Verwaltungsrecht

Feststellung eines Abschiebungsverbotes hinsichtlich Afghanistan

Aktenzeichen  M 15 K 21.30288

Datum:
12.3.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 23263
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AufenthG § 60 Abs. 5
VwVfG § 51 Abs. 3
EMRK Art. 3

 

Leitsatz

Aufgrund der aktuellen Situation in Afghanistan, auch im Hinblick auf die Corona-Pandemie, ist anzunehmen, dass die Klägerin dort ihr Existenzminimum nicht erzielen können wird und damit die (hohen) Anforderungen des Art. 60 Abs. 5 AufenthG iVm Art. 3 EMRK erreicht sind. (Rn. 14 – 18) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Der Bescheid des Bundesamts für … vom 25. Januar 2021 wird aufgehoben. Die Beklagte wird verpflichtet festzustellen, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 AufenthG hinsichtlich Afghanistans vorliegen. 
II. Die Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.

Gründe

Über den Rechtsstreit konnte aufgrund der mündlichen Verhandlung am 12. März 2021 trotz Ausbleibens der Beklagtenseite entschieden werden. Denn in der frist- und formgerechten Ladung zur mündlichen Verhandlung wurde darauf hingewiesen, dass auch im Fall des Nichterscheinens der Beteiligten verhandelt und entschieden werden kann (§ 102 Abs. 2 VwGO).
Die Klage ist zulässig und begründet, da der angegriffene Bescheid rechtswidrig ist und die Klägerin in ihren Rechten verletzt. Diese hat zum maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG) einen Anspruch auf Wiederaufgreifen des Verfahrens nach § 51 Verwaltungsverfahrensgesetz (VwVfG) und auf Feststellung eines Abschiebungsverbots (§ 113 Abs. 5 VwGO).
1. Entgegen der Auffassung der Beklagten ist nicht davon auszugehen, dass der Wiederaufgreifensantrag gemäß § 51 Abs. 3 VwVfG verfristet ist. Die Corona-Pandemie als geänderte Sachlage (§ 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG) ist zwar in Afghanistan schon seit längerer Zeit präsent, die Auswirkungen, die diese Pandemie insbesondere auf die wirtschaftliche Situation hat, haben sich jedoch gerade zum Ende des Jahres 2020 drastisch verstärkt. Bestätigt wird das Vorliegen geänderter Verhältnisse in Afghanistan letztendlich auch durch den Umstand, dass etwa das Oberverwaltungsgericht Bremen (U.v. 24.11.2020 – 1 LB 351/20 – juris) und der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg (U.v. 17.12.2020 – A 11 S 2042/20 – juris), die bisher davon ausgingen, dass alleinstehende gesunde junge Männer in Afghanistan grundsätzlich ihr Existenzminimum erwirtschaften können, sodass kein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG vorliegt, im November/Dezember 2020 ihre Auffassung geändert haben. Im Hinblick darauf wahrt der Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens vom 18. Januar 2021 die Dreimonatsfrist des § 51 Abs. 3 VwVfG.
2. Aufgrund der aktuellen Situation in Afghanistan, auch im Hinblick auf die Corona-Pandemie, ist im vorliegenden Fall anzunehmen, dass die Klägerin dort ihr Existenzminimum nicht erzielen können wird und damit die (hohen) Anforderungen des Art. 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK hier erreicht sind.
