Verwaltungsrecht

Fluchtalternative und Sicherstellung des Lebensunterhalts in Kabul

Aktenzeichen  Au 6 K 16.30946

Datum:
30.8.2016
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Augsburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AufenthG AufenthG § 60 Abs. 5, Abs. 7 S. 1
EMRK EMRK Art. 3
AsylG AsylG § 4 Abs. 1 S. 2 Nr. 2, § 77 Abs. 1 S. 1
GFK Art. 1 Nr. 2
ZP II Art. 1 Nr. 1

 

Leitsatz

1 Subsidiärer Schutz wegen eines befürchteten ernsthaften Schadens auf Grund einer Bedrohung durch die Taliban in Afghanistan kann nicht gewährt werden, weil in Kabul eine innerstaatliche Fluchtalternative besteht. Das Risiko, in Kabul durch Anschläge Schaden an Leib oder Leben zu erleiden, liegt unterhalb der Schwelle der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (VGH München BeckRS 2013, 52737). (redaktioneller Leitsatz)
2 Einem volljährigen, arbeitsfähigen und mit den Lebensverhältnissen in Afghanistan vertrauten Mann droht auch auf Grund der Versorgungslage in Kabul keine konkrete Gefahr (§ 60 Abs. 7 AufenthG). Er kann seinen Lebensunterhalt dort sicherstellen (vgl. VGH München BeckRS 2015, 47058). (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung durch die Beklagte durch Sicherheitsleistung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Die zulässige Klage ist nicht begründet. Der Kläger hat zum maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG) keinen Anspruch auf die Gewährung subsidiären Schutzes. Auch Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG liegen nicht vor (§ 113 Abs. 5 VwGO). Der angefochtene Bescheid des Bundesamtes vom 14. Juni 2016 ist auch hinsichtlich der Ausreiseaufforderung, der Abschiebungsandrohung und der Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Es wird insoweit in vollem Umfang Bezug genommen auf die Gründe des angefochtenen Bescheids (§ 77 Abs. 2 AsylG) und ergänzend ausgeführt:
1. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Gewährung subsidiären Schutzes i.S. des § 4 Abs. 1 AsylG. Er hat keine stichhaltigen Gründe für die Annahme vorgebracht, dass ihm bei einer Rückkehr nach Afghanistan ein ernsthafter Schaden i.S. des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nrn. 1 bis 3 AsylG droht.
a) Der Kläger hat eine ernsthafte Bedrohung durch die Taliban, die seiner Meinung nach eine Gefährdungslage i.S. des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG begründen würde, nicht glaubhaft gemacht. Seine Ausführungen sind insgesamt allgemein und vage gehalten. Er sprach von pashtunisch sprechenden Drohanrufern, die Da ten erlangen wollten. Ob es sich hierbei nicht um bloße Kriminelle handelte, die Daten zu potentiellen Entführungs- und Raubopfern ausspionieren wollten, ist offen geblieben. Dass er gezielt von den Anrufern ausgesucht worden sei, erscheint nicht nachvollziehbar, war es doch nach seiner Schilderung in der mündlichen Verhandlung dem Zufall überlassen, an welchen Mitarbeiter ein Anrufer beim Callcenter des technischen Support geriet. Wer gerade keinen Anruf bearbeitete, nahm den nächsten entgegen. Dass auch andere Mitarbeiter Drohanrufe erhalten hätten, bestätigt dies noch. Wenig plausibel erscheint, dass der Kläger weder mit Vorgesetzten noch mit der Polizei über die Drohanrufe gesprochen haben will, obwohl er von anderen Mitarbeitern über deren Bedrohung wusste, es also ein „offenes Geheimnis“ war. Dass davon die Vorgesetzten nichts hätten mitbekommen sollen, erscheint nicht plausibel. Nicht nachvollziehbar ist auch, weshalb er nach Verlassen des Callcenters heute noch gesucht werden sollte, da er – anders als damals – nicht mehr über Zugang zu den möglicherweise für Dritte interessanten Telekommunikationsdaten seines früheren Arbeitgebers verfügt.
Nach Auffassung des Gerichts hat der Kläger damit eine konkrete Gefährdungslage, die ihn zur Ausreise veranlasste und die einer Rückkehr in sein Heimatland entgegensteht, nicht glaubhaft gemacht.
b) Selbst wenn man die Angaben des Klägers jedoch als wahr unterstellen wollte, wäre der Kläger auf eine innerstaatliche Fluchtalternative zu verweisen. Nach § 4 Abs. 3 Satz 1 AsylG gilt § 3e AsylG entsprechend.
