Verwaltungsrecht

Kein Anspruch auf Zuerkennung internationalen Schutzes oder Feststellung eines Abschiebungsverbots für afghanischen Staatsangehörigen

Aktenzeichen  M 17 K 17.31325

Datum:
23.5.2017
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG AsylG § 3, § 3e, § 4 Abs. 1 S. 2 Nr. 3, Abs. 3 S. 1
AufenthG AufenthG § 60 Abs. 5, Abs. 7 S. 1
EMRK EMRK Art. 3

 

Leitsatz

1. Grundsätzlich bieten afghanische Großstädte aufgrund ihrer Anonymität arbeitsfähigen jungen Männern eine inländische Fluchtalternative. (Rn. 19 – 22) (redaktioneller Leitsatz)
2. Arbeitsfähige gesunde junge Männer sind auch ohne besondere Qualifikation, nennenswertes Vermögen und familiären Rückhalt in der Lage, in Afghanistan ein Leben am Rand des Existenzminimums zu bestreiten, zumal, wenn es sich um Rückkehrer aus dem Westen handelt. Für sie besteht daher keine extreme Gefahrenlage. (Rn. 45 und 48) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.

Gründe

Über den Rechtsstreit konnte aufgrund der mündlichen Verhandlung am 19. Mai 2017 entschieden werden, obwohl die Beklagtenseite nicht erschienen war. Denn in der frist- und formgerechten Ladung zur mündlichen Verhandlung wurde darauf hingewiesen, dass auch im Fall des Nichterscheinens der Beteiligten verhandelt und entschieden werden kann (§ 102 Abs. 2 VwGO).
Die Klage ist zulässig, aber unbegründet, da der angegriffene Bescheid rechtmäßig ist und den Kläger nicht in seinen Rechten verletzt (vgl. § 113 Abs. 1 und 5 VwGO). Das Gericht nimmt insoweit auf die Ausführungen im Bescheid vom 17. Januar 2017 Bezug (§ 77 Abs. 2 AsylG). Ergänzend wird Folgendes ausgeführt:
1. Ein Verfolgungs- oder Lebensschicksal, das die Zuerkennung einer Rechtsstellung als Flüchtling rechtfertigen würde, ist vorliegend aus dem Vortrag des Klägers nicht erkennbar.
1.1 Gemäß § 3 AsylG ist ein Ausländer Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559, 560), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will oder in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will.
Die Furcht vor Verfolgung (§ 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG) ist begründet, wenn dem Ausländer die oben genannten Gefahren aufgrund der in seinem Herkunftsland gegebenen Umstände in Anbetracht seiner individuellen Lage tatsächlich drohen. Der in dem Tatbestandsmerkmal „… aus der begründeten Furcht vor Verfolgung …“ des Art. 2 Buchst. d Richtlinie 2011/95/EU enthaltene Wahrscheinlichkeitsmaßstab, der in § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG übernommen worden ist, orientiert sich an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Er stellt bei der Prüfung des Art. 3 EMRK auf die tatsächliche Gefahr ab („real risk“; vgl. EGMR, Große Kammer, U.v. 28.2.2008 – Nr. 37201/06, Saadi – NVwZ 2008, 1330); das entspricht dem Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (vgl. VG Ansbach, U.v. 28.4.2015 – AN 1 K 14.30761 – juris Rn. 65ff. m.V. auf: BVerwG, U.v. 18.4.1996 – 9 C 77.95, Buchholz 402.240 § 53 AuslG 1990 Nr. 4; B.v. 7.2.2008 – 10 C 33.07, ZAR 2008, 192; U.v. 27.4.2010 – 10 C 5.09, BVerwGE 136, 377; U.v. 1.6.2011 – 10 C 25.10, BVerwGE 140, 22; U.v. 20.2.2013 – 10 C 23.12 – NVwZ 2013, 936).
Dieser Wahrscheinlichkeitsmaßstab setzt voraus, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine „qualifizierende“ Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann (BVerwG, U.v. 20.2.2013 – 10 C 23.12 – NVwZ 2013, 936; U.v. 5.11.1991 – 9 C 118.90, BVerwGE 89, 162).
