Verwaltungsrecht

Gewährung von Vollzeitpflege

Aktenzeichen  W 3 K 18.980

Datum:
14.11.2019
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2019, 53174
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Würzburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
SGB VIII § 8a, § 27, § 33, § 44, § 72a
SGB X § 45
AGSG § 35, Art. 40 S. 2
JarbSchG § 25
BGB § 1666

 

Leitsatz

Tenor

I. Ziffer 2 des Bescheides des Landkreises Kitzingen – Amt für Jugend und Familie – vom 20. Juli 2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids der Regierung von Unterfranken vom 15. Juni 2018 wird aufgehoben.
Der Beklagte wird verpflichtet, dem Kläger gemäß seinem Antrag vom 24. Juli 2015 Hilfe zur Erziehung für seine Tochter E. … in Form der Vollzeitpflege im Haushalt der Großeltern … und … … zu gewähren.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
II. Von den Kosten des Verfahrens haben der Kläger 1/2 und der Beklagte 1/2 zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
Die Zuziehung eines Bevollmächtigten im Vorverfahren durch den Kläger war notwendig.
III. Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige Kostenschuldner kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe der zu vollstreckenden Kosten abwenden, wenn nicht der jeweilige Kostengläubiger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

1.
Die zulässige Klage ist im Hauptantrag unbegründet. Ziffer 1 des Bescheides vom 20. Juli 2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15. Juni 2018 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Insoweit war die Klage abzuweisen.
Mit Ziffer 1 des Bescheides vom 20. Juli 2015 wurde der Bescheid vom 14. Juli 2015 zurückgenommen. Vor Erlass des Bescheides ist die in § 24 Abs. 1 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) grundsätzlich erforderliche Anhörung nicht erfolgt. Nach § 24 Abs. 2 Nr. 1 SGB X kann von einer Anhörung abgesehen werden, wenn eine sofortige Entscheidung wegen Gefahr im Verzug oder im öffentlichen Interesse notwendig erscheint. Das Vorliegen dieser Voraussetzungen hat der Beklagte angenommen. Ob dies zutreffend ist, kann dahinstehen, denn eine fehlende Anhörung wäre gemäß § 41 Abs. 1 Nr. 3 und Abs. 2 SGB X geheilt, nachdem durch das Widerspruchsverfahren rechtliches Gehör gewährt wurde.
Nach § 45 Abs. 1 SGB X darf ein begünstigender Verwaltungsakt, der rechtswidrig ist, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, unter den Einschränkungen der Abs. 2 bis 4 ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft oder für die Vergangenheit zurückgenommen werden. Eine Rücknahme ist insbesondere dann nicht möglich, wenn schutzwürdiges Vertrauen vorliegt. Das Vertrauen ist in der Regel schutzwürdig, wenn der Begünstigte erbrachte Leistungen verbraucht oder Vermögensdispositionen getroffen hat, die er nicht mehr oder nur unter unzumutbaren Nachteilen rückgängig machen kann (§ 45 Abs. 2 Satz 2 SGB X).
Der Bescheid vom 14. Juli 2015 ist rechtswidrig, wenn das Recht unrichtig angewandt wurde oder wenn von einem Sachverhalt ausgegangen wurde, der sich als unrichtig erweist (vgl. Definition in § 44 Abs. 1 SGB X). Bei der Beurteilung der Geeignetheit einer Pflegeperson ist auch in den Fällen, in denen die Pflegeperson keiner Erlaubnis bedarf, § 44 Abs. 2 Achtes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VIII) i.V.m. § 72a SGB VIII anzuwenden, das heißt, es ist ein erweitertes Führungszeugnis für die Pflegeperson vorzulegen. Der Bescheid vom 14. Juli 2015 ist ergangen, bevor alle erforderlichen Unterlagen, insbesondere das Führungszeugnis, vorlagen. Folglich wurde das Recht unrichtig angewendet, so dass von einer Rechtswidrigkeit des Bescheides vom 14. Juli 2015 ausgegangen werden muss. Bei der Entscheidung über die Rücknahme eines Verwaltungsaktes handelt es sich um eine Ermessensentscheidung. Den Gründen des Bescheides des Beklagten lassen sich keine Ermessenserwägungen entnehmen. Allerdings wurden im Rahmen des Widerspruchsverfahrens, das noch zum Verwaltungsverfahren gehört, Ermessenserwägungen angestellt und insbesondere auch die Frage des Vertrauensschutzes berücksichtigt und abgehandelt.
