Verwaltungsrecht

Flüchtlingsanerkennung wegen drohender Steinigung

Aktenzeichen  M 18 K 17.30384

Datum:
14.7.2017
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG AsylG § 3, § 3e, § 4

 

Leitsatz

1 Droht der Klägerin bei Rückkehr in ihr Heimatdorf eine Steinigung oder eine andere schwerwiegende Verletzung ihrer Menschenrechte aufgrund von Gerüchten, dass sie außerehelichen Geschlechtsverkehr habe, von Belästigungen anderer Männer und eines Vergewaltigungsversuches, so ist eine Verfolgungshandlung zu bejahen. (Rn. 22) (redaktioneller Leitsatz)
2 Ist die Klägerin der sozialen Gruppe der Frauen zuzuordnen, die angeblich gegen islamische Grundsätze oder Traditionen, die in Afghanistan zu befolgen sind, verstoßen hat, liegt ein Verfolgungsgrund vor. (Rn. 27) (redaktioneller Leitsatz)
3 In der Fallgruppe von (angeblichen) Verstößen von Frauen gegen die traditionellen, sittlichen und religiösen Regeln in Afghanistan ist noch weniger davon auszugehen, dass Polizisten oder anderweitige Staatsstrukturen willig sind, der Klägerin Schutz zu gewähren. (Rn. 29) (redaktioneller Leitsatz)
4 Eine Familie mit zwei sehr kleinen Kindern ohne Unterstützung der Großfamilie/des Clans gehört wie Körperbehinderte, Menschen mit chronischen Krankheiten oder Personen, die im fortgeschrittenen Lebensalter stehen, zu den besonders vulnerablen Personen, die in Kabul bzw. anderen urbanen und semi-urbanen Zentren angesichts der hohen Arbeitslosigkeit und dem niedrigen Wirtschaftswachstums mit hoher Wahrscheinlichkeit aufgrund Arbeitslosigkeit in extreme Armut geraten. (Rn. 31) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom … wird in den Nrn. 1 und 3 insoweit aufgehoben, als die Klägerin zu 2) Bescheidsadressatin ist. Er wird zudem in Nr. 3 aufgehoben, soweit die Kläger zu 1) und 3) Bescheidsadressaten sind.
II. Die Beklagte wird verpflichtet, der Klägerin zu 2) die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen. Die Beklagt wird verpflichtet, den Klägern zu 1) und 3) subsidiären Schutz (§ 4 Abs. 1 AsylG) zuzuerkennen. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
III. Die Parteien tragen die Kosten des Verfahrens je zur Hälfte.
IV. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Kläger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leisten.

Gründe

Die zulässige Klage ist teilweise begründet.
1. Über den Rechtsstreit konnte aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 31. März 2017 entschieden werden, obwohl die Beklagte nicht erschienen ist. In der Ladung zur mündlichen Verhandlung wurde darauf hingewiesen, dass auch im Fall des Nichterscheinens der Beteiligten entschieden werden kann (§ 102 Abs. 2 VwGO).
2. Die Klägerin zu 2) hat einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 AsylG. Ein Anspruch hierauf besteht, wenn die Voraussetzungen der §§ 3 bis 3e AsylG vorliegen. Nach § 3 Abs. 1 AsylG ist ein Ausländer Flüchtling, wenn er sich Nr. 1 aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe 2. außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, a) dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will oder b) in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will.
2.1 Die Klägerin zu 2) hat das Gericht vom Vorliegen von einer begründeten Furcht vor Verfolgungshandlungen nach § 3 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 3a AsylG überzeugt. Als Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 gelten nach § 3a Abs. 1 AsylG Handlungen, die 1. auf Grund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen (…) oder die 2. in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nummer 1 beschriebenen Weise betroffen ist.
Nach der Überzeugung des Gerichts fand eine Vorverfolgung der Klagepartei statt. Die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2011/95/EU kommt der Klagepartei somit zugute. Nach dieser Vorschrift ist die Tatsache, dass ein Antragsteller bereits verfolgt wurde oder unmittelbar von Verfolgung bedroht war, ein ernsthafter Hinweis darauf, dass seine Furcht vor Verfolgung begründet ist; etwas anderes soll nur dann gelten, wenn stichhaltige Gründe gegen eine erneute derartige Bedrohung sprechen.