Das Gericht muss dabei sowohl von der Wahrheit des vom Asylsuchenden behaupteten individuellen Schicksals als auch von der Richtigkeit der Prognose drohender Verfolgung die volle Überzeugung gewinnen. Dem persönlichen Vorbringen des Rechtssuchenden und dessen Würdigung kommt dabei besondere Bedeutung zu. Insbesondere wenn keine weiteren Beweismittel zur Verfügung stehen, ist für die Glaubwürdigkeit auf die Plausibilität des Tatsachenvortrags des Asylsuchenden, die Art seiner Einlassung und seine Persönlichkeit – insbesondere seine Vertrauenswürdigkeit – abzustellen. Der Asylsuchende ist insoweit gehalten, seine Gründe für eine Verfolgung bzw. Gefährdung schlüssig und widerspruchsfrei mit genauen Einzelheiten vorzutragen (vgl. BVerwG, U.v. 12.11.1985 – 9 C 27.85 – juris).
1.2 Diese Voraussetzungen sind hier nicht erfüllt:
Der Kläger beruft sich auf die Ermordung seines Vaters durch die Taliban sowie darauf, dass sich diese bei den Nachbarn über den Kläger und seine Familie erkundigt hätten. Ob insoweit ein Merkmal im Sinne von § 3 AsylG bejaht werden kann, kann letztendlich dahingestellt bleiben, da der Vortrag des Klägers nicht glaubhaft war. Seine Ausführungen waren sowohl vor dem Bundesamt als auch in der mündlichen Verhandlung sehr pauschal und unsubstantiiert, der Kläger antwortete auf einige Fragen nicht direkt und es waren zahlreiche Nachfragen erforderlich. Zudem finden sich mehrere Widersprüche in seinen Aussagen. So gab er bei der Anhörung am … September 2016 an, dass sein Vater 4 bis 5 Monate vor seiner Ausreise umgebracht worden sei. Dem Gericht sagte er demgegenüber, dass dies ein- bis eineinhalb Monate vor seiner Ausreise gewesen sei. Dem Bundesamt erzählte er, dass in Afghanistan noch vier Tanten und „die Onkels“ lebten, während er in der mündlichen Verhandlung von einer Tante und einem Onkel sprach. Ursprünglich gab er an, dass er selbst von den Nachbarn erfahren habe, dass die Taliban über sie Erkundigungen eingezogen hätten. Später äußerte er sich dahingehend, dass die Nachbarn dies seiner Mutter erzählt hätten. Diese Erkundigungen erwähnte er zudem in der mündlichen Verhandlung anfangs trotz mehrfacher Nachfragen des Gerichts mit keinem Wort. Erst nach zweimaligem Vorhalt seiner entsprechenden Aussage beim Bundesamt durch seinen Prozessbevollmächtigten kamen diese Erkundigungen der Taliban – in sehr pauschaler und oberflächlicher Weise – zur Sprache. Hinzu kommt, dass der Kläger als angeblichen Beleg für seine Ausführungen ein Schreiben vorlegte, dass jedoch seinerseits Widersprüche aufweist. So gab der Kläger an, dass es sich um eine Bestätigung handele, die die Mutter erhalten habe, nachdem sie bei der Polizei darum gebeten habe. Der in diesem Schreiben enthaltene Text sei vom Polizeikommandanten verfasst und von seiner Mutter unterschrieben worden. Insofern ist jedoch nicht verständlich, warum in dem Text, der die Bedrohung und Ermordung des Vaters des Klägers schildert, von „mein Vater“ die Rede ist. Hätte der Kommandant den Text verfasst, wäre der Vater des Klägers namentlich genannt worden. Würde der Text dagegen von der Mutter des Klägers stammen, wäre der Begriff „mein Ehemann“ oder Ähnliches verwendet worden. Dies konnte auch der Kläger auf Vorhalt des Gerichts in der mündlichen Verhandlung nicht erklären. Nach alledem ist davon auszugehen, dass, selbst wenn dieses Schreiben echt sein sollte, es sich um ein Gefälligkeitsschreiben für die Familie des Klägers handelt. Außerdem ist laut Dolmetscher das genannte Schreiben nicht datiert und kann auch aus diesem Grund kein Beleg für die Verfolgung des Klägers oder seines Vaters sein.