Folglich konnte der Bescheid vom 14. Juli 2015 zurückgenommen werden. Ziffer 1 des Bescheides vom 20. Juli 2015 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten.
2.
Hinsichtlich des Hilfsantrages ist die Klage begründet.
Der Kläger hat Anspruch auf die Gewährung von Hilfe zur Erziehung in Form der Vollzeitpflege für seine Tochter E. in der Familie seiner Eltern (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO). Die Ablehnung der Hilfe zur Erziehung in Ziffer 2 des Bescheides vom 20. Juli 2015 ist rechtswidrig.
Gemäß § 27 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII hat ein Personensorgeberechtigter – hier der Kläger – bei der Erziehung eines Kindes einen Anspruch auf Hilfe (Hilfe zur Erziehung), wenn eine dem Wohl des Kindes oder Jugendlichen entsprechende Erziehung nicht gewährleistet ist und die Hilfe für seine Entwicklung geeignet und notwendig ist. Die Geeignetheit der Hilfe ist dabei nicht nur allgemein, sondern auch im Hinblick auf die konkrete Form der Hilfe zur Erziehung zu überprüfen. Dabei kann die Vollzeitpflege durch Großeltern nur dann ein geeignetes Mittel zum Ausgleich eines Erziehungsdefizites sein, wenn die Großeltern ihrerseits als Pflegeeltern geeignet sind (BVerwG, U.v. 9.12.2014 – 5 C 32.13 – juris Rn. 19). Zur Geeignetheit im Sinne von § 27 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII gehört auch, dass die Pflegepersonen zum einen eine dem Wohl des Kindes entsprechende Erziehung gewährleisten können und zum anderen, dass sie sich auf die Kooperation mit dem Jugendamt einlassen und ggf. zur Annahme unterstützender Leistungen bereit sind. Dies folgt auch ausdrücklich aus § 27 Abs. 2a Halbsatz 2 SGB VIII, wonach die Person geeignet und bereit sein muss, den Hilfebedarf in Zusammenarbeit mit dem Träger der öffentlichen Jugendhilfe zu decken. Großeltern bedürfen zwar keiner Pflegeerlaubnis (§ 44 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 SGB VIII), ihre persönliche Eignung ist jedoch anhand der Vorgaben des § 44 Abs. 2 SGB VIII und insbesondere daran zu messen, ob das Kindeswohl in der Pflegestelle gewährleistet ist (vgl. BVerwG, a.a.O.).
Bei der Beurteilung der Eignung der Pflegeperson sind in Bayern maßgeblich die Versagungsgründe aus Art. 35 Ausführungsgesetz zu den Sozialgesetzen (AGSG) zu berücksichtigen. Dies gilt auch dann, wenn für eine geleistete Betreuung keine Pflegeerlaubnis im Sinne von § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII erforderlich ist. Dies wird auch dadurch verdeutlicht, dass das Jugendamt einer Person, die nach § 44 Abs. 1 Satz 2 SGB VIII keiner Erlaubnis bedarf, gemäß Art. 40 Satz 2 AGSG untersagen kann, ein Kind oder einen Jugendlichen in der Familie regelmäßig zu betreuen, wenn eine Pflegeerlaubnis wegen eines Versagungsgrundes nach Art. 35 AGSG verweigert werden müsste (VG München, U.v. 21.4.2010 – M 18 K 08.5104 – juris Rn. 32).
Gemäß Art. 35 Satz 1 AGSG ist die Pflegeerlaubnis nach § 44 Abs. 1 SGB VIII zu versagen, wenn das Wohl des Kindes in der Pflegestelle nicht gewährleistet ist. Sie ist nach Art. 35 Satz 2 Nr. 4 AGSG insbesondere zu versagen, wenn Anhaltspunkte bestehen, dass eine Pflegeperson oder eine in ihrem Haushalt lebende Person das sittliche Wohl des Kindes gefährden könnte. Art. 35 AGSG enthält einen nicht abschließenden Katalog von Gründen, bei denen die Pflegeerlaubnis zu versagen ist.
