Verwaltungsrecht

Isolierte Aufhebung einer lebensmittelrechtlichen Anordnung der sofortigen Vollziehung

Aktenzeichen  20 CS 21.1592

Datum:
6.9.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 27771
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO § 80 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 4, Abs. 3 S. 1, § 146 Abs. 4
LFGB § 39 Abs. 2, Abs. 7

 

Leitsatz

1. Die Anordnung der sofortigen Vollziehbarkeit ist aufzuheben, wenn deren Begründung gerade nicht erkennen lässt, dass sich die anordnende Behörde besonderer Umstände des Einzelfalls bewusst war, die ein Abweichen vom Grundsatz des § 80 Abs. 1 VwGO rechtfertigen können (Rn. 2 – 4). (redaktioneller Leitsatz)
2.  Aus der Wertung des Gesetzgebers, der in § 39 Abs. 7 LFGB für Verstöße, die die menschliche Gesundheit schädigen können, die gesetzliche Anordnung der sofortigen Vollziehbarkeit lebensmittelrechtlicher Anordnungen nach § 80 Abs. 2 Nr. 3 VwGO wegen der Gefährdung der hochrangigen Rechtsgüter Leben und Gesundheit vorsieht, folgt gleichzeitig, dass der Verweis auf betroffene Verbraucherschutzinteressen nicht im Wege eines Quasi-Automatismus dem Begründungserfordernis für den Einzelfall genügen kann, wenn das Verbraucherschutzinteresse gerade nicht in einem Schutz vor Gefahren für Leben und Gesundheit besteht (Rn. 5). (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

W 8 S 21.477 2021-05-07 Bes VGWUERZBURG VG Würzburg

Tenor

I. Der Beschluss des Bayerischen Verwaltungsgerichts Würzburg vom 7. Mai 2021 wird in Ziffern I. und II. geändert. Die Anordnung der sofortigen Vollziehbarkeit in Ziffer 3. des Bescheides des Landratsamts Würzburg vom 19. März 2021 wird aufgehoben.
II. Die Kosten des Verfahrens trägt in beiden Rechtszügen der Antragsgegner.
III. Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 2.500,00 EUR festgesetzt.