1.3 Im Übrigen spricht gegen eine flüchtlingsrechtlich relevante Verfolgung des Klägers auch der Umstand, dass dieser selbst nach seinen – nicht glaubhaften (s.o. 1.2) – Ausführungen persönlich keine Verfolgungsmaßnahmen erlitten hat, sondern lediglich Erkundigungen bei den Nachbarn eingeholt worden seien. Anschließend hat der Kläger aber nach seinen Angaben noch einen Monat unbehelligt zu Hause gewohnt.
1.4 Abgesehen davon besteht aber auch z.B. in … oder … aufgrund der Anonymität dieser Großstädte eine inländische Fluchtalternative im Sinne von § 3e AsylG.
Nach dieser Vorschrift wird dem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt, wenn er in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3d AsylG hat und er sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt.
Diese Voraussetzungen sind für den Kläger hinsichtlich … und … erfüllt, da dieser dort aufgrund der Anonymität dieser Großstädte und unter Berücksichtigung der Entfernung zu seinem Heimatort nicht gefunden werden kann, zumal die Gebietsgewalt dort beim afghanischen Staat und nicht bei den Taliban liegt (vgl. a. VG Ansbach, U.v. 13.1.2017 – AN 11 K 15.31065 – juris Rn. 29; Lagebericht des Auswärtigen Amts v. 19.10.2016). Eine Meldepflicht besteht in Afghanistan nicht (vgl. Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan der Bundesrepublik Österreich, Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl Stand 19.12.2016, S. 188; BayVGH, U.v. 20.1.2012 – 13a B 11.30427 – juris Rn. 28; VG Würzburg, U.v. 15.6.2016 – W 2 K 15.30769 – juris Rn. 25; VG Köln, U.v. 6.6.2014 – 14 K 6276/13.A – juris Rn. 42), so dass die Gefahr, dass der Kläger von den Taliban – selbst wenn ihn diese suchen sollten – aufgespürt werden könnte, nicht beachtlich wahrscheinlich ist. Es ist nicht anzunehmen, dass sein Aufenthalt in … und vor allem in der Millionenstadt … bekannt werden würde.
Der junge, gesunde und arbeitsfähige Kläger könnte sich daher in … oder … niederlassen, wo er keiner Verfolgung ausgesetzt wäre und er – gegebenenfalls mit (finanzieller) Hilfe seiner noch in Afghanistan lebenden Verwandten – den Lebensunterhalt für sich verdienen könnte (vgl. BayVGH, B.v. 6.3.2017 – 13a ZB 17.30099 – juris Rn. 12; U.v. 12.2.2015 – 13a B 14.30309 – juris Rn. 20, unter Berufung auf den UNHCR; VG Ansbach, U.v. 13.1.2017 – AN 11 K 15.31065 – juris Rn. 29; s.a. u. 3.1, 3.2).
2. Die Beklagte hat auch zu Recht die Zuerkennung subsidiären Schutzes nach § 4 AsylG abgelehnt.
2.1 Nach § 4 Abs. 1 AsylG ist ein Ausländer subsidiär Schutzberechtigter, wenn er stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht. Als ernsthafter Schaden gilt:
1.die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe,
2.Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung oder
3.eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts.
2.2 Es liegen keine Anhaltspunkte dafür vor, dass dem Kläger in Afghanistan die Todesstrafe, Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung bzw. Bestrafung droht.
a) Wann eine „unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung“ vorliegt, hängt vom Einzelfall ab. Eine Schlechtbehandlung einschließlich Bestrafung muss jedenfalls ein Minimum an Schwere erreichen. Kriterien hierfür sind etwa die Art der Behandlung oder Bestrafung und der Zusammenhang, in dem sie erfolgt, die Art und Weise der Vollstreckung, ihre zeitliche Dauer, ihre physischen und geistigen Wirkungen sowie gegebenenfalls Geschlecht, Alter und Gesundheitszustand des Opfers. Abstrakt formuliert sind darunter Maßnahmen zu verstehen, mit denen unter Missachtung der Menschenwürde absichtlich schwere psychische oder physische Leiden zugefügt werden und mit denen nach Art und Ausmaß besonders schwer und krass gegen Menschenrechte verstoßen wird (vgl. VGH BA, U.v. 6.3.2012 – A 11 S 3070/1 – juris Rn. 16; Hailbronner, Ausländerrecht, § 4 AsylG Rn. 21-27 m.w.N.).
