Verwaltungsrecht

Kein Abschiebungsverbot aus Art. 8 EMRK wegen Eingriffs in das Privatleben

Aktenzeichen  M 10 E 16.1310

Datum:
31.8.2016
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AufenthG AufenthG § 11 Abs. 1, § 60a Abs. 2
EMRK EMRK Art. 8
GG GG Art. 6

 

Leitsatz

Eine Aufenthaltsbeendigung kann einen konventionswidrigen Eingriff in das “Privatleben” iSd Art. 8 Abs. 1 EMRK darstellen, wenn der Ausländer wegen seines (längeren) Aufenthalts über so starke persönliche, soziale und wirtschaftliche Kontakte zum Aufnahmestaat verfügt, dass er aufgrund der Gesamtentwicklung “faktisch zu einem Inländer” geworden ist, dem wegen der Besonderheiten seines Falles ein Leben in dem Staat seiner Staatsangehörigkeit, zu dem er keinen Bezug (mehr) hat, schlechterdings nicht zugemutet werden kann (ebenso OVG Saarl BeckRS 2008, 34809). (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I.
Der Antrag wird abgelehnt.
II.
Der Antragsteller hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III.
Der Streitwert wird auf 1.250,- Euro festgesetzt.

Gründe

I.
Der Antragsteller wendet sich gegen die Ausreiseaufforderung und Abschiebungsandrohung des Antragsgegners.
Der am … September 1980 in … geborene Antragsteller wuchs bis zu seinem zehnten Lebensjahr bei der Familie seines Onkels in Bosnien auf. Der Vater des Antragstellers ist wohl in den Kriegswirren in Bosnien ums Leben gekommen. Im August 1990 zog der Antragsteller zu seiner Mutter nach … und wurde bereits als Jugendlicher massiv straffällig. Er wurde mehrfach wegen (gemeinschaftlichen) Diebstahls und schließlich am 4. November 1998 vom Amtsgericht Rosenheim – Jugend- und Schöffengericht – zu 2 Jahren Jugendstrafe wegen Wohnungseinbruchsdiebstahls verurteilt. Im Rahmen seiner Unterbringung im Jugendhilfezentrum … absolvierte der Antragsteller auf der Förderschule den Hauptschulabschluss und begann im August 1997 im Ausbildungsbereich des Jugendhilfezentrums eine Berufsausbildung als Maler und Lackierer, die er jedoch bereits sieben Monate später wieder abbrach.
Aufgrund der Vielzahl der Straftaten, auch schon im strafunmündigen Alter, wurde der Antragsteller mit Bescheid vom 27. April 1999 von der Ausländerbehörde des Landratsamtes … unbefristet ausgewiesen. Wegen rechtlicher Abschiebungshindernisse und der ungeklärten Staatsangehörigkeit wurde der Antragsteller zunächst weiterhin geduldet.
Am 25. Juli 2001 wurde der Antragsteller vom Landgericht Traunstein unter Einbeziehung früherer Urteile wegen schwerer räuberischer Erpressung, gefährlicher Körperverletzung, versuchten schweren Raubs und vielfachen Wohnungseinbruchsdiebstahls zu einer Jugendstrafe von 4 Jahren und 3 Monaten verurteilt. Eine weitere Verurteilung durch das Landgericht Traunstein erfolgte am 11. April 2004 zu einer Freiheitsstrafe von 6 Jahren wegen Bandendiebstahls.
Im Laufe des Jahres 2008 wurde in Zusammenarbeit mit den bosnisch-herzegowinischen Behörden festgestellt, dass der Antragsteller bosnisch-herzegowinischer Staatsangehöriger ist. Nachdem ihm für die Ausreise nach Bosnien-Herzegowina ein Heimreiseschein ausgestellt wurde, konnte der Antragsteller am 22. Dezember 2008 in sein Heimatland abgeschoben werden.
Der Antragsteller reiste nach eigenen Angaben am 30. September 2009 oder 1. Oktober 2009 unerlaubt wieder in die Bundesrepublik Deutschland ein. Hier hielt er sich zuerst im Bereich … auf, wo er wiederum mehrfach straffällig wurde.