Gründe

Die Beschwerde ist zulässig und begründet.
1. Die Begründung der sofortigen Vollziehbarkeit der lebensmittelrechtlichen Anordnungen entspricht nicht den Anforderungen an die Begründungspflicht nach § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO und war allein deshalb aufzuheben (BVerwG, B.v. 18.9.2001 – 1 DB 26.01 – BeckRS 2001, 31351544 m.w.N.; vgl. zum Meinungsbild Buchheister in Wysk, VwGO, Stand August 2020, § 80 Rn. 62; Schoch in Schoch/Schneider, VwGO, Stand Februar 2021, § 80 Rn. 442). Das Verwaltungsgericht ist zu Unrecht davon ausgegangen, dass den Erfordernissen des § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO im streitgegenständlichen Bescheid Rechnung getragen wurde. Die Beschwerdebegründung hat diesen Mangel auch in einer den Anforderungen des § 146 Abs. 4 Satz 3 VwGO entsprechenden Weise dargelegt, so dass der Prüfungsrahmen des § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO eröffnet ist.
In den Fällen des § 80 Abs. 2 Nr. 4 VwGO hat die Behörde die Anordnung der sofortigen Vollziehbarkeit nach § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO besonders zu begründen. Dabei rechtfertigt allein das öffentliche Interesse an der Vollziehung des Verwaltungsaktes – hier der Anordnungen in Ziffer 1 des streitgegenständlichen Bescheides – regelmäßig nicht die Anordnung des Sofortvollzugs nach § 80 Abs. 2 Nr. 4 VwGO. Der Eintritt der aufschiebenden Wirkung von Widerspruch und Anfechtungsklage nach § 80 Abs. 1 VwGO ist der gesetzliche Regelfall, auch wenn stets ein öffentliches Interesse an der Vollziehung eines (rechtmäßigen) Verwaltungsaktes besteht. Da es sich bei der behördlichen Anordnung der sofortigen Vollziehbarkeit nach der Wertung des Gesetzgebers um einen Ausnahmefall handelt, muss neben das ohnehin bestehende öffentliche Interesse an der Vollziehung des Verwaltungsaktes (Erlassinteresse) ein besonderes Vollzugsinteresse treten, das das Absehen vom Regelfall der aufschiebenden Wirkung und die Befugnis der Behörde, einen Verwaltungsakt auch schon vor Eintritt der Bestandskraft zwangsweise durchzusetzen (Art. 19 Abs. 1 Nr. 2 und 3 VwZVG, § 6 Abs. 1 VwVG) zu rechtfertigen vermag (zu den materiellen Anforderungen an das Dringlichkeitsinteresse vgl. BayVGH, B.v. 28.8.2020 – 12 CS 20.1750 – juris Rn. 42 ff.). Diesem Erfordernis trägt § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO Rechnung. Die Behörde muss sich der besonderen Ausnahmesituation bewusst werden und deshalb das besondere Vollzugsinteresse begründen, wenn sie vom Regelfall abweicht und die sofortige Vollziehung anordnet. Die Norm dient darüber hinaus dem Rechtsschutz des Betroffenen, der ausgehend von der Begründung die Erfolgsaussichten eines Rechtsbehelfs besser einschätzen können soll (Hoppe in Eyermann, VwGO, 15. Auflage 2019, § 80 Rn. 54). Zwar kommt es zur Erfüllung der Voraussetzungen des § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO nicht darauf an, ob die gegebene Begründung inhaltlich richtig und geeignet ist, das besondere dringliche Interesse an der sofortigen Vollziehung zu rechtfertigen. Dies ist eine Frage des materiellen Rechts. Nicht ausreichend für das Begründungserfordernis ist aber eine formelhafte, nicht auf den konkreten Einzelfall bezogene Begründung, da daran nicht erkenntlich wird, ob und aus welchen Gründen die Behörde vom Vorliegen eines Ausnahmefalls ausgegangen ist, der ein Abweichen vom Grundsatz des § 80 Abs. 1 VwGO rechtfertigen kann (Hoppe in Eyermann, a.a.O., § 80 Rn. 55).
Den dargestellten Anforderungen genügt die Begründung der Ziffer 3 des angefochtenen Bescheides nicht. Die Begründung lässt gerade nicht erkennen, dass sich die anordnende Behörde besonderer Umstände des Einzelfalls bewusst war, die die Anordnung des Sofortvollzugs rechtfertigen können. Vielmehr hat sie eine allgemeine, grundsätzlich für alle lebensmittelrechtlichen Verfahren verwendbare Begründung im Erscheinungsbild eines Textbausteins gewählt, in welchem im Einzelfall lediglich der Bescheidsadressat ausgewechselt wird. Es wird weder im konkret zu entscheidenden Fall ein besonderes öffentliches Vollzugsinteresse, noch ein dagegenstehendes, wegen eines Überwiegen des öffentlichen Vollzugsinteresses aber zurücktretendes Suspensivinteresse des Antragstellers genannt. Vielmehr wird auf Seiten des öffentlichen Interesses lediglich floskelhaft auf „die dem Schutz der Verbraucher und der menschlichen Gesundheit dienenden Vorschriften für Betriebe, in denen Lebensmittel hergestellt, behandelt oder in den Verkehr gebracht werden“ abgestellt.