Eine Art. 3 EMRK widersprechende Behandlung kann sich aus einer allgemeinen Situation der Gewalt im Zielstaat ergeben, einem besonderen Merkmal des Ausländers oder einer Verbindung von beidem (vgl. BVerwG, U.v. 31.1.2013 – 10 C 15.12 – juris Rn. 25). Soweit – wie in Afghanistan – ein für die Verhältnisse eindeutig maßgeblich verantwortlicher Akteur fehlt, können in ganz außergewöhnlichen Fällen auch schlechte humanitäre Verhältnisse im Zielstaat Art. 3 EMRK verletzen, wenn die humanitären Gründe gegen die Ausweisung zwingend sind (vgl. BVerwG, U.v. 4.7.2019 – 1 C 45.18 – juris Rn. 12; B.v. 23.8.2018 – 1 B 42.18 – juris Rn. 9: “nur in besonderen Ausnahmefällen”). Die Voraussetzungen können erfüllt sein, wenn der Ausländer nach Würdigung aller Umstände des Einzelfalls im Zielstaat der Abschiebung seinen existentiellen Lebensunterhalt nicht sichern, kein Obdach finden oder keinen Zugang zu einer medizinischen Basisbehandlung erhalten kann (vgl. BVerwG, B.v. 23.8.2018 – 1 B 42.18 – juris Rn. 11). Der EuGH stellt in seiner neueren Rechtsprechung zu Art. 4 Grundrechte-Charta darauf ab, ob sich die betroffene Person unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befindet, die es ihr nicht erlaubte, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, insbesondere, sich zu ernähren, sich zu waschen und Unterkunft zu finden, und die ihre physische und psychische Gesundheit beeinträchtigte oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzte, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre (vgl. EUGH, U.v. 19.3.2019 – C-297/17 u.a. – juris Rn. 89 ff.). Die dargestellte Rechtsprechung macht letztlich deutlich, dass von einem sehr hohen Gefahrenniveau auszugehen ist; nur dann liegt ein “ganz außergewöhnlicher Fall” vor, in dem die humanitären Gründe gegen die Ausweisung “zwingend” sind (BayVGH, U.v. 26.10.2020 – 13a B 20.31087- juris Rn. 21; U.v. 28.11.2019 – 13a B 19.33361 – Rn. 21 ff.; U.v. 8.11.2018 – 13a B 17.31918 – juris Rn. 20 m.w.N.; NdsOVG, U.v. 29.1.2019 – 9 LB 93/18 – juris Rn. 51 m.w.N.; vgl. auch BVerwG, B.v. 13.2.2019 – 1 B 2.19 – juris Rn. 10; OVG NW, U.v. 18.6.2019 – 13 A 3930/18 – juris Rn. 111 f. m.w.N.). Auch im Rahmen von § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK ist der Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit zugrunde zu legen; erforderlich, aber auch ausreichend, ist daher die tatsächliche Gefahr (“real risk”) einer unmenschlichen Behandlung (BVerwG, U.v. 27.4.2010 – 10 C 5.09 – juris Rn. 22). Bei der Prüfung einer Verletzung von Art. 3 EMRK ist grundsätzlich auf den gesamten Abschiebungszielstaat abzustellen und zunächst zu prüfen, ob eine Art. 3 EMRK widersprechende Behandlung an dem Ort droht, an dem die Abschiebung endet (BVerwG, U.v. 31.1.2013 – 10 C 15.12 – juris Rn. 26; BayVGH, U.v. 26.10.2020 – 13a B 20.31087- juris Rn. 22; U.v. 8.11.2018 – 13a B 17.31918 – juris Rn. 21; OVG NW, U.v. 18.6.2019 – 13 A 3930/18 – juris Rn. 43 ff. m.w.N; NdsOVG, U.v. 29.1.2019 – 9 LB 93/18 – juris Rn. 43 m.w.N).
Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze und der aktuellen Erkenntnismittel (vgl. z.B. OCHA, Strategic situation report: Covid 19, No. 90 v. 4.2.2021, Strategic situation report: Covid 19, No. 89 v. 21.1.2021; Operational Situation Report v. 14.1.2021; BAMF, Briefing Notes v. 22.2.2021; Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan in der Fassung vom 14. Januar 2021; EASO, Country Guidance, Dezember 2020; IOM, Information on the socio-economic situation in the light of COVID 19 v. 23.9.2020; IFC, Acute Food Insecurity Analysis August 2020 – March 2021, 8.11.2020, allg. abrufbar unter www.reliefweb.int/report/afghanistan/afghanistan-ipc-acute-food-insecurity-analysis-august-2020-march-2021-issued) geht das Gericht davon aus, dass im Fall der Klägerin ein besonderer Ausnahmefall im oben genannten Sinn zu bejahen ist:
