Verwaltungsrecht

Gruppenverfolgung der Ahmadiyya – Zuerkennung subsidiären Schutzes

Aktenzeichen  M 23 K 13.31367

Datum:
23.3.2016
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG AsylG § 4 Abs. 1, § 77 Abs. 1
AufenthG AufenthG aF § 60 Abs. 2-7
VwGO VwGO § 123 Abs. 5 S. 1

 

Leitsatz

Angehörige der Glaubensgemeinschaft der Ahmadiyya Muslim Jamaat in Pakistan sind nicht allein wegen ihres Glaubens und der Praktizierung ihres Glaubens einer Gruppenverfolgung ausgesetzt (vgl. VGH Mannheim BeckRS 2013, 52685; BVerwG BeckRS 2013, 49253).  (redaktioneller Leitsatz)
Etwas anderes gilt jedoch für diejenigen Ahmadi, die ihren Glauben in einer verfolgungsrelevanten Weise praktizieren und ihr Bekenntnis aktiv in die Öffentlichkeit tragen. Für diese Personen besteht in Pakistan ein reales Verfolgungsrisiko, wenn sie ihren Glauben öffentlich leben und bekennen würden. Sie haben mit einem erheblichen Risiko für Leib und Leben durch die Gefahr einer jahrelangen Inhaftierung mit Folter bzw. unmenschlichen Haftbedingungen und von Attentaten oder gravierenden Übergriffen privater Akteure zu rechnen (vgl. ausf. VGH Mannheim BeckRS 2013, 52685; BVerwG BeckRS 2013, 49253; VG Wiesbaden Urt. v. 12.6.2015 – 2 K 1300/14.WI.A; VG Augsburg Urt. v. 9.2.2015 – Au 6 K 14.30276).  (redaktioneller Leitsatz)
Ein Angehöriger der Glaubensgemeinschaft der Ahmadiyya aus Pakistan, für den das Leben und Bekennen seines Glaubens in der Öffentlichkeit identitätsbestimmender Teil seines Glaubensverständnisses ist, kann sogar die Flüchtlingseigenschaft auch dann, wenn er im Falle der Rückkehr sein öffentliches Glaubensbekenntnis unterlassen würde, besitzen (vgl. VGH Mannheim BeckRS 2013, 52685). Dieser für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft geltende Rahmen gilt erst Recht für den vorliegend im Hauptantrag alleine noch geltend gemachten Anspruch auf Zuerkennung subsidiären Schutzes. (redaktioneller Leitsatz)
Einem seinem Glauben innerlich verbundenen Ahmadi, zu dessen verpflichtender Überzeugung es gehört, den Glauben auch in der Öffentlichkeit zu leben und diesen in die Öffentlichkeit zu tragen und ggf. auch zu werben oder zu missionieren, steht auch kein interner Schutz iSd § 4 Abs. 3 S. 1, § 3e AsylG offen, dh es gibt keinen Landesteil, in dem er in zumutbarer Weise und ungefährdet seinen Glauben öffentlich leben kann (vgl. VGH Mannheim BeckRS 2013, 52685; VG Augsburg Urt. v. 9.2.2015 – Au 6 K 14.30276). (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I.
Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 21. November 2013 wird in den Nummern 3 und 4 aufgehoben.
Die Beklagte wird verpflichtet, den Klägern subsidiären Schutz (§ 4 Abs. 1 AsylG) zuzuerkennen.
II.
Die Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III.
Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.
Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Kläger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leisten.