Der Ausländer hat stichhaltige Gründe für die Annahme darzulegen, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht. Der Maßstab der stichhaltigen Gründe entspricht dabei dem Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit, wobei das Element der Konkretheit der Gefahr das zusätzliche Erfordernis einer einzelfallbezogenen, individuell bestimmten und erheblichen Gefährdungssituation kennzeichnet. Bei qualifizierender Betrachtungsweise, d.h. bei einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung, müssen die für die Rechtsgutverletzung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht haben und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Die in diesem Sinne erforderliche Abwägung bezieht sich nicht allein auf das Element der Eintrittswahrscheinlichkeit, sondern auch auf das Element der zeitlichen Nähe der befürchteten Ereignisse und auch die besondere Schwere des befürchteten Eingriffs ist in die Betrachtung einzubeziehen (vgl. VGH BW, U.v. 6.3.2012 – A 11 S 3070/11 – juris Rn. 17 m.w.N.; Hailbronner, Ausländerrecht, § 4 AsylG Rn. 61 ff. m.w.N.).
b) Diese Kriterien sind vorliegend nicht erfüllt:
aa) Abgesehen davon, dass der Vortrag des Klägers sehr pauschal, unsubstantiiert und widersprüchlich und damit nicht glaubhaft ist (s.o. 1.2), hat er eine persönliche Bedrohung durch die Taliban nicht plausibel gemacht. Er sprach nur davon, dass sein Vater bedroht und umgebracht worden sei sowie Erkundigungen bei den Nachbarn eingeholt worden seien. Ein drohender ernsthafter Schaden kann dem nicht entnommen werden.
bb) Hinzukommt, dass der Kläger nach eigenen Angaben Afghanistan bereits vor über zwei Jahren, verlassen hat. Nachdem auch der Vater des Klägers bereits seit über zwei Jahren tot ist, ist nicht ersichtlich, warum die Taliban immer noch ein so großes Interesse am Kläger haben sollten. Auch vom Kläger selbst wurde insoweit nichts Substantiiertes vorgebracht. Nach diesem langen Zeitraum ist eine Gefährdung des Klägers nicht mehr wahrscheinlich (vgl. BayVGH, U.v. 21.6.2013 – 13a B 12.30170 – juris Rn. 29 zu einem Zeitraum von drei bzw. fünf Jahren).
cc) Vor allem aber ist – wie bereits ausgeführt (s.o. 1.4) – davon auszugehen, dass dem Kläger z.B. in … oder … eine inländische Fluchtalternative (§ 3e i.V.m. § 4 Abs. 3 Satz 1 AsylG) zur Verfügung steht.
2.3 Auch eine ernsthafte Bedrohung seines Lebens oder seiner Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines bewaffneten Konflikts im Sinne von § 4 Abs. 1 Nr. 3 AsylG kann nicht angenommen werden:
a) Die von einem bewaffneten Konflikt ausgehende – und damit allgemeine – Gefahr muss sich in der Person des Klägers so verdichtet haben, dass sie eine erhebliche individuelle Gefahr i.S.v. § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG darstellt. Bezugspunkt für die Beurteilung der Bedrohung ist der tatsächliche Zielort des Ausländers. Dies wäre hier sein Heimatort in der Provinz … Es wäre für den Kläger aber auch zumutbar, sich in … oder … niederzulassen. Eine Individualisierung der Gefahr kann sich bei einem hohen Niveau willkürlicher Gewalt für die Zivilbevölkerung aus gefahrerhöhenden Umständen in der Person des Betroffenen ergeben, wie etwa berufsbedingter Nähe zu einer Gefahrenquelle oder einer bestimmten religiösen Zugehörigkeit (vgl. BVerwG, U.v. 17.11.2011 – 10 C 13/10 – juris Rn. 18). Derartige Umstände liegen in der Person des Klägers jedoch nicht vor.
b) Beim Fehlen individueller gefahrerhöhender Umstände kann eine Individualisierung nur ausnahmsweise bei einer außergewöhnlichen Situation eintreten, die durch einen so hohen Gefahrengrad gekennzeichnet ist, dass praktisch jede Zivilperson allein aufgrund ihrer Anwesenheit in dem betroffenen Gebiet einer ernsthaften individuellen Bedrohung ausgesetzt wäre, was ein besonders hohes Niveau willkürlicher Gewalt voraussetzt (BVerwG, U.v. 17.11.2011 – 10 C 13/10 – juris Rn. 19).