Die Klagepartei wurde unter Anwendung von physischer und psychischer Gewalt, die eine Verfolgungshandlung nach § 3a Abs. 2 Nrn. 1 AsylG darstellt, verfolgt. Entgegen der Ansicht des Beklagtenvertreters geht das Gericht vorliegend von einer ausreichenden Intensität der Verfolgungshandlungen, die die Klägerin zu 2) erleiden musste und der dadurch drohenden Verfolgung, der sie bei einer Rückkehr nach Kosh Nazar ausgesetzt sein würde, aus.
Die Klägerin zu 2) ist mehrere Jahre hindurch von Dorfbewohnern aufgrund der Tatsache, dass sie wegen der Abwesenheit ihres Ehemannes alleine im Dorf wohnte, belästigt worden. Ein Vergewaltigungsversuch des Nachbarn, der plausibel und detailreich geschildert wurde, führte nach der glaubhaften Aussage der Klägerin zu 2) dazu, dass sie im Dorf anschließend des außerehelichen Geschlechtsverkehrs verdächtigt wurde. Von einigen Dorfbewohnern wurde sie gemieden und erhielt keine Aufträge mehr. Andere Männer jedoch dachten, sie wäre eine schlimme Frau und fingen an sie zu sexuell zu belästigen. Dieses Gerücht zog immer größere Kreise. Der Dorfvorsteher habe sie daher eines Nachts zu sich gerufen und sie davor gewarnt, dass von den Mullahs darüber gesprochen werde, ein Verfahren gegen sie einzuleiten und sie dann fürchten müsse, verprügelt oder gesteinigt zu werden.
Die Auskunftslage stützt die Aussage der Klägerin, dass ihr eine Steinigung oder eine andere schwerwiegende Verletzung ihrer Menschenrechte aufgrund der Gerüchte, dass sie außerehelichen Geschlechtsverkehr habe, den Belästigungen anderer Männer und des Vergewaltigungsversuches drohten und drohen würden, wenn sie zurück in ihr Heimatdorf käme (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Afghanistan: Zina, außerehelicher Geschlechtsverkehr, 2.10.2012, S. 2f; UNHCR-Richtlinie zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 19. April 2016, Seite 68 m.w.N, 73 Fußnote 408; im Folgenden: UNHCR-RL 16). Dabei ist zu beachten, dass die Klägerin sich zusätzlich weigerte, sich von ihrem Mann scheiden zu lassen, der bereits zu diesem Zeitpunkt einen schlechten Ruf im Dorf hatte und somit weiterhin ohne nach afghanischen Traditionen gebräuchliche männliche Führung und Aufsicht lebte (UNHCR-RL 16, S. 72f). Weiter handelt es sich bei der Klägerin zu 2) um eine Hazara, die im besagten Dorf nach Aussage des Klägers zu 1) eine Minderheit unter Paschtunen und Tadschiken darstellten. Aufgrund dieser Gemengelage an gefahrerhöhenden Umstände und der Tatsache, dass die Klägerin zu 2) sich tatsächlich sieben Jahre alleine mit dem Kläger zu 3) in Afghanistan aufhielt, bevor sie den Kläger zu 1) bat, sie nach Europa zu holen, ist das Gericht vom Vorliegen einer tatsächlichen Bedrohung der Klägerin zu 2) im Heimatdorf überzeugt.
Stichhaltige Gründe, die dafür sprächen, dass der Klägerin zu 2) bei einer Rückkehr nach Kosh Nazar aufgrund der Vorfälle keine Steinigung bzw. unmenschliche Behandlung drohen würde, sind nicht ersichtlich. Gerade der Aufenthalt im Westen mit dem in Verruf gekommenen Kläger zu 1) wird die Wahrscheinlichkeit einer Verfolgungsgefahr erhöht haben.
2.2 Die Klägerin zu 2) hat weiterhin einen Verfolgungsgrund nach § 3 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG zur Überzeugung des Gerichts dargelegt.
Ein möglicher Verfolgungsgrund des § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG ist die Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe. Eine Gruppe gilt nach § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG insbesondere als eine bestimmte soziale Gruppe, wenn a) die Mitglieder dieser Gruppe angeborene Merkmale oder einen gemeinsamen Hintergrund, der nicht verändert werden kann, gemein haben oder Merkmale oder eine Glaubensüberzeugung teilen, die so bedeutsam für die Identität oder das Gewissen sind, dass der Betreffende nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten, und b) die Gruppe in dem betreffenden Land eine deutlich abgegrenzte Identität hat, da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird; als eine bestimmte soziale Gruppe kann auch eine Gruppe gelten, die sich auf das gemeinsame Merkmal der sexuellen Orientierung gründet; Handlungen, die nach deutschem Recht als strafbar gelten, fallen nicht darunter; eine Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe kann auch vorliegen, wenn sie allein an das Geschlecht oder die geschlechtliche Identität anknüpft.