Am 21. März 2010 wurde er nach einem Hinweis einer Mitarbeiterin des Altenheims in …, in dem die Mutter des Antragstellers lebt, durch die PI … aufgrund eines gegen den Antragsteller noch vorliegenden Vollstreckungshaftbefehls der Staatsanwaltschaft … und der Ausschreibung zur Ausweisung/Abschiebung des Ausländeramtes … festgenommen und in die JVA … eingeliefert. Danach wurde er am 25. März 2010 in die JVA … überstellt.
Aufgrund der nach der Einreise im Jahr 2009 begangenen Straftaten wegen Diebstahls in besonders schwerem Fall, zwei Fällen des Wohnungseinbruchsdiebstahls, drei Fällen des versuchten Diebstahls in besonders schwerem Fall, einem Fall des versuchten Wohnungseinbruchsdiebstahls, einem Fall des Diebstahls im schweren Fall und einem Fall des Diebstahls mit Waffen erließ die Staatsanwaltschaft … am 3. Mai 2011 Haftbefehl gegen den Antragsteller und ordnete die Untersuchungshaft an. Das Landgericht Traunstein verurteilte den Antragsteller am 16. April 2012 zu einer Freiheitsstrafe von 4 Jahren.
Am 14. März 2016 wurde der Antragsteller aus der Strafhaft in der JVA … entlassen.
Mit Bescheid vom 9. März 2016 wurde der Antragsteller aufgefordert, innerhalb von sieben Tagen nach der Entlassung aus der Haft im Strafverfahren der Staatsanwaltschaft …, Geschäftszeichen …, aus der Bundesrepublik Deutschland auszureisen (Ziffer 1 des Bescheides). Für den Fall der nicht fristgerechten Ausreise wurde dem Antragsteller die Abschiebung nach Bosnien-Herzegowina oder in einen anderen Staat, in den der Antragsteller einreisen darf oder der zur seiner Rücknahme verpflichtet ist, angedroht (Ziffer 2 des Bescheides).
Zur Begründung des Bescheides wurde ausgeführt, dass der Antragsteller nach § 50 Abs. 1 AufenthG zur Ausreise verpflichtet sei, weil er einen Aufenthaltstitel nicht oder nicht mehr besitze. Ein solcher dürfe dem Antragsteller auch nicht erteilt werden, weil die allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen nicht vorlägen. Die Ausreisepflicht sei nach § 58 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AufenthG vollziehbar, weil der Antragsteller unerlaubt eingereist sei. Der Ausreisepflicht genüge der Antragsteller nur dann, wenn er dauerhaft seinen Aufenthalt in einem anderen Staat nehme. Sollte der Antragsteller seiner Ausreisepflicht bis zum Ablauf der Ausreisefrist nicht nachkommen, werde er abgeschoben. Die Abschiebung hätte im Fall des Antragstellers ein unbefristetes Wiedereinreise- und Aufenthaltsverbot zur Folge. Die Androhung der Abschiebung ergebe sich aus § 59 Abs. 1 AufenthG. Sachverhalte, die ein gesetzliches Verbot der Abschiebung zur Folge hätten, seien nicht bekannt.
Mit Schreiben vom 18. März 2016 hat der Bevollmächtigte des Antragstellers Klage zum Bayerischen Verwaltungsgericht München erhoben und beantragt, den Bescheid des Antragsgegners vom 9. März 2016 aufzuheben und den Antragsgegner zu verurteilen, den Antragsteller zu dulden und diesem Duldungsbescheinigungen auszustellen, in welchen dem Antragssteller die Aufnahme einer unselbstständigen Arbeitstätigkeit gestattet wird.
Gleichzeitig hat der Bevollmächtigte des Antragstellers Eilantrag zum Bayerischen Verwaltungsgericht München erhoben und beantragt,
dem Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung aufzugeben, bis zu einer rechtskräftigen Entscheidung im Klageverfahren des Antragstellers wegen Verbots der Abschiebung nach Bosnien-Herzegowina keine aufenthalts-beendenden Maßnahmen durchzuführen und den Antragsteller insbesondere nicht nach Bosnien-Herzegowina abzuschieben.