Bei der Klägerin handelt es sich um eine alleinstehende und damit besonders schutzbedürftige Frau, für die zudem – wie für alle Frauen – der afghanische Arbeitsmarkt kaum zugänglich ist (vgl. z.B. EASO, Afghanistan, key socio-economic indicators, August 2020, S. 33 ff.). Insbesondere kann nach Auffassung des Gerichts nicht darauf abgestellt werden, dass der Wiederaufgreifensantrag ihres Bruders abgelehnt worden und daher von einer gemeinsamen Rückkehr nach Afghanistan auszugehen sei, wie die Beklagte geltend macht. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (U.v. 4.7.2019 – 1 C 45/18 – juris) ist zwar bei realitätsnaher Betrachtung der Rückkehrsituation im Regelfall davon auszugehen, dass eine im Bundesgebiet in familiärer Gemeinschaft lebende Kernfamilie im Familienverband in ihr Herkunftsland zurückkehrt, hierzu zählen aber nur Eltern und minderjährige Kinder, nicht dagegen Geschwister. Auf Letztere ist daher im Rahmen der Rückkehrprognose nicht abzustellen.
Nach ihren glaubhaften Ausführungen in der mündlichen Verhandlung hat die Klägerin inzwischen keine, auch keine entfernten, Verwandten mehr in ihrem Heimatland und auch keine Freunde oder Bekannte, die ihr durch Kontakte und Beziehungen z.B. den Zugang zum Wohnungsmarkt erleichtern könnten. Zwar hatten die Eltern der Klägerin beim Bundesamt angegeben, dass die Familie ein eigenes Haus mit fünf Zimmern bewohnt habe. Die Klägerin und ihr Bruder haben aber vor Gericht nachvollziehbar dargelegt, dass dieses Haus bereits Ende 2015 zerstört worden sei. Da die Klägerin somit in ihrem Herkunftsland weder über Vermögen noch über ein familiäres oder soziales Netzwerk verfügt (vgl. VGH BW, U.v. 17.12.2020 – A 11 S 2042/20 – juris), ist nicht davon auszugehen, dass sie bei einer Rückkehr nach Afghanistan in der Lage sein wird, ein Leben zumindest am Rande des Existenzminimums zu bestreiten. Dies gilt umso mehr, als sich die eh schon schlechte wirtschaftliche Situation in Afghanistan aufgrund der Corona-Pandemie in den letzten Monaten dramatisch verschlechtert hat und die Lebenshaltungskosten sehr stark gestiegen sind. Auf die oben genannten Erkenntnismittel und die Ausführungen des VGH Baden-Württemberg (U.v. 12.10.2018 – A 11 S 316/17- juris) zur aktuellen humanitären und wirtschaftlichen Situation in Afghanistan infolge der COVID-19-Pandemie wird insoweit Bezug genommen. Selbst mit einer gewissen (geringfügigen) finanziellen Unterstützung ihrer in der Bundesrepublik Deutschland lebenden Familie kann nicht angenommen werden, dass die Klägerin ihr Existenzminimum in Afghanistan erlangen kann, so dass die Anforderungen des § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK erfüllt sind.
Ob daneben die Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG erfüllt sind, bedarf keiner Prüfung, da es sich beim national begründeten Abschiebungsverbot um einen einheitlichen und nicht weiter teilbaren Verfahrensgegenstand handelt (BVerwG, U.v. 8.9.2011 – 10 C 14.10 – BVerwGE 140,319 Rn. 16 f.).
Der Klage war daher mit der Kostenfolge aus § 154 Abs. 1 VwGO stattzugeben. Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83b AsylG).
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 Abs. 2 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.


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