In … und … besteht nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine existenzielle Gefährdung, insbesondere die Gefahr einer Verletzung von Leib und Leben: In der Zentralregion Afghanistans, zu der auch … und … gehören, wurden laut UNAMA (www.unama.unmissions.org; Afghanistan – protection of civilians in armed conflict, annual report 2016) im Jahr 2016 2.348 Zivilpersonen getötet oder verletzt. Ausgehend von einer Einwohnerzahl von insgesamt ca. 6,5 Millionen (vgl. VG Lüneburg, U.v. 6.2.2017 – 3 A 140/16 – juris Rn. 32), ergibt sich ein Risiko von 1:2.768, verletzt oder getötet zu werden. Selbst bei einer Verdreifachung der UNAMA-Zahlen aufgrund einer hohen Dunkelziffer ergebe sich eine Wahrscheinlichkeit von 1:922, was keine erhebliche individuelle Gefahr darstellt (vgl. BVerwG, U.v. 17.11.2011 – 10 C 13.10 – Rn. 22).
Dem Kläger wäre es aber z.B. auch zumutbar, sich in … niederzulassen. In der westlichen Region, in der … liegt, gab es 836 Opfer. Bei einer Einwohnerzahl von ca. 3,5 Millionen ergibt sich ein Risiko von nur ca. 1:4.187 bzw. – bei Berücksichtigung der Dunkelziffer – von 1:1.396 (vgl. VG Lüneburg, U.v. 6.2.2017 – 3 A 140/16 – juris Rn. 35 ff.).
Eine andere rechtliche Beurteilung ergibt sich auch nicht aus dem Vierteljahresbericht von UNAMA vom 25. April 2017. Danach wurden zwischen 1. Januar 2017 und 31. März 2017 2.181 Zivilpersonen getötet oder verletzt. Hochgerechnet auf das Jahr ergäben sich damit 8.724 Opfer, so dass sich – bezogen auf die Bevölkerungszahl Afghanistans von ca. 33,3 Millionen (vgl. www.wikipedia.org) – ein Risiko von 1:3.817 bzw. 1:1.272 errechnet.
Das Bundesverwaltungsgericht hat zwar entschieden, dass es neben der quantitativen Ermittlung des Risikos, in der Rückkehrprovinz verletzt oder getötet zu werden, auch einer wertenden Gesamtbetrachtung des statistischen Materials mit Blick auf die Anzahl der Opfer und die Schwere der Schädigungen bei der Zivilbevölkerung bedarf. Ist allerdings die Höhe des quantitativ festgestellten Risikos eines dem Kläger drohenden Schadens – wie hier – weit von der Schwelle der beachtlichen Wahrscheinlichkeit entfernt, vermöge sich das Unterbleiben einer wertenden Gesamtbetrachtung im Ergebnis nicht auszuwirken. Zudem sei die wertende Gesamtbetrachtung erst auf der Grundlage der quantitativen Ermittlung der Gefahrendichte möglich (U.v. 13.2.2014 – 10 C 6.13 – juris Rn. 24; 17.11.2011 – 10 C 13.10 – juris Rn. 23; 27.4.2010 – 10 C 4.09 – juris Rn. 33).
Nach alledem ist es auch bei einer wertenden Gesamtbetrachtung aller Umstände weder in …, … oder … beachtlich wahrscheinlich, aufgrund eines sicherheitsrelevanten Vorfalls verletzt oder getötet zu werden. Zumindest für alleinstehende männliche Staatsangehörige besteht in Afghanistan keine extreme Gefahrenlage (vgl. BayVGH, B.v. 25.1.2017 – 13a ZB 16.30374 – juris Rn. 11).
c) Eine andere Beurteilung ergibt sich auch nicht aus den aktuellen Anmerkungen von UNHCR zur Situation in Afghanistan auf Anfrage des deutschen Bundesministeriums des Innern vom Dezember 2016.
Darin wird im Wesentlichen ausgeführt, dass sich die Sicherheitslage in Afghanistan deutlich verschlechtert habe. Es werde keine Unterscheidung von „sicheren“ und „unsicheren“ Gebieten vorgenommen, sondern die Bedrohung unter Einbeziehung sämtlicher individueller Aspekte des Einzelfalls bewertet. UNHCR ist der Auffassung, dass das gesamte Staatsgebiet Afghanistans von einem innerstaatlichen bewaffneten Konflikt betroffen sei. Es müsse ein starkes soziales Netzwerk im Gebiet der Neuansiedlung geben. Die Wohnraumsituation sowie der Dienstleistungsbereich seien in … aufgrund der andauernden Primär- und Sekundärfluchtbewegungen extrem angespannt und auch in … halte sich eine große Zahl von Binnenvertriebenen auf.
Abgesehen davon, dass auch bei der vom UNHCR geforderten Einbeziehung der individuellen Aspekte des Klägers nicht von einer Gefahr, aufgrund eines innerstaatlichen Konflikts getötet oder verletzt zu werden, auszugehen ist (s.o.), beruht die Bewertung in den genannten Anmerkungen auf den vom UNHCR selbst angelegten Maßstäben, die sich nicht mit den oben dargelegten Anforderungen des Bundesverwaltungsgerichts an einen bewaffneten Konflikt und eine erhebliche individuelle Gefährdung decken. Konkrete bzw. neuere Zahlen oder Ausgangsdaten, die die bisherige Einschätzung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs, der sich das Gericht anschließt, in Frage stellen könnten, werden nicht genannt (vgl. BayVGH, B.v. 11.4.2017 – 13a ZB 17.30294 – juris Rn. 6 f.; B.v. 4.4.2017 – 13a ZB 17.30231 – juris Rn. 12; B.v. 28.3.2017 – 13a ZB 17.30212 – juris Rn. 5; B.v. 25.1.2017 – 13a ZB 16.30374 – juris Rn. 11; B.v. 20.1.2017 – 13a ZB 16.30996 – juris Rn. 9; VG Augsburg, U.v.19.12.2016 – Au 5 K 16. 31939 – juris Rn. 42). Entsprechendes gilt für das von Klägerseite angesprochene Positionspapier von Amnesty International vom 22. Februar 2017.
Basierend auf den oben dargelegten Zahlen ist auch bei einer Gesamtbetrachtung nicht mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass dem Kläger, bei dem keine individuellen gefahrerhöhenden Umstände vorliegen, ein ernsthafter Schaden im Sinne von § 4 AsylG droht.
3. Auch Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 oder 7 AufenthG liegen nicht vor.
3.1 § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK steht einer Abschiebung entgegen, wenn es ernsthafte und stichhaltige Gründe dafür gibt, dass der Betroffene tatsächlich Gefahr läuft, im Aufnahmeland einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu werden. Maßgeblich sind die Gesamtumstände des jeweiligen Falls und Prognosemaßstab ist die beachtliche Wahrscheinlichkeit (vgl. z.B. VG Lüneburg, U.v. 6.2.2017, 3 A 140/16 – juris Rn. 53 m.w.N.). Ein Abschiebungsverbot infolge der allgemeinen Situation der Gewalt im Herkunftsland kommt nur in Fällen ganz extremer Gewalt in Betracht und auch schlechte humanitäre Bedingungen können nur in besonderen Ausnahmefällen ein Abschiebeverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK begründen. In Afghanistan ist die allgemeine bzw. humanitäre Lage aber nicht so ernst, dass eine Abschiebung ohne weiteres eine Verletzung von Art. 3 EMRK bedeuten würde (vgl. BayVGH, B.v. 11.4.2017 – 13a ZB 17.30294 – juris Rn. 5; VG Lüneburg, U.v. 6.2.2017 – 3 A 140/16 – juris Rn. 55 ff.).