Zur Begründung führt er im Wesentlichen aus, dass die im Jahr 2008 erfolgte Abschiebung durch die Regierung … rechtswidrig erfolgt sei. Der Antragsteller sei anschließend wieder illegal nach Deutschland zurückgekehrt, weil er kein bosnischer Staatsangehöriger sei. Das Landratsamt … habe bereits einmal am 13. Februar 2001 versucht, den Antragsteller nach Bosnien-Herzegowina abzuschieben. Auf Bl. 359 der Akte finde sich die Mitteilung der Regierung …, dass die bosnischen Behörden die angebliche bosnische Staatsangehörigkeit des Antragstellers nicht bejaht hätten. Der Antragsteller verfüge nicht über die bosnische, die mazedonische, die montenegrinische und auch nicht über die serbische Staatsangehörigkeit, so dass sich der derzeitige Abschiebungsversuch durch den Antragsgegner schon deshalb als rechtswidrig erweise, weil dieser wissen müsse, dass es dem Antragsteller an sämtlichen dieser Staatsangehörigkeiten fehle. Dennoch betreibe der Antragsgegner die Abschiebung des Antragstellers nach Bosnien-Herzegowina. Nachdem sich der in … geborene Antragsteller seit zwischenzeitlich 35 Jahren in Deutschland aufhalte und faktischer Inländer sei, scheide eine Aufenthaltsbeendigung aus den genannten Gründen aus. Der Antragsteller sei nicht in der Lage nachzuweisen, dass er Staatsangehöriger eines der oben genannten Staaten oder auch eines weiteren Drittstaates sei. Er sei deshalb nicht in der Lage, aus Deutschland auszureisen. Ein Anordnungsgrund sei gegeben, da der Antragsgegner derzeit die Abschiebung des Antragstellers vorbereite.
Der Antragsgegner beantragt,
den Antrag abzulehnen.
Zur Begründung wird im Wesentlichen ausgeführt, dass die am 27. April 1999 gegen den Antragsteller erlassene Ausweisungsverfügung – unanfechtbar seit dem 5. Dezember 2000 – nach wie vor Bestand habe. Nach § 50 Abs. 1 AufenthG sei der Antragsteller zur Ausreise verpflichtet. Die Ausreisepflicht sei nach § 58 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AufenthG vollziehbar, weil der Antragsteller unerlaubt eingereist sei. Tatbestände für eine gesetzliche Befreiung von der Aufenthaltstitelpflicht seien nicht erfüllt. Der Antragsteller sei nachweislich Staatsangehöriger von Bosnien-Herzegowina. Als Beweismittel lägen bosnisch-herzegowinische Dokumente (Bl. 659 + 660) sowie ein Personalausweis, ausgestellt in … am 9. Januar 2009, gültig bis zum 7. Januar 2019, vor.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichts- bzw. die vorgelegten Behördenakten verwiesen.
II.
Der zulässige Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gemäß § 123 VwGO hat keinen Erfolg. Der Antragsteller hat keinen nach § 123 VwGO erforderlichen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht (§ 123 Abs. 3 VwGO i. V. m. § 920 ZPO).
Nach § 123 Abs. 1 Satz 1 VwGO kann das Gericht auch schon vor Klageerhebung auf Antrag eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustandes die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte (sog. Sicherungsanordnung), oder auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes, vor allem bei dauernden Rechtsverhältnissen, wenn dies nötig erscheint, um wesentliche Nachteile für den Antragsteller abzuwenden (sog. Regelungsanordnung). Wesentliche Nachteile sind dabei u. a. wesentliche rechtliche, wirtschaftliche oder ideelle Nachteile, die der Antragsteller in Kauf nehmen müsste, wenn er das Recht im langwierigen Hauptsacheprozess erstreiten müsste (vgl. Eyermann, VwGO, 14. Aufl. 2014, § 123, Rn. 23). Nach § 123 Abs. 3 VwGO i. V. m. § 920 Abs. 2, § 294 Abs. 1 ZPO sind dabei sowohl ein Anordnungsanspruch, d. h. der materielle Grund, für den der Antragsteller vorläufig Rechtsschutz sucht, als auch ein Anordnungsgrund, der insbesondere durch die Eilbedürftigkeit der Regelung begründet wird, glaubhaft zu machen. Maßgebend sind dabei die tatsächlichen und rechtlichen Verhältnisse im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung.