Die Entscheidung über die im Einzelfall angezeigte Hilfeart ist nach § 36 Abs. 2 Satz 1 SGB VIII im Zusammenwirken der Fachkräfte des Jugendamtes zu treffen. Bei der Entscheidung über die Notwendigkeit und Geeignetheit der Hilfe handelt es sich um das Ergebnis eines kooperativen pädagogischen Entscheidungsprozesses unter Mitwirkung mehrere Fachkräfte, welches nicht den Anspruch objektiver Richtigkeit erhebt, jedoch eine angemessene Lösung zur Bewältigung der festgestellten Belastungssituation enthält, die fachlich vertretbar und nachvollziehbar sein muss. Daraus folgt, dass die verwaltungsgerichtliche Überprüfung sich darauf zu beschränken hat, ob allgemein gültige fachliche Maßstäbe beachtet wurden, ob keine sachfremden Erwägungen eingeflossen sind und die Adressaten in umfassender Weise beteiligt worden sind (BayVGH, B.v. 16.10.2013 – 12 C 13.1599 – juris Rn. 32; B.v. 29.7.2013 – 12 C 13.1183 – juris Rn. 18). Hiervon ausgehend kommt dem Jugendamt auch hinsichtlich der Frage der Geeignetheit der Pflegeperson im konkreten Einzelfall ein nur eingeschränkt gerichtlich überprüfbarer Beurteilungsspielraum zu (vgl. VG Augsburg, U.v. 3.8.2016 – Au 3 K 15.1172 – juris Rn. 44 m.w.N.).
Behördliche Bedenken hinsichtlich der Eignung einer möglichen Pflegeperson müssen gleichwohl substantiiert und mit konkreten Ereignissen belegt werden, um tragfähig zu sein (vgl. BayVGH, B.v. 16.10.2013 – 12 C 13.1599 – juris Rn. 36; B.v. 29.7.2013 – 12 C 13.1183 – juris Rn. 24). Falls das Jugendamt davon ausgeht, dass das Wohl des Kindes in der Pflegestelle nicht gewährleistet ist, trägt es insoweit grundsätzlich die Darlegungs- und Beweislast (VG München, U.v. 11.12.2013 – M 18 K 12.5685 – juris Rn. 23 m.w.N.).
Vorliegend ist der Bedarf des Kindes und die Geeignetheit der Hilfe zur Erziehung in Form der Vollzeitpflege vom Beklagten bejaht worden. Streitig ist nur die Eignung der Pflegeeltern. Der Bescheid vom 20. Juli 2015 lässt nicht erkennen, weshalb der Beklagte das Kindeswohl in der Pflegestelle als nicht gewährleistet ansieht. In der Begründung des Bescheides wird hierzu nur ausgeführt, „es seien Fakten mitgeteilt worden, aus denen sich ergebe, dass die Pflegeeltern aus persönlichen Gründen nicht für eine offizielle Pflegestelle geeignet seien“. Nach Aktenlage ist aber offensichtlich, dass die Geeignetheit der Pflegeeltern im Hinblick auf die Vorstrafen des Großvaters verneint wurde. Soweit im Widerspruchsbescheid aufgrund der Vorstrafen Zweifel an der Fähigkeit, das Kind in seiner Entwicklung günstig zu beeinflussen, angeführt werden, dürfte die Widerspruchsbehörde die Regelung des Art 35 Satz 2 Nr. 4 AGSG in Bezug nehmen. Wie vorstehend dargestellt, kommt dem Gericht im konkreten Einzelfall ein nur eingeschränkt gerichtlich überprüfbarer Beurteilungsspielraum zu. Dies bedeutet insbesondere, dass die gerichtliche Überprüfung darauf beschränkt ist, ob allgemein fachliche Maßstäbe beachtet wurden und ob keine sachfremden Erwägungen eingeflossen sind. Vorliegend geht es nur noch um die Frage der Eignung der konkreten Pflegeperson(en). Der Entscheidungsprozess der Behörde ist abgeschlossen. Andere Pflegepersonen kommen nach Aussagen des Beklagten nicht in Betracht, weil der sorgeberechtigte Kläger nur mit einer Hilfe zur Erziehung in der Familie der Großeltern einverstanden ist. Es kommt also streitentscheidend darauf, ob die Großeltern geeignet im Sinne des § 44 Abs. 2 SGB VIII sind, mit anderen Worten, ob das Kindeswohl in der Pflegestelle gewährleistet ist.