Das Gericht ist der Überzeugung, dass der Kläger bei einer Rückkehr nach Afghanistan jedenfalls in Kabul keiner Verfolgung ausgesetzt wäre. Grundsätzlich ist Kabul im Hinblick auf die allgemeine Sicherheitslage als Fluchtalternative geeignet. Das Risiko, dort durch Anschläge Schaden an Leib oder Leben zu erleiden, ist weit unterhalb der Schwelle der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (BayVGH, B.v.19.6.2013 – 13a ZB 12.30386 – juris). Aus dem aktuellen Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 6. November 2015 zur Lage in Afghanistan (im Folgenden: Lagebericht) ergibt sich nicht, dass sich die Sicherheitslage in Kabul im Vergleich zur Einschätzung in den vorangegangenen Lageberichten verändert habe.
Darin war die Sicherheitslage in Kabul unverändert als stabil beschrieben worden. Nach dem Lagebericht vom 4. Juni 2013 habe die Zahl der sicherheitsrelevanten Zwischenfälle im Berichtszeitraum im Vergleich zum Vorjahr leicht abgenommen, der Trend setze sich fort (s. hierzu auch BayVGH, B.v. 28.1.2014 – 13a ZB 13.30390 – juris Rn. 6). Nach dem Lagebericht vom 31. März 2014 habe der Indikator, der u.a. die sicherheitsrelevanten Zwischenfälle erfasse, im Jahr 2013 leicht abgenommen (Lagebericht vom 31.3.2014, S. 4). Zwar sei ein Anstieg von zivilen Opfern um 23% im Vergleich zum Vorjahreszeitraum zu verzeichnen. Dass dieser Anstieg jedoch die Sicherheitslage in Kabul derart gravierend verschlechtert hat, dass der Kläger Gefahr liefe, dort alsbald einer extremen Gefahr für Leib und Leben ausgesetzt zu sein, ergibt sich auch aus den aktuellen Auskünften nicht (s. auch BayVGH, B.v. 14.1.2015 – 13a ZB 14.30410 – juris Rn. 5). Auch die vom Kläger vorgelegten Informationen lassen nicht erkennen, dass sich die Gefahrenlage dort derart verdichtet hätte, dass quasi jedermann Opfer entsprechender Rechtsgutsverletzungen zu werden drohte. Vielmehr hat die Zunahme von Anschlägen nicht zu einer solchen Verschlechterung der Sicherheitslage in der Zentralregion und in Kabul geführt, dass dort keine innerstaatliche Fluchtalternative mehr vorläge. Soweit Organisationen wie UNHCR und Pro Asyl sowie Presseberichte eine innerstaatliche Fluchtalternative verneinen, folgen sie eigenen Maßstäben, aber nicht den von der Rechtsprechung gestellten Anforderungen an die Annahme eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts oder einer individuellen Gefährdung (vgl. BayVGH, B.v. 17.8.2016 – 13a ZB 16.30090 – Rn. 10 m.w.N.).
Es spricht vorliegend auch nichts dafür, dass der Kläger sich durch seine nicht konfliktspezifische Tätigkeit in einem Callcenter in der Provinz Kabul derart exponiert hat, dass er landesweit eine Verfolgung durch die Taliban befürchten müsste. Allein die pauschale Behauptung, er sei überall in Afghanistan gefährdet, führt insoweit zu keiner anderen Beurteilung.
Das Gericht geht weiter davon aus, dass der Kläger auch seinen Lebensunterhalt in Kabul sicherstellen kann (vgl. hierzu auch BayVGH, B.v. 14.1.2015 – 13a ZB 14.30410 – juris Rn. 5). Auch wenn hierfür mehr zu fordern ist als ein kümmerliches Einkommen zur Finanzierung eines Lebens am Rande des Existenzmini 22 mums (vgl. BVerwG, U.v. 31.1.2013 – 10 C 15/12 – juris Rn. 20), ist doch vernünftigerweise zu erwarten, dass der Kläger sich in Kabul aufhält und seinen Lebensunterhalt dort sicherstellt. Der Kläger ragt insoweit schon aus dem Kreis der jungen Männer in Afghanistan heraus, als er über eine abgeschlossene Schulausbildung und seine Familie offenbar über ein gewisses Vermögen verfügt. Ausweislich der Akte hat ihm sein Bruder in Afghanistan einen Teil der Reisekosten bezahlt; ebenso haben in Deutschland lebende Verwandte hier Anwaltskosten vorgestreckt (BAMF-Akte Bl. 28). Des Weiteren lebt seine Familie väterlicherseits noch in Afghanistan, teils noch an seinem Geburts- bzw. Herkunftsort. Es ist deshalb zu erwarten, dass der Kläger als alleinstehender gesunder Mann seinen Lebensunterhalt auch in Kabul sicherstellen kann (BayVGH, B.v. 23.9.2013 – 13a ZB 13.30252 – juris Rn. 4). Im Übrigen sind unter Berücksichtigung der Auskunftslage insbesondere Rückkehrer aus dem Westen in einer vergleichsweise guten Position, die durchaus auch Perspektiven im Hinblick auf die Sicherung des Lebensunterhalts eröffnet (vgl. hierzu auch BayVGH, U.v. 13.5.2013 – 13a B 12.30052 – juris Rn. 12). Soweit er in der mündlichen Verhandlung geltend macht, gerade seine bisher lukrativ nutzbaren Englisch-Kenntnisse bei einer Rückkehr nicht nutzen zu können, um nicht in Gefahr zu geraten, erscheint dies nicht glaubhaft. Angesichts der Millionenbevölkerung in Kabul, der vielen ausländischen Organisationen und der Verbreitung der englischen Sprache insbesondere auch im technischen Bereich, in dem der Kläger gearbeitet hat, kann nicht von vornherein die Möglichkeit verneint werden, dass der Kläger eine – ggf. nicht prominent nach außen in Erscheinung tretende – Tätigkeit fände, in der er auch seine Englischkenntnisse nutzen könnte. Z.B. bei der Reparatur von Computern oder Mobiltelefonen bzw. der Beseitigung von Programmstörungen ist Englisch hilfreich.
c) Auch die Voraussetzungen des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG liegen nicht vor. Dem Kläger droht bei einer Rückkehr nach Afghanistan nach derzeitigem Kenntnisstand des Gerichts auch keine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts. Die Frage, ob die in Afghanistan oder Teilen von Afghanistan stattfindenden gewalttätigen Auseinandersetzungen nach Intensität und Größenordnung als vereinzelt auftretende Gewalttaten i.S. von
Art. 1 Nr. 2 des Zusatzprotokolls vom 8. Juni 1977 zu den Genfer Abkommen vom 12. August 1949 über den Schutz der Opfer nicht internationaler bewaffneter Konflikte (BGBl. 1990 II S. 1637) – ZP II – oder aber als anhaltende Kampfhandlungen bewaffneter Gruppen im Sinne von Art. 1 Nr. 1 ZP II zu qualifizieren sind, kann dahinstehen, weil nach der Überzeugung des Gerichts der Kläger keiner erheblichen individuellen Gefahr für Leib oder Leben ausgesetzt wäre. Denn es fehlt vorliegend an einer Verdichtung allgemeiner Gefahren, die weitere Voraussetzung für die Zuerkennung subsidiären Schutzes nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG ist. Nach den dem Gericht vorliegenden Erkenntnissen erreicht in der Heimatprovinz des Klägers, Kabul, der einen innerstaatlichen bewaffneten Konflikt kennzeichnende Grad willkürlicher Gewalt kein so hohes Niveau, dass praktisch jede Zivilperson allein aufgrund ihrer Anwesenheit in dieser Region einer ernsthaften individuellen Bedrohung ausgesetzt wäre (s. hierzu auch BayVGH, B.v. 23.9.2013 -13a ZB 13.30252 – juris; BayVGH, B.v. 17.8.2016 – 13a ZB 16.30090 – Rn. 10 m.w.N.). Individuelle, gefahrerhöhende Umstände, die zu einer Verdichtung der allgemeinen Gefahren im Rahmen eines bewaffneten internationalen Konflikts in der Person des Klägers führen, hat dieser nicht vorgetragen, sondern die Frage nach einer Wehrdienstableistung verneint (BAMF-Akte Bl. 30). Seine zurückgezogene Tätigkeit in einem privaten Callcenter war keine konfliktspezifische, die ihn quasi „zwischen die Fronten“ von Taliban und Regierungstruppen gebracht hätte. Er hat damit keiner der beiden Seiten Vorschub geleistet oder sich sonst in konkrete Konfliktgebiete bewegt, sondern schlicht in Kabul gelebt und nicht herausgehoben gearbeitet.
2. Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 Satz 1 AufenthG liegen ebenfalls nicht vor. Auf den Bescheid des Bundesamts wird Bezug genommen (§ 77 Abs. 2 AsylG) und ergänzend zu § 60 Abs. 7 AufenthG ausgeführt:
Eine extreme allgemeine Gefahrenlage ergibt sich für den Kläger in Kabul als möglichem Zielort der Abschiebung weder aus seiner Volkszugehörigkeit noch hinsichtlich der allgemeinen Sicherheitslage (vgl. oben). Dem Kläger droht auch keine erhebliche konkrete Gefahr für Leib oder Leben wegen der allgemeinen Versorgungslage in Kabul. Er ist volljährig und arbeitsfähig und mit den Lebensverhältnissen in Afghanistan vertraut. Wie bereits ausgeführt, ist das Gericht der Überzeugung, dass der Kläger jedenfalls in Kabul seinen Lebensunterhalt sicherstellen kann (s. hierzu auch BayVGH, B.v. 30.9.2015 – 3a ZB 15.30063; B.v. 26.5.2015 – 13a ZB 15.30075; U.v. 12.2.2015 – 13a B 14.30309 – alle juris).
3. Nachdem sich auch die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbotes nach § 11 Abs. 1 AufenthG als rechtmäßig erweist, war die Klage mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO abzuweisen. Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83b AsylG). Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 Abs. 2 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.


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