Der Erlass einer einstweiligen Anordnung ist dabei nicht nur dann geboten, wenn mit zweifelsfreier Sicherheit feststeht, dass das materielle Recht besteht, dessen Sicherung der Antragsteller im Fall des § 123 Abs. 1 Satz 1 VwGO erstrebt oder auf das er eine Regelung im Sinn von § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO erreichen will. Es genügt vielmehr, dass die überwiegende Wahrscheinlichkeit für das Bestehen dieses Rechts spricht, so dass der Rechtsschutzsuchende in der Hauptsache voraussichtlich obsiegen würde (vgl. BayVGH, B.v. 16.8.2010 – 11 CE 10.262 – juris Rn. 20 m. w. N.).
Grundsätzlich darf dabei im Eilverfahren die Hauptsache nicht vorweggenommen werden; das Gericht darf im Grundsatz die Lage nur offen halten, um zu vermeiden, dass das Recht bis zu einer Klärung im Hauptsacheprozess untergeht oder seine Durchsetzung wegen des Zeitablaufs mit wesentlichen Nachteilen verbunden ist (vgl. Eyermann, § 123, Rn. 66 a). Eine Vorwegnahme der Hauptsache ist aber dann möglich, wenn es zur Gewährung effektiven Rechtsschutzes schlechterdings notwendig ist bzw. wenn der Antragsteller eine Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr rechtzeitig erwirken kann und sein Begehren schon aufgrund der im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes anzustellenden summarischen Prüfung der Erfolgsaussichten bei Anlegung eines strengen Maßstabs erkennbar Erfolg haben muss (vgl. BVerwG, B.v. 13.8.1999 – 2 VR 1/99 – juris 1. Leitsatz).
Zwar ist trotz des Umstandes, dass ein konkreter Abschiebungstermin noch nicht feststeht, wegen des Hinweises des Antragsgegners auf die in naher Zukunft beabsichtigte bzw. jedenfalls nicht auszuschließende Abschiebung des Antragstellers wohl ein Anordnungsgrund gegeben, jedoch liegt kein Anordnungsanspruch vor.
1. Gemäß § 58 Abs. 1 AufenthG ist ein Ausländer abzuschieben, wenn die Ausreisepflicht vollziehbar und die freiwillige Erfüllung der Ausreisepflicht nicht gesichert ist. Diese Voraussetzungen liegen für den Antragsteller vor.
Der Antragsteller ist aufgrund der bestandskräftigen Ausweisungsverfügung vom 27. April 1999 seit fast 16 Jahren vollziehbar ausreisepflichtig.
Aufgrund der Sperrwirkung des § 11 Abs. 1 AufenthG hat der Antragsteller keinen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis.
2. Dem Antragsteller steht auch kein Anspruch auf eine vorübergehende Aussetzung der Abschiebung (Duldung) nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG zu.
Danach ist die Abschiebung eines Ausländers auszusetzen, solange die Abschiebung aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen unmöglich ist und keine Aufenthaltserlaubnis erteilt wird. Die Abschiebung des Antragstellers nach Bosnien-Herzegowina ist aber weder tatsächlich noch rechtlich unmöglich.
a. Tatsächliche Abschiebehindernisse liegen nicht vor. Der bosnisch-herzegowinische Personalausweis des Antragstellers, der bis zum 7. Januar 2019 gültig ist, befindet sich bei den Behördenakten wie auch eine entsprechende Geburtsurkunde (Bl. 660 der Behördenakte). Bereits für die Abschiebung des Antragstellers am 22. Dezember 2008 hatten die bosnisch-herzegowinischen Behörden eine Rückübernahmezusicherung ausgestellt (Bl. 658, 681 der Behördenakte).
Eine tatsächliche Unmöglichkeit der Abschiebung kann nur bei fortdauernder Passlosigkeit des Antragstellers angenommen werden, wenn nach den Erfahrungen der Ausländerbehörde die Abschiebung ohne Pass oder Passersatz nicht möglich ist oder ein Abschiebungsversuch gescheitert ist (vgl. Hailbronner, Ausländerrecht, Stand: April 2016, § 60a AufenthG Rn. 50 f., 56). Auch aus dem vom Bevollmächtigten des Antragstellers zitierten Schreiben der Regierung … (Bl. 359 der Behördenakte) ergibt sich lediglich, dass die bosnisch-herzegowinischen Behörden das Feststellungsverfahren bezüglich der Staatsangehörigkeit des Antragstellers nochmals prüfen werden, wenn entsprechende vor dem Krieg in Bosnien ausgestellte Personaldokumente vorgelegt werden.
