Verwaltungsrecht

Kein Ausschutzsitz für die AFD im Stadtrat durch die Änderung des bisherigen Berechnungsverfahrens

Aktenzeichen  4 CE 20.2166

Datum:
15.12.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 35920
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO § 123 Abs. 1, § 146 Abs. 4 S. 1, S. 6, § 152 Abs. 1, § 154 Abs. 3, § 162 Abs. 3
GO Art. 33 Abs. 1 S. 1, S. 2
GKG § 47 Abs. 1, § 52 Abs. 1, § 53 Abs. 2 Nr. 1
GLKrWG Art. 35 Abs. 2

 

Leitsatz

Eine kommunale Vertretungskörperschaft kann eine Organisations- und Verfahrensregelung – hier anstelle des bisherigen Hare-Niemeyer das d’Hondt’schen Verfahren – frei wählen, wenn nachvollziehbare Gründe der Mehrheitsbildung und der Spiegelbildlichkeit dafür sprechen und die Entscheidung nicht nur deswegen getroffen wird, eine unerwünschte politische Kraft auszuschalten. (Rn. 16 – 30) (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

B 9 E 20.668 2020-09-15 Bes VGBAYREUTH VG Bayreuth

Tenor

I. Der Beschluss des Verwaltungsgerichts Bayreuth vom 15. September 2020 wird abgeändert. Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung wird abgelehnt.
II. Die Antragstellerin trägt die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen. Die Beigeladenen tragen ihre außergerichtlichen Kosten selbst.
III. Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 5.000 Euro festgesetzt.