Nach § 3b Abs. 2 AsylG ist es bei der Bewertung der Frage, ob die Furcht eines Ausländers vor Verfolgung begründet ist, unerheblich, ob er tatsächlich die Merkmale der Rasse oder die religiösen, nationalen, sozialen oder politischen Merkmale aufweist, die zur Verfolgung führen, sofern ihm diese Merkmale von seinem Verfolger zugeschrieben werden.
Vorliegend ist die Klägerin zu 2) der sozialen Gruppe der Frauen zuzuordnen, die angeblich gegen islamische Grundsätze oder Traditionen, die in Afghanistan zu befolgen sind, verstoßen hat. Eine Frau hat sich in der traditionellen Gesellschaft Afghanistans dem Mann unterzuordnen und unter dessen Führung als Haushaltsvorstand zu leben (UNHCR-RL 16, S. 72f, 99 Fußnote 551). Da sich der Kläger zu 1) mehr als vier Jahre nicht bei der Klägerin zu 2) in Afghanistan aufhielt, sollte sie sich daher scheiden lassen und einen anderen Mann heiraten, damit sie wieder in traditionell üblichen Verhältnissen lebt. Weiter wurde der Klägerin zu 2) zugeschrieben, dass sie mit mehreren Männern intime Verhältnisse unterhielt. In der rigiden Sexualtradition des Islam und Afghanistans stellt vor allem der dargelegte Beischlaf mit Männern ein schwerwiegender Verstoß dar, der von den Dorfbewohnern im Rahmen von Selbstjustiz mit schweren Körperstrafen bis hin zur Steinigung sowie nach dem afghanischen Strafgesetz mit bis zu 10 Jahren Haftstrafe geahndet wird (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Afghanistan: Zina, außerehelicher Geschlechtsverkehr, 2.10.2012, S. 5). Bei den der Klägerin zu 2) vorgeworfenen Regelverstößen ist zu beachten, dass Frauen hierbei ungleich schwerer bestraft werden und somit gleichzeitig eine Anknüpfung an das Geschlecht vorliegt (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Afghanistan: Zina, außerehelicher Geschlechtsverkehr, 2.10.2012, S. 2f).
Zwischen den Verfolgungsgründen und den als Verfolgung eingestuften Handlungen besteht auch eine nach § 3a Abs. 3 AsylG erforderliche Verknüpfung. Gerade weil das Gerücht im Umlauf kam, dass die Klägerin gegen die sittlichen und religiösen Verbote verstößt, gab es weitere Belästigungen durch Männer und die beabsichtigte Einleitung eines Verfahrens der Mullahs gegen sie.
2.3 Es ist davon auszugehen, dass eine Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure nach § 3c Nr. 3 AsylG in Afghanistan relevant ist, da der afghanische Staat jedenfalls in ländlichen Gebieten und Konfliktgebieten nicht in der Lage bzw. willens ist der Klagepartei wirksamen, zugänglichen Schutz vor Verfolgung im Sinne des § 3d Abs. 2 AsylG zu bieten. Dies ergibt sich unter anderem aus der Tatsache, dass die Regierungsgewalt Afghanistans vor allem in ländlichen Gebieten schwach ausgeprägt ist, ein hohes Maß an Korruption in der Administration und Justiz vorliegt, weitgehend parallele Justizstrukturen zur Streitbeilegung genutzt werden (religiöse bzw. claninterne Strukturen) und der interne Konflikt sich nach aktueller Lage verschärft, was dazu führt, dass Polizeikräfte durch Unterwanderung ganzer Dorfgemeinschaften durch die Taliban nicht mehr in der Lage sind, effektiven Schutz zu gewährleisten (UNHCR-RL 16, Seite 28f, 12f, 15f m.w.N). Gerade in der Fallgruppe von (angeblichen) Verstößen von Frauen gegen die traditionellen, sittlichen und religiösen Regeln in Afghanistan ist noch weniger davon auszugehen, dass Polizisten oder anderweitige Staatsstrukturen willig sind, der Klägerin zu 2) Schutz zu gewähren. Frauenrechte bestehen zwar in Afghanistan auf dem Papier, die staatlichen Strukturen und Amtsinhaber befürworten jedoch zum Großteil die traditionellen Regeln, die in Afghanistan gelten (UNHCR-RL 2016, S. 10, 66, 69). Dass die Kläger sich nicht an die Polizei wandten, führt daher nicht dazu, dass die Dorfbewohner/Mullahs keine Verfolgungsakteure nach § 3c Nr. 3 AsylG darstellen.