Zur Überzeugung der Kammer ist die Entscheidung des Beklagten vom 20. Juli 2015 fachlich nicht vertretbar, weil offenbar allein die Tatsache, dass der Großvater vorbestraft ist, zum Anlass genommen wurde, die Geeignetheit der Großeltern als Pflegefamilie in Zweifel zu ziehen. Dies ist allerdings eine sachfremde Erwägung, denn die mit rechtskräftigen Urteilen geahndeten Straftaten des Großvaters lassen dessen Eignung als Pflegeperson nicht notwendig entfallen, da keine zum Tätigkeitsausschluss nach § 72a Abs. 1 Satz 1 SGB VIII führende Delikte (sog. Katalogstraftaten) begangen worden sind. Nachdem der Großvater nicht wegen einer Katalogstraftat vorbestraft ist, müssen für die Frage der Geeignetheit sämtliche Umstände des Einzelfalles geprüft werden. Dabei kann insbesondere von Bedeutung sein, wie schwer die der Verurteilung zugrundeliegende Tat wiegt, wie lange sie zurückliegt, welche Einstellung die Pflegepersonen den eigenen Taten gegenüber einnimmt, inwieweit der Betreffende in weitere Strafermittlungen verwickelt wurde, Alter und Einsichtsfähigkeit des Kindes, Dauer und Intensität der gewachsenen Beziehung und die Fähigkeit und Bereitschaft der Pflegeperson, eine Gefährdung des Wohl des Kindes oder Jugendlichen abzuwenden (vgl. VG München, U.v. 11.12.2013). Eine solche Einzelfallprüfung haben der Beklagte und die Widerspruchsbehörde ersichtlich nicht vorgenommen. Konkrete Anhaltspunkte für eine Gefährdung des Kindeswohles wurden nicht dargelegt, geschweige denn bewiesen.
Die Straftaten des Großvaters liegen teilweise über 25 Jahre zurück (1990 und 1992). Eine Löschung der Eintragungen im Strafregister ist nicht erfolgt, weil nach § 47 Abs. 3 Bundeszentralregistergesetz (BRZG) eine Tilgung von Eintragungen erst zulässig ist, wenn für alle Verurteilungen die Voraussetzungen der Tilgung vorliegen. Die Straftaten seit 2005 betreffen Verstöße gegen das Betäubungsmittelgesetz (BtMG). Bei Verurteilungen nach dem Betäubungsmittelgesetz tritt als automatische Nebenfolge der Tat ein Verbot ein, Jugendliche in Ausbildungsverhältnissen zu beaufsichtigen, anzuweisen und auszubilden (§ 25 Abs. 1 Nr. 4 Jugendarbeitsschutzgesetz). Aufgrund dessen ist ein Schluss auf die Eignung als Pflegeperson wegen dieser eingetretenen Nebenfolge nicht zwingend, weil diesbezüglich eine tatsächliche Beurteilung der Persönlichkeit im Strafverfahren nicht erfolgt. Die letzte Strafe aufgrund einer Verurteilung im Jahr 2013 wurde vom Gericht zur Bewährung ausgesetzt, was zumindest darauf schließen lässt, dass das Gericht eine günstige Sozialprognose angenommen hat. Erkenntnisse über eventuell derzeit anhängige strafrechtliche Ermittlungen liegen nicht vor.
Die Kinder des Klägers leben seit ihrer Entlassung aus der Frühgeborenenstation des Krankenhauses im … 2012 in der Großelternfamilie und sind dort aufgewachsen. Die bei den Behördenakten befindliche Stellungnahme des Allgemeinen Sozialdienstes (ASD) des Beklagten vom 3. Juli 2015 sowie die im gerichtlichen Verfahren vorgelegte Stellungnahme der Schule vom 25. Februar 2019 äußern sich positiv hinsichtlich der Entwicklung der Kinder. Die Stellungnahme der Schule bestätigt, dass die positive Einschätzung des ASD hinsichtlich der Geeignetheit der Pflegestelle zutreffend war. Eine fachlich fundierte Auseinandersetzung mit diesen Stellungnahmen oder gar eine Widerlegung ist seitens des Beklagten nicht erfolgt. Die Kinder leben nunmehr seit siebeneinhalb Jahren in der Familie ihrer Großeltern, die den überwiegenden Teil der Erziehung getragen haben, zumal der Vater der Kinder von Ende 2012 bis März 2014 eine Haftstrafe verbüßte und seit Dezember 2014 auch nicht mehr im Haushalt seiner Eltern lebt. Die Kinder haben in dieser Zeit eine starke Bindung zu den Großeltern aufgebaut. Die Großeltern sind zur Zusammenarbeit mit dem Jugendamt bereit und kooperativ. Bisher haben sich offenbar keine Bedenken hinsichtlich der Gewährleistung des Kindeswohls in der Familie der Großeltern ergeben. Der Beklagte hat die Kinder in der Familie belassen – dies auch nach Erlass des Bescheides vom 20. Juli 2015 -, verweigert aber die Gewährung von Hilfe zur Erziehung mit der damit verbundenen Leistung von Pflegegeld.