Gründe

I.
Die Beteiligten streiten über die Besetzung der Ausschüsse des Stadtrats der Antragsgegnerin.
Aufgrund der Kommunalwahl am 15. März 2020 entfielen von den insgesamt 20 Sitzen im Stadtrat der Antragsgegnerin auf die Fraktionen der CSU (Beigeladene zu 1) zehn Sitze, auf die der SPD (Beigeladene zu 2) und der Freien Unabhängigen Wählerschaft Rehau (FUWR, Beigeladene zu 3) je vier Sitze und auf die der AfD zwei Sitze. Die beiden Stadträte, die auf der Liste der AfD gewählt wurden, schlossen sich zur Antragstellerin zusammen.
Der Beigeladene zu 4, der über den Wahlvorschlag der CSU gewählt worden war, gab vor Beginn der Amtsperiode bekannt, sich nicht der CSU-Fraktion anschließen zu wollen. Diese veröffentlichte daraufhin unter dem 5. Mai 2020 eine Stellungnahme, in der diese Entscheidung als gegen den Wählerwillen gerichtet kritisiert und die Niederlegung des Stadtratsmandats gefordert wird sowie die nunmehr sich ergebenden instabilen Mehrheitsverhältnisse im Stadtrat und der „nicht hinnehmbare Zustand, dass die AfD nunmehr das Zünglein an der Waage“ sein könne, bedauert werden.
In der konstituierenden Sitzung am 6. Mai 2020 bestellte der Stadtrat der Antragsgegnerin als Ausschüsse gemäß Art. 33 GO den Verwaltungs- und Finanzsenat, den Bau- und Umweltsenat, den Werksenat, den Wirtschafts- und Kultursenat, jeweils bestehend aus dem Vorsitzenden und fünf ehrenamtlichen Stadtratsmitgliedern, sowie den Rechnungsprüfungssenat, bestehend aus dem Vorsitzenden und drei weiteren Mitgliedern des Stadtrats. In der ebenfalls beschlossenen Geschäftsordnung ist in § 6 Abs. 1 geregelt, dass die Ausschüsse nach dem d’Hondt’schen Verfahren besetzt werden. Die Geschäftsordnung wurde mit 19 zu 2 Stimmen beschlossen.
Ausweislich der Niederschrift zur Sitzung seien in die Geschäftsordnung Anregungen aus einer Besprechung der Fraktionsvorsitzenden am 28. April 2020 sowie die Erfahrungen der drei Referatsleiter der Verwaltung eingeflossen. Wesentliche Änderung zur Geschäftsordnung der vorhergehenden Wahlperiode sei unter anderem die Verteilung der Ausschusssitze nach dem d’Hondt’schen Verfahren, weil so das Stärkeverhältnis des Stadtrats in den Ausschüssen am besten abgebildet werde.
Der Fraktionsvorsitzende der Antragstellerin wandte sich in einer in die Niederschrift aufgenommenen Erklärung gegen die Anwendung des d’Hondt’schen Verfahrens. Dieses sei antiquiert und undemokratisch; es führe bei starken Größenunterschieden der Anteile der einzelnen Parteien zu größeren Abweichungen und zur Benachteiligung kleinerer Parteien. Bislang habe der Stadtrat das Hare-Niemeyer-Verfahren angewandt. Ein Wechsel zum d’Hondt’schen Verfahren habe nur das Ziel, dass die AfD keinen Ausschusssitz erhalte. Die Antragstellerin sei im Hinblick auf die Besetzung der Ausschüsse nicht wie die anderen Fraktionen angeschrieben und um Benennung der zu entsendenden Stadträte gebeten worden, weil man sich offenbar des Ausgangs der Abstimmung über die Geschäftsordnung sicher gewesen sei.
Bei der Ausschussbesetzung nach dem d’Hondt’schen Verfahren entfielen bei den Ausschüssen mit fünf Mitgliedern jeweils auf die CSU drei Sitze, auf die SPD- und die FUWR-Fraktion jeweils ein Sitz. Die Antragstellerin erhielt wie der fraktionslose Stadtrat keinen Sitz in den Ausschüssen.
In einem örtlichen Zeitungsartikel vom 9. Mai 2020 ist unter der Überschrift „AfD bekommt keinen Sitz“ Folgendes ausgeführt: „Der Fraktionsvorsitzende der SPD gibt sich freimütig: Man habe im Vorfeld alles getan, um der AfD kein Forum zu geben. ‚Wir werfen jedes demokratische Mittel in die Waagschale, um den Feinden der Demokratie keine Stimme zu geben.‘ So habe man sich unter den Fraktionschefs darauf geeinigt, das Verfahren zu ändern, um die AfD auszusperren.“.
Am 28. Juli 2020 beantragte die Antragstellerin beim Verwaltungsgericht Bayreuth
im Wege der einstweiligen Anordnung anzuordnen, sämtliche Ausschusssitze des Stadtrats bis zum rechtskräftigen Abschluss des Hauptsacheverfahrens in der Weise zu verteilen, dass die Antragstellerin einen Sitz in jedem Ausschuss, außer dem Rechnungsprüfungsausschuss, und die CSUFraktion einen Sitz weniger erhält.
Zur Begründung trug die Antragstellerin vor, eine einstweilige Anordnung sei geboten, da der Antragstellerin rechtswidrig jeweils ein Ausschusssitz genommen worden sei und die zu erwartenden Nachteile für die Antragstellerin unzumutbar wären. Für den Wechsel vom Hare-Niemeyerzum d’Hondt’schen Verfahren gebe es keinen sachlichen Grund, sondern lediglich das Interesse der CSU, den Verlust eines Fraktionsmitglieds „auszugleichen“. Dies begründe einen Willkürverdacht und stelle eine missbräuchliche Handhabung der Organisationsautonomie des Stadtrats dar. Denn das führe zu einer Überrepräsentation der CSU-Fraktion in den Ausschüssen: Bei 45% der Sitze im Stadtrat erhalte sie 60% der Ausschusssitze, während auf die Antragstellerin mit 10% der Stadtratssitze kein Ausschusssitz entfalle. Die CSU-Fraktion sei daher mit 33,33% über-, die Antragstellerin mit 100,00% unterrepräsentiert.