Gründe

Die zulässige Klage hat Erfolg. Den Klägern steht der im Hauptantrag geltend gemachte Anspruch auf Zuerkennung subsidiären Schutzes gemäß § 4 Abs. 1 AsylG zu (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO); der insofern entgegenstehende und noch auf der alten Rechtslage ergangene Bescheid der Beklagten vom 21. November 2013 war daher teilweise (in dessen Nrn. 3 und 4) aufzuheben.
Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts muss auch in Asylstreitigkeiten das Gericht die volle Überzeugung von der Wahrheit – und nicht etwa nur der Wahrscheinlichkeit – des vom Kläger behaupteten individuellen Schicksals erlangen, aus dem er seine Furcht vor politischer Verfolgung herleitet. Wegen der häufig bestehenden Beweisschwierigkeiten des Asylbewerbers kann schon allein sein eigener Sachvortrag zur Asylanerkennung führen, sofern sich das Tatsachengericht unter Berücksichtigung aller Umstände von dessen Wahrheit überzeugen kann (BVerwG, B. v. 21.7.1989 – 9 B 239/89 – InfAuslR 1989, 349). Das Tatsachengericht darf dabei berücksichtigen, dass die Befragung von Asylbewerbern aus anderen Kulturkreisen mit erheblichen Problemen verbunden ist (vgl. BVerwG, B. v. 21.7.1989, a. a. O.). Der Asylbewerber befindet sich typischerweise in Beweisnot. Er ist als „Zeuge in eigener Sache“ zumeist das einzige Beweismittel. Auf die Glaubhaftigkeit seiner Schilderung und die Glaubwürdigkeit seiner Person kommt es entscheidend an. Wer durch Vortrag eines Verfolgungsschicksals um Asyl nachsucht, ist in der Regel der deutschen Sprache nicht mächtig und deshalb auf die Hilfe eines Sprachmittlers angewiesen, um sich mit seinem Begehren verständlich zu machen. Zudem ist er in aller Regel mit den kulturellen und sozialen Gegebenheiten des Aufnahmelands, mit Behördenzuständigkeiten und Verfahrensabläufen sowie mit den sonstigen geschriebenen und ungeschriebenen Regeln, auf die er nunmehr achten soll, nicht vertraut. Es kommt hinzu, dass Asylbewerber, die alsbald nach ihrer Ankunft angehört werden, etwaige physische und psychische Auswirkungen einer Verfolgung und Fluch möglicherweise noch nicht überwunden haben und dies ihre Fähigkeit zu einer überzeugenden Schilderung ihres Fluchtgrunds beeinträchtigen kann (BVerfG, U. v. 14.5.1996 – 2 BvR 1516/93 – NVwZ 1996, 678).
Nach diesen Grundsätzen haben die Kläger Anspruch auf die Zuerkennung subsidiären Schutzes. Das Gericht ist der Überzeugung, dass den Klägern als bekennenden Ahmadis im Herkunftsland ernsthafter Schaden droht.
Das Gericht geht in Übereinstimmung mit der herrschenden Meinung in der Rechtsprechung davon aus, dass Angehörige der Glaubensgemeinschaft der Ahmadiyya Muslim Jamaat in Pakistan nicht allein wegen ihres Glaubens und der Praktizierung ihres Glaubens einer Gruppenverfolgung ausgesetzt sind (vgl. ausführlich VGH Baden-Württemberg, U. v. 12.6.2013 – A 11 S 757/13; BVerwG, U. v. 20.2.2013 – 10 C 23/12 – jeweils juris.). Anhaltspunkte dafür, dass sich die Bedingungen wesentlich verschlechtert haben, sind nicht vorgetragen und sind auch den Erkenntnismitteln, die Gegenstand des Verfahrens sind, nicht zu entnehmen. Auch der aktuelle Lagebericht führt zwar aus, dass die islamische Religionsgemeinschaft der Ahmadiyya nach der pakistanischen Verfassung nicht als muslimisch anerkannt werde und Ahmadis durch eine speziell gegen sie gerichtete Gesetzgebung diskriminiert würden. So sei es ihnen etwa verboten, sich als Muslime zu bezeichnen oder wie Muslime zu verhalten. Verstöße würden strafrechtlich geahndet. Der weitaus größte Teil der Ahmadis lebe jedoch friedlich mit den muslimischen Nachbarn zusammen (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Pakistan, im Folgenden: Lagebericht, Stand: Juli 2015, S. 14 f.).
Etwas anderes gilt jedoch für diejenigen Ahmadi, die ihren Glauben in einer verfolgungsrelevanten Weise praktizieren und ihr Bekenntnis aktiv in die Öffentlichkeit tragen. Für diese Personen besteht in Pakistan ein reales Verfolgungsrisiko, wenn sie ihren Glauben öffentlich leben und bekennen würden. Sie haben mit einem erheblichen Risiko für Leib und Leben durch die Gefahr einer jahrelangen Inhaftierung mit Folter bzw. unmenschlichen Haftbedingungen und von Attentaten oder gravierenden Übergriffen privater Akteure zu rechnen (vgl. ausführlich VGH Baden-Württemberg, U. v. 12.6.2013 – A 11 S 757/13; BVerwG, U. v. 20.2.2013 – 10 C 23/12; VG Wiesbaden, U. v. 12.6.2015 – 2 K 1300/14.WI.A; VG Augsburg, U. v. 9.2.2015 – Au 6 K 14.30276 – jeweils juris). Ein Angehöriger der Glaubensgemeinschaft der Ahmadiyya aus Pakistan, für den das Leben und Bekennen seines Glaubens in der Öffentlichkeit identitätsbestimmender Teil seines Glaubensverständnisses ist, kann sogar die Flüchtlingseigenschaft auch dann, wenn er im Falle der Rückkehr sein öffentliches Glaubensbekenntnis unterlassen würde, besitzen (vgl. VGH Baden-Württemberg, U. v. 12.6.2013 – A 11 S 757/13 – juris). Dieser für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft geltende Rahmen gilt erst Recht für den vorliegend im Hauptantrag alleine noch geltend gemachten Anspruch auf Zuerkennung subsidiären Schutzes.