2.4 Eine interne Schutzmöglichkeit für die Klagepartei ist nicht ersichtlich. Nach § 3e Abs. 1 AsylG wird dem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt, wenn er 1. in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3d hat und 2. sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt.
Die Klägerin zu 2) muss in Kabul bzw. anderen urbanen und semi-urbanen Zentren in Afghanistan zwar keine begründete Furcht vor Verfolgung durch die Dorfgemeinschaft haben. Zum Zeitpunkt der Ausreise hätte von der Klagepartei jedoch vernünftigerweise nicht erwartet werden können, dass sie sich in Kabul oder einem anderen urbanen Zentrum Afghanistans niederlässt. Grundsätzlich ist angesichts der noch vorherrschenden Clan-Struktur in Afghanistan und dem wesentlichen Lebenstils in Großfamilieneinheiten die Unterstützung bei der Niederlassung durch die Familie bzw. den Clan notwendig, um das wirtschaftliche Überleben unter menschenwürdigen Bedingungen zu sichern (UNHCR-RL 2016, S. 96f). Aufgrund der wirtschaftlichen Lage besteht bei fehlender Unterstützung durch den Clan/Großfamilie und fehlenden Ersparnissen das hohe Risiko, dass die Kinder der Familie durch Arbeit zum Einkommen beitragen müssen (UNHCR-RL 2016, S. 34, Fußnote 186; OCHA, 2017 Humanitarian Needs Overview, S. 41, Fußnote 10). Die wirtschaftlichen und sozialen Faktoren in größeren urbanen Zentren Afghanistans sprechen nur bei einer ausgewogenen Verteilung von arbeitsfähigen zu unterhaltsberechtigten Familienmitgliedern nicht gegen die Zumutbarkeit einer Niederlassung. Afghanistan zählt zu den ärmsten Ländern der Welt, mehr als ein Drittel der Bevölkerung lebt unter der nationalen Armutsgrenze und aufgrund des jahrelangen Bürgerkrieges und einer Vielzahl von Naturkatastrophen sind die urbanen Zentren durch die Anzahl an Binnenvertriebenen überlastet (UNHCR-RL 2016, S. 31ff). Verschärft wird die Lage durch (teilweise unfreiwillige) Rückkehrer aus Pakistan und Iran. Die Gesamtzahl der 2016 in urbane Zentren strömenden Binnenvertriebenen und Rückkehrern beträgt mehr als 1,3 Million Personen (United Nations, General Assembly Security Council, Report of the Secretary-General on the situation in Afghanistan vom 3. März 2017, S. 9). Besonders vulnerable Personen, wie Körperbehinderte, Menschen mit chronischen Krankheiten oder Personen, die im fortgeschrittenen Lebensalter stehen, werden angesichts der hohen Arbeitslosigkeit und dem niedrigen Wirtschaftswachstums mit hoher Wahrscheinlichkeit aufgrund Arbeitslosigkeit in extreme Armut geraten (UNHRC-RL 2016, S. 32, Fußnote 173 und S. 98f). Die Klagepartei gehört nach Ansicht des Gerichts als Familie mit inzwischen zwei sehr kleinen Kindern diesem Personenkreis an. Der Kläger zu 1) und die Klägerin zu 2) haben keine formelle Berufsausbildung und keine Ersparnisse. Ansässige Familienangehörige liegen bis auf die Tante in Guhlkohl nicht vor.
3. Den Klägern steht mangels Vorliegens eines Verfolgungsgrundes nach § 3 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 3b AsylG kein Anspruch auf Flüchtlingsschutz zu.
