AIDA-Projekts (Asylum Information Database, Stand Juni 2014) ergibt sich, dass keine strukturellen Mängel bestehen, die landesweit eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung befürchten lassen. Nach dem Bericht werden Asylbewerber in Polen üblicherweise in zwölf Aufnahmeeinrichtungen untergebracht. Es besteht dort auch kein Mangel an Plätzen (National Country Report – Poland, S. 39). Asylbewerber erhalten Mahlzeiten, Unterstützung zum Erwerb von Kleidung und Hygieneartikeln, einen Geldbetrag zur persönlichen Verfügung, medizinische Versorgung, Sprachkurse und notwendigen Schulbedarf (National Country Report – Poland, S. 37 f.). Die medizinische Versorgung wird auf dem gleichen Niveau gewährt wie polnischen Staatsbürgern ohne Krankenversicherung und umfasst daher eine Notfallbehandlung sowie eingeschränkten Zugang zu der allgemeinen Krankenversorgung (National Country Report – Poland, S. 49).
Des Weiteren existieren mehrere geschlossene Einrichtungen, in denen Asylbewerber und andere Ausländer zum Zwecke der Rückführung untergebracht werden (National Country Report – Poland, S. 51 ff.). Insbesondere werden dort auch aus anderen EU-Mitgliedstaaten im Dublin-Verfahren rückgeführte Personen untergebracht, die entgegen den Weisungen polnischer Behörden ihr Erstaufnahmeland verlassen und somit gegen die Aufnahmerichtlinie verstoßen haben, denn das polnische Asylgesetz enthält den Grundsatz, dass Ausländer in geschlossenen Einrichtungen untergebracht werden können, wenn sie das Flüchtlingsverfahren oder den Flüchtlingsstatus missbrauchen (Auskunft des Auswärtigen Amts an das Verwaltungsgericht Wiesbaden vom 6.12.2013). Zwar wird dort nur ein kleiner Teil der Asylbewerber festgehalten. Gleichwohl ist festzustellen, dass es sich bei einem großen Teil der dort in Gewahrsam Genommenen um Minderjährige handelt, die mit ihren erwachsenen Familienangehörigen dort untergebracht werden (National Country Report – Poland, S. 51). Seit 1. Mai 2014 ist die Haftdauer für Asylbewerber gesetzlich auf sechs Monate begrenzt. Für abgelehnte Asylbewerber und andere Einwanderer beträgt sie in Rückführungsfällen 12 Monate und kann um weitere sechs Monate verlängert werden, wenn der Betreffende Rechtsmittel gegen die Asylentscheidung eingelegt hat (National Country Report – Poland, S. 55). In dem Bericht des AIDA-Projekts wird weiterhin ausgeführt, dass jederzeit ein Entlassungsgesuch gestellt werden kann, bei der Entscheidung aber regelmäßig nicht auf die Rechtmäßigkeit der Unterbringung, sondern überwiegend auf die persönliche Situation des Betreffenden abgestellt wird. Zusammenfassend wird festgehalten, dass nur wenige Asylbewerber während der gesamten Verfahrensdauer ihres Asylverfahrens in den geschlossenen Einrichtungen verbleiben müssen, dies auf keinen Fall alle Asylbewerber betrifft und dort sowohl der Zugang zu medizinischer Versorgung als auch die Religionsausübung gewährleistet sind (National Country Report – Poland, S. 55 f.). Der Zugang zu einem kostenfreien Rechtsbeistand wird zwar nach dem Gesetz gewährt, in der Praxis jedoch nur mangelhaft umgesetzt, während Besuch durch Nichtregierungsorganisationen und Verwandte auf jeden Fall gewährleistet ist (National Country Report – Poland, S. 56 und 62). Auch der Bericht des United States Department of State „Poland 2013 Human Rights Report“ (Human Rights Report) stellt fest, dass die Bedingungen in den Haft- und Unterbringungseinrichtungen grundsätzlich internationalen Standards entsprechen (Human Rights Report, S. 2). Die Helsinki Foundation for Human Rights kommt in ihrer Studie „Report on the Monitoring of Guarded Centres for Foreigners – Migration Is Not a Crime“ (Migration Is Not a Crime, Warschau 2013) zu dem Ergebnis, dass die geschlossenen Einrichtungen in gutem Zustand sind (Migration Is Not a Crime, S. 11), das Essen regelmäßig in Ordnung ist (S. 14), Zugang zu medizinischer Versorgung (S. 23 ff.) und Möglichkeit zu Kontakt mit Angehörigen und Nichtregierungsorganisationen (S. 22 f.) besteht, aber die Behandlung durch das Sicherheitspersonal teilweise unfreundlich ist (S. 13). Die durchschnittliche Verweildauer in den geschlossenen Einrichtungen habe im Jahr 2012 ca. zwei Monate betragen (S. 11). Auch die früher bemängelte Praxis, Asylbewerber in ihr Heimatland abzuschieben, bevor die Gerichte über deren Klagen gegen eine ablehnende Entscheidung entschieden haben, wurde durch das neue Ausländergesetz vom 1. Mai 2014 beseitigt. Nunmehr wird die Rückkehrentscheidung nicht mehr zeitgleich mit der Entscheidung über den Asylantrag getroffen und auch für Entscheidungen, die vor der Rechtsänderung erlassen wurden, wurde angeordnet, dass eine Abschiebung vor der Gerichtsentscheidung nicht erfolgen darf (National Country Report – Poland, S. 16 f.).