Tatsächliche Abschiebehindernisse sind daher nicht ersichtlich.
b. Ein rechtliches Abschiebehindernis ergibt sich für den Antragsteller nicht aus Art. 6 GG, 8 EMRK, weil durch seine Abschiebung der Schutz von Ehe und Familie sowie des Privat- und Familienlebens nach Art. 6 Abs. 1 und 2 GG und Art. 8 Abs. 1 EMRK in unverhältnismäßiger Weise beeinträchtigt würde.
Die Rückkehr in sein Heimatland ist dem Antragsteller vielmehr auch unter Berücksichtigung des Grundrechts auf Schutz der Familie nach Art. 6 Abs. 1 GG und auf das Recht auf Familienleben nach Art. 8 Abs. 1 EMRK zumutbar. Art. 6 GG gewährt keinen unmittelbaren Anspruch auf Einreise und Aufenthalt im Bundesgebiet. Allerdings verpflichtet die in Art. 6 Abs. 1 GG enthaltene wertentscheidende Grundsatznorm, nach der der Staat die Familie zu schützen und zu fördern hat, die Ausländerbehörde bei der Entscheidung über ein Aufenthaltsbegehren, die bestehenden familiären Bindungen des Ausländers an Personen, die sich berechtigterweise im Bundesgebiet aufhalten, zu berücksichtigen und entsprechend dem Gewicht dieser Bindungen in ihren Erwägungen zur Geltung zu bringen. Dieser verfassungsrechtlichen Pflicht des Staates zum Schutz der Familie entspricht der Anspruch des Trägers des Grundrechts aus Art. 6 GG darauf, dass die zuständigen Behörden und Gerichte bei der Entscheidung über das Aufenthaltsbegehren seine familiären Bindungen an im Bundesgebiet lebende Personen angemessen berücksichtigen (vgl. BVerfG, B.v. 10.5.2008 – 2 BvR 588/08 – juris Rn. 11 m. w. N.). Ebenso ist nach Art. 8 EMRK bei aufenthaltsbeendenden Maßnahmen die familiäre Situation des Ausländers zu berücksichtigen (vgl. EGMR, U.v. 2.8.2001 – Boultif, Nr. 54273/00 – InfAuslR 2001, 476/478). Das von diesen Bestimmungen u. a. geschützte Recht auf Achtung des Privatlebens umfasst, auch soweit es keinen familiären Bezug hat, die Summe der persönlichen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Beziehungen, die für das Privatleben eines jeden Menschen konstitutiv sind und denen – angesichts der zentralen Bedeutung dieser Bindungen für die Entfaltung der Persönlichkeit eines Menschen – bei fortschreitender Dauer des Aufenthalts wachsende Bedeutung zukommt (vgl. BVerwG, U.v. 27.1.2009 – 1 C 40.07 – juris Rn. 21; BVerfG, B.v. 10.5.2007 – 2 BvR 304/07 – juris Rn. 33).
Ein Bleibeanspruch auf der Grundlage dieser Bestimmung erfordert jedenfalls eine abgeschlossene „gelungene“ Integration in die Lebensverhältnisse in Deutschland, die nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (z. B. EGMR, U.v. 23.6.2008 – 1638/03 – Maslov – InfAuslR 2008, 333) Grundvoraussetzung für die Annahme eines rechtlichen Abschiebungshindernisses auf der Grundlage des Art. 8 Abs. 1 EMRK ist und von der nicht bereits deswegen ausgegangen werden kann, weil sich der Betroffene eine bestimmte, auch längere Zeit im Aufnahmeland aufgehalten hat. Eine Aufenthaltsbeendigung kann vielmehr nur dann einen konventionswidrigen Eingriff in das „Privatleben“ im Verständnis des Art. 8 Abs. 1 EMRK darstellen, wenn der Ausländer wegen seines (längeren) Aufenthalts über so starke persönliche, soziale und wirtschaftliche Kontakte zum Aufnahmestaat verfügt, dass er aufgrund der Gesamtentwicklung „faktisch zu einem Inländer“ geworden ist, dem wegen der Besonderheiten seines Falles ein Leben in dem Staat seiner Staatsangehörigkeit, zu dem er keinen Bezug (mehr) hat, schlechterdings nicht zugemutet werden kann (vgl. OVG Saarl, B.v. 30.4.2008 – 2 B 214/08 juris Rn. 11).