Allerdings fehlt es seitens des Beklagten nicht nur an einer hinreichend überzeugenden Begründung dafür, weshalb einerseits die Großeltern (beide ?) als Pflegeeltern ungeeignet sein sollen, andererseits der Beklagte aber keine Veranlassung zum Einschreiten sieht. Zwar ist bei der Beurteilung der Geeignetheit einer Pflegeperson der Begriff „Kindeswohl“ anders auszulegen als nach § 1666 BGB (vgl. VG Regensburg, U.v. 10.11.2015 – RO 4 K 15.287 – juris Rn. 25; BayVGH. B.v. 16.10.2013 – 12 C 13.1599 – juris Rn. 34). Ein Einschreiten der Jugendhilfe ist aber bereits unterhalb der Schwelle der Gefährdung des Kindeswohls möglich. Dies zeigt insbesondere die Regelung des Art. 40 AGSG, wonach das Jugendamt einer ungeeigneten Person, die keiner Pflegeerlaubnis bedarf, untersagen kann, ein Kind in ihrer Familie regelmäßig zu betreuen oder ihm Unterkunft zu gewähren. Der vorliegend bestehende Widerspruch zwischen der faktischen Hinnahme des Betreuungsverhältnisses und der angeblichen Ungeeignetheit der Vollzeitpflege durch die Großeltern wird durch die vom Beklagten abgegebene Erklärung, es läge keine Kindeswohlgefährdung im Sinne des § 1666 BGB vor, nicht ausgeräumt und ist auch rechtlich nicht haltbar, gerade weil ein Einschreiten unterhalb dieser Schwelle möglich gewesen wäre.
Wenn sich Gründe ergeben, die gegen die ursprüngliche oder gegen die fortdauernde Eignung einer Pflegeperson sprechen, so muss der Jugendhilfeträger prüfen, ob das Pflegeverhältnis beendet und das Kind oder der Jugendliche einer anderen Pflegeperson anvertraut werden soll. Er kann indes nicht das Pflegeverhältnis bestehen lassen und lediglich die (künftige) Zahlung von Pflegegeld verweigern (vgl. VGH BW, B.v. 9.7.2003 – 9 S 1070/03 – juris, Ls.).
Nicht zuletzt ist auch zu bedenken, dass im Falle der Gewährung von Hilfe zur Erziehung, verbunden mit der Leistung von Pflegegeld, das Jugendamt die Möglichkeit hat, im Rahmen eines Hilfeplanes und der gesetzlich vorgeschriebenen Zusammenarbeit und der Überprüfungsbefugnisse der Behörde (vgl. § 37 Abs. 1 und Abs. 3 SGB VIII) eventuell entstehenden Defiziten in der Erziehungsleistung auf Seiten der Pflegeeltern vorzubeugen und gerade durch den Kontakt zur Pflegefamilie positiv Einfluss auf die Erziehung zu nehmen.
Nachdem die Eignung der Pflegeeltern ohne bzw. mit nicht tragfähigen Gründen abgelehnt wurde, der Beklagte seiner Darlegungs- und Beweislast nicht nachgekommen ist und sich die Beurteilung auf die konkreten Pflegepersonen bezieht, war dem Hilfsantrag stattzugeben und eine entsprechende Verpflichtung des Beklagten auszusprechen. Dies gilt auch unter Berücksichtigung des dem Jugendhilfeträger grundsätzlich zustehenden Beurteilungsspielraums (vgl. hierzu die obigen Ausführungen), der in der Regel vom Verwaltungsgericht nur eingeschränkt überprüft werden kann. Allerdings ist vorliegend die Verpflichtung zulasten des Beklagten auszusprechen, da sich dessen Beurteilungsspielraum dahingehend verengt hat, dass ausschließlich die vom Kläger begehrte Maßnahme, nämlich die Gewährung von Vollzeitpflege für E. im Haushalt von deren Großeltern, als notwendig und geeignet anzusehen ist. Dies ergibt sich aus den obigen Ausführungen und insbesondere daraus, dass der Beklagte die Notwendigkeit der Hilfe zur Erziehung in Form der Vollzeitpflege nicht in Frage stellt, das Kind trotz Kenntnis der gesamten Problematik über Jahre hinweg im Haushalt der Großeltern belassen hat und nicht einmal ansatzweise Alternativlösungen erarbeitet, dem Kläger nahegelegt und auf der Ebene des § 40 AGSG bzw. auf familiengerichtlicher Ebene durchzusetzen versucht hat.
Wenn Hilfe zur Erziehung gewährt wird, ist nach § 39 Abs. 1 SGB VIII als Annex auch der notwendige Unterhalt des Kindes sicherzustellen, weshalb hierzu kein gesonderter Ausspruch im Urteilstenor erforderlich war.
Die Kostenfolge ergibt sich aus § 155 Abs. 1 VwGO, § 188 Satz 2 Halbsatz 1, § 162 Abs. 2 Satz 2 VwGO.
Vorläufige Vollstreckbarkeit: § 167 Abs. 2 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.


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