Zwar teilt das Gericht die Auffassung der Beklagtenseite aus der ablehnenden Entscheidung vom 21. November 2013, dass im damaligen Zeitpunkt der behördlichen Entscheidung klägerseits wenig Anhaltspunkte dafür berichtet bzw. dargelegt wurden, dass die Kläger im Heimatland in den Kreis der Ahmadis zu rechnen waren, für die ihr Glauben tatsächlich identitätsprägend im Sinne vorgenannter Rechtsprechung war. Das Gericht teilt insbesondere die Auffassung des Bundesamtes, dass die von den Klägern genannten Vorfälle im Heimatland vage, wenig konkret und pauschal waren, so dass das Bundesamt damals zu Recht zu dem Ergebnis gekommen sein dürfte, dass ein flüchtlingsschutzrelevanter konkreter individueller Eingriff in die Religionsfreiheit der Kläger ebenso wenig glaubhaft gemacht werden konnte wie der eines ernsthaften Schadens. Zudem waren die Kläger erneut mit Visum in die Bundesrepublik Deutschland eingereist, nachdem sich nach einem Voraufenthalt im Jahr 2012 bei ihren in Deutschland lebenden Kindern wieder in das Herkunftsland begeben hatten. Es ist daher nicht ausgeschlossen, dass die Kläger eigentlich zum Zwecke des Familiennachzugs eingereist waren.
Vorliegend ist jedoch maßgeblich auf den Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung abzustellen (§ 77 Abs. 1 AsylG).
Insbesondere der Kläger zu 1) hat mittlerweile ein bedeutendes Engagement in der Münchner/Neufahrner Ahmadiyya – Gemeinde an den Tag gelegt sowie in der mündlichen Verhandlung überzeugend seine individuellen Glaubensinhalte dargelegt, so dass das Gericht die Überzeugung gewonnen hat, dass es sich bei seiner Person um einen bekennenden Ahmadi handelt, der den Glauben aktiv in einer verfolgungsrelevanten Weise praktiziert und das Bekenntnis aktiv in die Öffentlichkeit trägt. Dies ergibt sich aus Folgendem:
Bereits im vorbereitenden gerichtlichen Verfahren wurden von Klageseite zahlreiche Belege vorgelegt, aus denen sich die Vielfalt und die Regelmäßigkeit der Funktionen des Klägers zu 1) ablesen lassen. Nach der Bescheinigung der Ahmadiyya-Muslim-Jamaat vom 21. Januar 2014 ist der Kläger zu 1) Mußi und hat das Amt Wasiyat und das des Sekretärs Erziehung inne sowie das des Leiters der lokalen Seniorenorganisation; sein Verhalten der Gemeinde gegenüber wird als zufriedenstellend bezeichnet. Von Juni 2013 bis Dezember 2014 war er Leiter der Ansarullah, der Seniorenabteilung der Gemeinde, nunmehr ist er u. a. für die Bildung und Koranlehre innerhalb der Seniorenorganisation zuständig. Der Kläger hat weiter glaubhaft dargelegt, regelmäßig die Gebetsveranstaltungen zu besuchen und an den Monatsversammlungen teilzunehmen, ebenso an den Jahresversammlungen, und regelmäßig in der Moschee anzutreffen zu sein. Hinzukommen zahlreiche im Einzelnen belegte Aktivitäten im näheren und weiteren Umkreis. Der Kläger zu 1) hat dies in der mündlichen Verhandlung in glaubhafter und überzeugender Weise bekräftigt. Er hat zudem erläutert, was es für ihn bedeute, ein Wasiyyat abgegeben zu haben.
Im Fall der Klägerin zu 2) wurde schriftsätzlich und vor allem in der mündlichen Verhandlung persönlich dargetan, dass sie aktuell seit August 2015 Sekretärin für Erziehung sei und damit die Mitglieder an das regelmäßige Beten, das Lesen des Korans und an das Verfolgen der Freitagsansprache des Kalifen erinnere. Sie unterstütze auch die lokale Präsidentin der Frauen.
Nachdem auch die Klägerin zu 2) in der mündlichen Verhandlung in überzeugender Weise die individuellen Glaubensinhalte dargelegt hat sowie die Gründe des bekennenden Lebens des Glaubens, geht das Gericht auch für die Klägerin zu 2) von einem bekennenden Ahmadiyya – Glaubensmitglied im Sinne vorgenannter Rechtsprechung aus, auch wenn es sich hierbei um einen Grenzfall handeln mag.
Einem seinem Glauben innerlich verbundenen Ahmadi, zu dessen verpflichtender Überzeugung es gehört, den Glauben auch in der Öffentlichkeit zu leben und diesen in die Öffentlichkeit zu tragen und ggfs. auch zu werben oder zu missionieren, steht auch kein interner Schutz im Sinne des § 4 Abs. 3 Satz 1, § 3e AsylG offen, d. h. es gibt keinen Landesteil, in dem er in zumutbarer Weise und ungefährdet seinen Glauben öffentlich leben kann (vgl. VGH Baden-Württemberg, U. v. 12.6.2013 – A 11 S 757/13; VG Augsburg, U. v. 9.2.2015 – Au 6 K 14.30276 – jeweils juris).
Nach alledem war der Klage im Hauptantrag stattzugeben und dementsprechend der entgegen stehende Bescheid der Beklagte in dessen Nummern 3 und 4 aufzuheben. Auf den Hilfsantrag war daher nicht mehr einzugehen.
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung stützt sich auf § 167 Abs. 1 und 2 VwGO i. V. m. §§ 708 ff. ZPO.


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