3.1 Ein vergleichbarer Verfolgungsgrund wie bei der Klägerin zu 2) ist nicht gegeben, da der Kläger nicht zur (an das Geschlecht anknüpfenden) sozialen Gruppe der Personen gehörte, die harte Strafen aufgrund der Sexualmoral und den islamischen Regeln hierzu zu befürchten hätte. Männern wird insoweit erheblich mehr Freiheiten zugestanden als Frauen (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Afghanistan: Zina, außerehelicher Geschlechtsverkehr, 2.10.2012, S. 2f), sodass eine Zugehörigkeit von Männern zur oben beschriebenen sozialen Gruppe nicht erkennbar ist.
3.2 Bezüglich des Vorbringens einer Gruppenverfolgung von Hazara wird festgestellt, dass insoweit der Begründung im streitgegenständlichen Bescheids gefolgt wird, § 77 Abs. 2 AsylG. Auch durch die neueren, zur Verfügung stehenden Erkenntnismittel folgt keine andere Bewertung hinsichtlich einer Gruppenverfolgung (vgl. VGH München, Beschluss vom 20. Januar 2017, Az: 13a ZB 16.30996).
3.2 Den Klägern zu 1) und 3) steht jedoch ein Anspruch auf Zuerkennung von subsidiärem Schutz zu.
3.2.1 Den Klägern zu 1) und 3) droht der Eintritt eines ernsthaften Schaden.
Nach § 4 Abs. 1 Satz 1 AsylG ist ein Ausländer subsidiär Schutzberechtigter, wenn er stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht.
Der Kläger zu 1) trug im Rahmen der mündlichen Verhandlung glaubhaft vor, dass er von der Dorfgemeinschaft aufgrund der von dem Bekannten gestreuten Gerüchte bereits einen sehr schlechten Ruf hatte. Er sei bezichtigt worden vom Glauben abgefallen zu sein und Alkohol zu konsumieren. Der Bekannte, der diese Gerüchte verbreitete, habe ihn in Norwegen ein-, zweimal Alkohol konsumieren sehen. Allein aufgrund dieser Gerüchte ist das Gericht jedoch nicht von einer ausreichenden Intensität einer drohenden Gefahr überzeugt. Der Kläger zu 1) hielt seine Ausführungen, aus welchen Gründen der Bekannte aus Norwegen Gerüchte über ihn streue, sowie die von ihm deswegen zu erwartenden Gefahren sehr allgemein. Kleinere Anfeindungen und üble Nachrede durch die Dorfbewohner aufgrund eines angeblichen Abfalls vom islamischen Glauben rechtfertigt jedenfalls nicht die Annahme des Eintritts eines erheblichen Schadens, da davon auszugehen ist, dass der Klägern zu 1) jedenfalls zunächst angehört wird und die Vorwürfe zurückweisen kann. Des Weiteren ist davon auszugehen, dass der Kläger zu 1) tatsächlich durch ein Einfügen in die religiösen Tages- und Jahresabläufe die Dorfbewohner davon überzeugen können wird, dass es sich lediglich um Gerüchte handelte.
Bei einem heimlichen Besuch beim Dorfvorsteher von Kosh Nazar vor seiner zweiten Ausreise aus Afghanistan, habe dieser ihn jedoch gewarnt, dass die Dorfbewohner ihn wegen der Geschichte mit der Klägerin zu 2) nicht zu Gesicht bekommen dürften. Aufgrund des detailgenauen Vortrages des Klägers zu 1) in der mündlichen Verhandlung zur Bedrohung durch einen Taliban auf der Heimreise zu seiner Frau, seiner allgemeinen Aussagen in der Niederschrift der Anhörung im Asylverfahren vom … … … sowie seinem gesamten Auftreten im Gerichtssaal ist das Gericht davon überzeugt, dass es dem Kläger auch aufgrund seines „westlichen“, opponierenden und großspurigen Verhaltens bei einer Rückkehr in die traditionellen Strukturen des Dorfes KoshNazar nicht möglich sein wird, die Dorfbewohner von seiner Loyalität und Treue zu den afghanischen Traditionen und Gebräuchen zu überzeugen. Vielmehr geht das Gericht davon aus, dass der Kläger zu 1) wegen seines „verwestlichen Verhaltens“ und einer Sippenhaft für die angeblichen Taten der Klägerin zu 2) ernsthafte Gefahr von Leib und Leben liefe, da er mangels „ausreichender Überwachung“ der Klägerin zu 2) die Probleme erst herbeiführte (UNHCR-RL 16, S. 74). In einer Gesamtschau beider vorgeworfenen Verstöße gegen Regeln und seiner „verwestlichen Haltung“ ist doch wegen der Kumulierung von angeblichen Regelverstößen davon auszugehen, dass dem Kläger zu 1) ein ernsthafter Schaden drohe. Diese Prognose ist vor dem Hintergrund zu betrachten, dass in der Herkunftsregion Urozgan starke Kämpfe zwischen Taliban und der Regierung stattfinden und Teile von Urozgan als von den Taliban eingenommen betrachten müssen (UNAMA – Protection of civilians in armed conlict, annual report 2016, S. 41 und midyear-report 2017, S. 5, 20 Fußnote 59), sodass von einer strengeren Verfolgung angeblicher Verstöße auszugehen ist (UNHCR-RL 16, S. 63f). Auch hier als gefahrerhöhender Umstand zu berücksichtigen, dass der Kläger zu 1) als Hazara einer weiterhin diskriminierten, ehemals verfolgten Minderheit im benannten Dorf angehört.