Es ist damit nicht ersichtlich, dass trotz mancher Defizite der Bedingungen für Asylbewerber in Polen, insbesondere in den geschlossenen Einrichtungen, systemische Schwächen vorliegen, die auf strukturellen Missständen beruhen, von den polnischen Behörden tatenlos hingenommen werden und zu massiven Grundrechtsbeeinträchtigungen der Asylsuchenden führen würden.
Eine andere Einschätzung ergibt sich auch nicht aus dem aktuellsten „Country Report Poland“, Stand: November 2015.
1.6. Allerdings ist im für das Eilverfahren maßgeblichen Zeitpunkt der vorliegenden Entscheidung die streitgegenständliche Abschiebungsanordnung im Hinblick auf ein inlandsbezogenes Abschiebungshindernis rechtswidrig.
Über den engeren Kreis der durch die Dublin-III-VO vorgegebenen Zuständigkeitsaspekte hinaus ist eine Abschiebungsanordnung – schon im Hinblick darauf, dass § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG verlangt, dass die Abschiebung „durchgeführt werden kann“ – dann ausgeschlossen, wenn inlandsbezogene Abschiebungshindernisse, wie sie in § 60a Abs. 2 AufenthG niedergelegt sind, vorliegen (BayVGH B.v. 28.10.2013 – 10 CE 13.2257 – juris Rn. 4; BayVGH B.v. 12.3.2014 – 10 CE 14.427 – juris Rn. 4).
Im Falle einer Schwangerschaft der abzuschiebenden Ausländerin ist eine auf ein Abschiebungshindernis zurückzuführende Reiseunfähigkeit nicht nur dann anzunehmen, wenn eine Risikoschwangerschaft durch ärztliche Atteste nachgewiesen ist – was hier nicht der Fall ist – sondern vielmehr auch dann, wenn die Niederkunft unmittelbar bevorsteht. Dies ergibt sich unter Berücksichtigung des Gesichtspunktes der Einheit der Rechtsordnung bereits aus den gesetzlichen Schutzvorschriften der §§ 3 Abs. 2, § 6 Abs. 1 Mutterschutzgesetz (MuSchG). In Anlehnung daran beginnt der Abschiebungsschutz sechs Wochen vor der Entbindung (§ 3 Abs. 2 MuSchG) und endet acht bzw. bei Früh- und Mehrlingsgeburten zwölf Wochen nach der Entbindung (§ 6 Abs. 1 MuschG). Ausweislich der vorgelegten Kopie des Mutterpasses ist der voraussichtliche Entbindungstermin der 17. November 2016, so dass ab 6. Oktober 2016 eine Abschiebung der Antragstellerin zu 2) nicht mehr zulässig ist. Im Hinblick auf Art. 6 Grundgesetz und Art. 8 Europäische Menschenrechtskonvention ist insoweit eine Abschiebung Antragstellers zu 1) ab diesem Zeitpunkt ebenfalls nicht mehr zulässig.
Demzufolge war die aufschiebende Wirkung der Klage ungeachtet der Tatsache, dass das dargelegte inlandsbezogene Abschiebungshindernis ein nur vorübergehendes ist und nach Ablauf der gesetzlichen Mutterschutzfristen eine Abschiebung der Antragsteller zumindest nach derzeitiger Sach- und Rechtslage wieder durchgeführt werden kann, anzuordnen.
2. Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83b AsylG).
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).


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