Arbeitsfähige, gesunde junge Männer – wie der Kläger – sind auch ohne besondere Qualifikation, nennenswertes Vermögen und familiären Rückhalt in der Lage, durch Gelegenheitsarbeiten ein kleines Einkommen zu erwirtschaften und damit ein Leben am Rande des Existenzminimums zu bestreiten, so dass für alleinstehende männliche Staatsangehörige keine extreme Gefahrenlage besteht (BayVGH, B.v. 25.1.2017 – 13a ZB 16.30374 – juris Rn. 12; B.v. 23.1.2017 – 13a ZB 17.30044 – juris Rn. 5; B.v. 17.1.2017 – 13a ZB 16.30929 – juris Rn. 2; B.v. 22.12.2016 – 13a ZB 16.30684 – juris Rn. 7; U.v. 12.2.2015 – 13a B 14.30309 – juris Rn. 17; VG Lüneburg, U.v. 6.2.2017 – 3 A 140/16 – juris Rn. 60). Gerade Rückkehrer aus dem Westen sind dabei in einer vergleichsweise guten Position. Allein schon durch die Sprachkenntnisse sind ihre Chancen, einen Arbeitsplatz zu erhalten, gegenüber den Flüchtlingen, die in Nachbarländer Afghanistans geflohen sind, wesentlich höher (BayVGH, U.v. 12.2.2015 – 13a B 14.30309 – juris Rn. 21). Zudem hat der Kläger nach seinen eigenen Angaben als Schweißer gearbeitet, verfügt somit über Berufserfahrung, und er kann gegebenenfalls auch die Hilfe seiner in Afghanistan lebenden Verwandten in Anspruch nehmen.
3.2 Auch ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 AufenthG liegt nicht vor.
Die allgemeine Gefahr in Afghanistan hat sich für den Kläger nicht derart zu einer extremen Gefahr verdichtet, dass eine entsprechende Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG geboten ist. Wann allgemeine Gefahren von Verfassungs wegen zu einem Abschiebungsverbot führen, hängt von den Umständen des Einzelfalls ab. Die drohenden Gefahren müssten nach Art, Ausmaß und Intensität von einem solchen Gewicht sein, dass sich daraus bei objektiver Betrachtung für den Ausländer die begründete Furcht ableiten lässt, in erheblicher Weise ein Opfer der extremen allgemeinen Gefahrenlage zu werden. Dies setzt voraus, dass der Ausländer mit hoher Wahrscheinlichkeit alsbald nach seiner Ausreise in sein Heimatland in eine lebensgefährliche Situation gerät, aus der er sich weder allein noch mit erreichbarer Hilfe anderer befreien kann, der Ausländer somit gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert würde (vgl. z.B. BVerwG, U.v. 29.6.2010 – 10 C 10.09 – juris Rn. 15).
Für aus dem europäischen Ausland zurückkehrende afghanische Staatsangehörige ist im Allgemeinen nicht von einer extremen Gefahrenlage auszugehen, die zu einem Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG (in entsprechender Anwendung) führen würde (BayVGH, B.v. 11.4.2017 – 13a ZB 17.30294 – juris Rn. 5; B.v. 23.1.2017 – 13a ZB 17.30044 – juris Rn. 5). Wie bereits ausgeführt (s.o. 3.1), sind alleinstehende junge Männer auch ohne besondere Qualifikation, nennenswertes Vermögen und familiäre Unterstützung grundsätzlich in der Lage, durch Gelegenheitsarbeiten ein kleines Einkommen zu erwirtschaften und damit ein Leben am Rande des Existenzminimums zu bestreiten.
Somit kann von einer erheblichen konkreten Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit im Sinne von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht ausgegangen werden.
4. Nach alledem ist auch die vom Bundesamt nach Maßgabe des § 34 AsylG i.V.m. § 59 AufenthG erlassene Ausreiseaufforderung und Abschiebungsandrohung rechtmäßig.
5. Schließlich begegnet auch die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG in Nr. 6 des Bescheids vom 17. Januar 2017 keinen rechtlichen Bedenken.
Die Ermessenserwägungen der Beklagten sind im Rahmen der auf den Maßstab des § 114 Satz 1 VwGO beschränkten gerichtlichen Überprüfung nicht zu beanstanden, zumal die Klägerseite diesbezüglich keine substantiierten Einwendungen vorgebracht und insbesondere kein fehlerhaftes Ermessen gerügt hat.
Die Klage war daher mit der Kostenfolge aus § 154 Abs. 1 VwGO abzulehnen. Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83b AsylG).
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 Abs. 2 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.


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