Nach diesen Maßstäben hat der Antragsteller keinen Anspruch auf die Erteilung einer Duldung nach § 60a Abs. 2 AufenthG.
Schutzwürdige familiäre Bindungen hat der Beschwerdeführer nicht dargelegt. Zwar lebt die Mutter des Antragstellers im Bundesgebiet in einem Pflegeheim. Auf die familiären Bindungen des Antragstellers zu dieser kommt es jedoch aufgrund des Alters des Antragstellers nicht entscheidungserheblich an. Er kann telefonisch zu ihr Kontakt halten. Diese ist nicht auf den Beistand des Antragstellers angewiesen. Der Antragsteller ist auch weder im Bundesgebiet verheiratet noch hat er Kinder, mit denen er im Bundesgebiet in familiärer Lebensgemeinschaft lebt.
Ein Privatleben, das den Schutzbereich der Vorschrift des Art. 8 EMRK eröffnet, kommt grundsätzlich nur auf der Grundlage eines rechtmäßigen Aufenthalts und eines schutzwürdigen Vertrauens auf seinen Fortbestand in Betracht. Da dem Antragsteller nach seiner bestandskräftigen Ausweisung ab dem 5. Dezember 2000 ausschließlich Duldungen erteilt worden sind, wurde ihm zu keiner Zeit ein Aufenthaltsrecht eingeräumt, das ein berechtigtes Vertrauen auf Fortbestand hätte begründen können (vgl. BVerwG, U. v. 26.10.2010 – 1 C 18/09 – juris Rn. 14). Selbst wenn man zugunsten des Antragstellers unterstellt, dass die Beendigung des Aufenthalts in seine Rechte aus Art. 8 Abs. 1 EMRK eingreifen würde, wäre der Eingriff gerechtfertigt (Art. 8 Abs. 2 EMRK). Der Antragsteller hat zwar in Deutschland den Hauptschulabschluss erworben und eine Ausbildung zum Maler und Lackierer begonnen. Allerdings hat es der Antragsteller nicht geschafft, ein straffreies Leben zu führen, sondern sein Lebensweg ist von häufiger, auch schwerer Straffälligkeit gekennzeichnet. Er hat daher kontinuierlich schon im jugendlichen Alter durch verschiedene, auch schwere Straftaten, wie vor allem Eigentumsdelikte, die deutsche Rechtsordnung missachtet. Die Ausbildung hat er bereits nach sieben Monaten wieder abgebrochen. Einer geregelten Arbeit ist der Antragsteller seither zu keinem Zeitpunkt nachgegangen. Auch seine Ausweisung aus dem Bundesgebiet hatte für den Antragsteller offensichtlich keine einschneidende Wirkung. Nach der illegalen Wiedereinreise wurde er vielmehr immer wieder straffällig. Nach alledem verfügt der Antragsteller über keine starken sozialen und wirtschaftlichen Bindungen im Sinne qualitativer Integrationsleistungen, welche er ausschließlich im Bundesgebiet leben könnte. Eine nennenswerte Verwurzelung des Antragstellers konnte in der Bundesrepublik nicht stattfinden.
Dem Antragsteller ist auch sein Heimatland nicht gänzlich unbekannt. Er hat dort die ersten zehn Jahre seines Lebens bei der Familie seines Onkels verbracht und auch einige, wenn auch kurze, Zeit nach seiner Abschiebung gelebt, spricht die Sprache seines Herkunftslandes, gibt an, sich als Bosnier zu fühlen und spricht auch von Bosnien als seinem Zuhause, wo seine Verwandtschaft lebt (vgl. Bl. 396 f. der Behördenakte). Es ist daher anzunehmen, dass ihm die Lebensgewohnheiten in Bosnien-Herzegowina vertraut sind. Zumindest in der ersten Zeit nach seiner Rückkehr kann er auch die Hilfe seiner Familie in Anspruch nehmen.
2. Auch eine Duldung im Ermessensweg nach § 60a Abs. 2 Satz 3 AufenthG kommt nicht in Betracht. Dringende humanitäre oder persönliche Gründe im Sinne des § 60a Abs. 2 Satz 3 AufenthG für eine Ermessensduldung wurden vom Antragsteller weder dargelegt, noch sind solche Gründe sonst ersichtlich.
3. Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 53 Abs. 2 Nr. 1, 52 Abs. 1 GKG i. V. m. dem Streitwertkatalog.


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