Zwar können sich die Anforderungen an die Begründung des Sofortvollzugs, insbesondere hinsichtlich der Darlegung des überwiegenden öffentlichen Interesses, im Einzelfall dann reduzieren, wenn der Gesetzeszweck ohne Anordnung der Vollziehung überhaupt nicht erreichbar ist (zum Fahrerlaubnisrecht Hoppe in Eyermann, a.a.O. § 80 Rn. 46), was sich in erster Linie aus dem Rang der durch die Anordnung zu schützenden Rechtsgüter ergibt. Je höher diese einzustufen sind und je geringer die anderweitigen Einflussmöglichkeiten auf die Gefahrenquelle sind, desto geringere Anforderungen sind an eine Begründung für den konkreten Einzelfall zu stellen. Aus dem lebensmittelrechtlichen Normgefüge ergibt sich jedoch nicht für jede Fallkonstellation, dass den betroffenen Rechtsgütern ein so hoher Rang zukäme, dass das besondere Sofortvollzugsstets mit dem Erlassinteresse identisch wäre. Das Lebensmittelrecht differenziert unter dem Oberbegriff des Verbraucherschutzes durchaus: Die gesetzliche Anordnung der sofortigen Vollziehbarkeit lebensmittelrechtlicher Anordnungen nach § 80 Abs. 2 Nr. 3 VwGO findet sich in § 39 Abs. 7 LFGB für Verstöße, die die menschliche Gesundheit schädigen können, wegen der Gefährdung der hochrangigen Rechtsgüter Leben und Gesundheit. Aus dieser Wertung des Gesetzgebers folgt nach Auffassung des Senats gleichzeitig, dass der Verweis auf betroffene Verbraucherschutzinteressen nicht im Wege eines Quasi-Automatismus dem Begründungserfordernis für den Einzelfall genügt, wenn das Verbraucherschutzinteresse – wie hier – gerade nicht in einem Schutz vor Gefahren für Leben und Gesundheit besteht. Anderenfalls würde die Entscheidung des Gesetzgebers für den Eintritt der aufschiebenden Wirkung eines Rechtsbehelfs – außer in den Fällen einer Gefährdung von Leben und Gesundheit – letztlich von der Exekutive regelhaft korrigiert bzw. umgangen (vgl. auch Hoppe in Eyermann, a.a.O., § 80 Rn. 46 a.E.). Vorliegend steht ein Verstoß gegen das Verbot der Verwendung krankheitsbezogener Angaben nach Art. 7 Abs. 3, 4 Buchst. a) der Verordnung (EU) Nr. 1169/2011 (Lebensmittelinformationsverordnung – LMIV), der Verstoß gegen Kennzeichnungspflichten nach § 4 Abs. 2 Nrn. 3, 4 und 5 und nach § 4 Abs. 3 Nr. 2 Nahrungsergänzungsmittelverordnung (NemV) und gegen die Vorgaben der Art. 3, 10, 13 VO (EG) Nr. 1924/2006 (HCVO) im Zentrum der Anordnung, für die ein gesetzlicher Sofortvollzug nach § 39 Abs. 7 LFGB nicht vorgesehen ist. Dass sie im konkreten Einzelfall von Gefahren für die menschliche Gesundheit ausgeht, lässt sich der behördlichen Begründung des Sofortvollzugs gerade nicht entnehmen.
Der Senat ist nicht befugt, die Begründung der Anordnung der sofortigen Vollziehung auszuwechseln oder abzuändern. Es kann hier dahingestellt bleiben, ob und gegebenenfalls bis zu welchem Zeitpunkt eine Begründung von der Behörde ergänzt oder ersetzt werden kann. Selbst wenn das Nachholen einer formgerechten Begründung im Beschwerdeverfahren zulässig sein sollte, wäre der Begründungsmangel hier nicht geheilt. Die in den Stellungnahmen des Landratsamtes vom 20. April 2021 und der Landesanwaltschaft vom 6. August 2021 enthaltenen Erwägungen begründen den Ausschluss der aufschiebenden Wirkung nicht bezogen auf den Einzelfall. Wegen des Begründungsmangels ist der Beschluss des Verwaltungsgerichts im tenorierten Umfang abzuändern sowie die Anordnung der sofortigen Vollziehbarkeit in Ziffer 3 des streitgegenständlichen Bescheides aufzuheben. Dies hindert die Behörde jedoch nicht, die sofortige Vollziehung unter den Voraussetzungen des § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO und mit zureichender Begründung erneut anzuordnen (vgl. BVerwG, B.v. 18.9.2001 – 1 DB 26.01 – juris Rn. 9 m.w.N.).
2. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.
3. Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 47 Abs. 1 Satz 1, 53 Abs. 2 Nr. 2, 52 Abs. 2 GKG i.V.m. Ziffer 1.5 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit. Mangels entgegenstehender Anhaltspunkte war der Streitwert der Hauptsache nach § 52 Abs. 2 GKG für das Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes zu halbieren.
Dieser Beschluss ist nach § 152 Abs. 1 VwGO, §§ 68 Abs. 1 Satz 5, 66 Abs. 3 Satz 3 GKG unanfechtbar.


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