3.2 Auch dem Kläger zu 3) ist subsidiärer Schutzstatus wegen des Drohens einer ernsthaften Schadens nach § 4 Abs. 1 AsylG zuzuerkennen. Dem Gericht sind keine Erkenntnismittel bekannt, die Aufschluss über das Schicksal des Klägers zu 3) und dem Geschwisterkindes des Klägers zu 3) bei einer Tötung bzw. Schwerverletzung der Kläger zu 1) und 2) geben. Auch die Kläger zu 1) und 2) konnten nicht beantworten, was mit ihren Kindern passieren würde, wenn sie von den Mullahs bzw. Dorfbewohnern getötet bzw. verletzt werden würden. Möglicherweise würde die Tante des Klägers zu 1) um die Kinder kümmern, was jedoch nicht gesichert ist. Jedenfalls besteht die Gefahr, dass die Kinder aufgrund der Vorwürfe gegenüber ihren Eltern auch als „schuldig“ angesehen werden und somit schwer misshandelt oder getötet werden würden. Es ist weiterhin in ländlichen Regionen Afghanistans üblich ein missbilligtes Verhalten eines Familienmitgliedes der gesamten Familie zuzuschreiben (Auswärtiges Amt, Lagebericht von 09/2016, S. 9). Angesichts der schweren Vorwürfe gegen ihre Eltern und der fehlenden Schutzmöglichkeit und Überlebensfähigkeit des Klägers zu 3) und seines Geschwisterkindes, ist dem Kläger zu 3) auch subsidiärer Schutzstatus zuzuerkennen.
3.3 Ob für die Kläger zu 1) und 3) ein ernsthafter Schaden nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG droht, kann dahinstehen.
3.4 Ein Ausschluss der subsidiären Schutzberechtigung wegen § 4 Abs. 3 i.V.m. § 3e AsylG ist nicht vorzunehmen. Die Klagepartei kann in keinem Landesteil Afghanistans Schutz vor einem ernsthaften Schaden oder der tatsächlichen Gefahr eines ernsthaften Schadenseintrittes finden. Eine Niederlassung in einem anderen Landesteil Afghanistans ist nach § 4 Abs. 3 i.V.m. § 3e Abs. 1 Nr. 2 AsylG nicht zumutbar (siehe oben).
4. Der streitgegenständliche Bescheid war, soweit er der Klägerin zu 2) keinen Flüchtlingsschutz und den Klägern zu 1) und 3) keinen subsidiären Schutzstatus anerkennt, rechtswidrig und aufzuheben.
5. Die Kostenentscheidung folgt aus § 155 Abs. 1 VwGO.
Die Kläger zu 1) bis 3) begehrten insgesamt Flüchtlingsschutz und lediglich hilfsweise subsidiäre Schutzzuerkennung. Da es sich um drei Kläger handelt, ist eine Drittelbetrachtung angezeigt. Die Klägerin zu 2) obsiegte mit ihrem Klagebegehren vollumfänglich. Die Kläger zu 1) und 3) obsiegten in ihren Klagebegehren lediglich um jeweils 1/3, da der subsidiäre Schutz zur Flüchtlingsanerkennung im Verhältnis von 1/3 zu 2/3 zu gewichten ist. Daraus folgt, dass die Kläger insgesamt zu 166/300, d.h. ca. zur Hälfte obsiegen. Eine hälftige Kostenteilung ist daher angemessen.
6. Die Regelung der vorläufigen Vollstreckbarkeit ergibt sich aus § 167 S. 1 VwGO i.V.m. §§ 708, 711 ZPO.


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