Mit Beschluss vom 15. September 2020 gab das Verwaltungsgericht Bayreuth dem Antrag der Antragstellerin statt. Hinsichtlich der Größe der gebildeten Ausschüsse bestünden keine Bedenken. Grundsätzlich sei auch die Entscheidung eines Gemeinderats für das d’Hondt’schen Verfahren nicht zu beanstanden. Eine Überaufrundung zugunsten einer Partei oder Wählergruppe liege auch bei diesem Verfahren nicht vor. Jedoch werde die Antragstellerin durch die gewählte Berechnungsart nach d‘Hondt diskriminiert. Angesichts der Umstände sei davon auszugehen, dass die Entscheidung des Stadtrats für die Anwendung des d’Hondt’schen Verfahrens zumindest für die Mehrheit der Stadtratsmitglieder vorrangig dazu gedient habe, die Antragstellerin dadurch zu benachteiligen, dass sie in den Ausschüssen des Stadtrats nicht vertreten sei. Zwar möge es angesichts der Vorgeschichte um den Fraktionsaustritt eines Stadtratsmitglieds für die neun Mitglieder der CSU nicht in erster Linie darum gegangen sein, die Antragstellerin zu benachteiligen, sondern vielmehr die – aufgrund des Wahlergebnisses ursprünglich erzielte – Mehrheit im Stadtrat auch in den Ausschüssen zu sichern. Dass die CSU vorrangig das Ziel gehabt habe, der Antragstellerin Ausschusssitze zu verwehren, könne daher nicht angenommen werden. Ein entsprechendes Interesse an der Unterstützung einer – aus ihrer Sicht – konkurrierenden Partei könne allerdings den anderen Fraktionen nicht unterstellt werden. Für das Gericht sei es glaubhaft, dass – wie vom Vorsitzenden der SPD-Fraktion in der Presse geäußert – die maßgebliche Motivation für die anderen zehn Mitglieder des Stadtrats gewesen sei, die AfD selbst um den Preis einer Ausschussmehrheit für den politischen Konkurrenten auszusperren. Die Wahl des d’Hondt’schen Verfahrens scheide vor diesem Hintergrund aus, sodass eine entsprechende einstweilige Anordnung ergehen könne, da angesichts der vorliegenden Gesamtumstände eine Entscheidung für das d’Hondt’sche Verfahren nachträglich in rechtmäßiger Weise nicht mehr begründet werden könne. Die beiden anderen gebräuchlichen Verfahren zur Berechnung der Ausschusssitze nach Hare-Niemeyer und Sainte-Laguë/Schepers führten jeweils dazu, dass im Ergebnis in den Ausschüssen mit fünf Mitgliedern auf die Antragstellerin jeweils ein Sitz und auf die CSU zwei Sitze entfielen.
Gegen den Beschluss richtet sich die Beschwerde der Antragsgegnerin. Sie führt zur Begründung aus, die Wahl des d`Hondt‘schen Höchstzahlverfahren sei zulässig und entspreche dem Spiegelbildlichkeitsprinzip des Art. 33 Abs. 1 Satz 2 GO am besten. Eine Überaufrundung zugunsten der CSU liege nicht vor. Die Begründung des Verwaltungsgerichts für die Annahme der Willkürlichkeit bzw. Missbräuchlichkeit sei nicht haltbar. Das Verwaltungsgericht stelle auf die Mehrheit der Stadtratsmitglieder ab. Der CSU-Fraktion habe das Verwaltungsgericht keine Diskriminierungsabsicht, Willkürlichkeit oder Missbräuchlichkeit auch im Hinblick auf den Austritt eines Mitglieds nach der Wahl unterstellt. Ohne die weiteren Stadtratsfraktionen, die SPD und die FUWR, beizuladen, habe das Erstgericht zu Unrecht die Schlussfolgerung gezogen, dass die Mehrheit der Stadträte missbräuchlich und willkürlich agiert habe. Der Zeitungsartikel, in dem der Vorsitzende der SPD-Fraktion als Einzelperson zitiert werde, reiche als vermeintliche Begründung für die maßgebliche Motivation der anderen zehn Mitglieder des Stadtrats nicht aus. Selbst wenn sich der SPD-Fraktionsvorsitzende dergestalt geäußert hätte, könne die Äußerung einer Einzelperson schon denklogisch nicht zur Begründung der Motivation aller anderen zehn Stadtratsmitglieder herangezogen werden.
Die Antragstellerin äußerte sich im Beschwerdeverfahren ebenso wie die Beigeladenen zu 1, 2 und 3 nicht.
Bezüglich der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die Gerichtsakten und die vorgelegten Behördenakten Bezug genommen.
II.
1. Die zulässige Beschwerde der Antragsgegnerin, die der Senat anhand der fristgerecht dargelegten Gründe prüft (§ 146 Abs. 4 Satz 1 und 6 VwGO), ist begründet.
Das Verwaltungsgericht hätte den einstweiligen Rechtsschutzantrag der Antragsteller nach § 123 Abs. 1 VwGO ablehnen müssen, weil die Antragstellerin keinen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht hat. Nach der im einstweiligen Rechtsschutzverfahren erforderlichen, aber auch ausreichenden summarischen Prüfung bestehen gegen den Stadtratsbeschluss der Antragsgegnerin vom 6. Mai 2020 zur Besetzung der Ausschüsse des Stadtrates mit fünf Mitgliedern keine rechtlichen Bedenken.
a) Das von der Antragsgegnerin gewählte Ausschussbesetzungsverfahren ist nicht zu beanstanden.
Der Senat teilt die Auffassung des Verwaltungsgerichts, dass die Größe der Ausschüsse keinen rechtlichen Bedenken begegnet. Bei einem 20-köpfigen Stadtrat besteht ein fünfköpfiger Ausschuss aus 25% der Mitglieder des Stadtrats.
Das von der Antragsgegnerin gewählte d’Hondt’sche Verfahren für die Besetzung der Ausschüsse ist, was das Verwaltungsgericht ebenfalls zutreffend zugrunde legte, grundsätzlich rechtmäßig (vgl. BayVGH, B.v. 7.8.2020 – 4 CE 20.1442 – juris Rn. 19 ff.).
Der Landesgesetzgeber hat zu dieser Frage keine näheren Vorgaben gemacht und insbesondere nicht das für die Kommunalwahlen neuerdings geltende Divisorverfahren nach Sainte-Laguë/Schepers (vgl. Art. 35 Abs. 2 GLKrWG) verbindlich vorgeschrieben. Die kommunalen Gremien haben daher grundsätzlich die Auswahl unter den verschiedenen Berechnungsverfahren, die den aus dem Prinzip der repräsentativen Demokratie und aus dem Gebot der Wahlgleichheit folgenden ungeschriebenen Anforderungen gerecht werden (BayVGH, U.v. 17.3.2004 – 4 BV 03.1159 – VGH n.F. 57, 49/51 = BayVBl 2004, 429 m.w.N.) Zu diesen verfassungsrechtlich zulässigen Verfahren gehört nach ständiger Rechtsprechung auch das Höchstzahlverfahren nach d’Hondt (vgl. VerfGH, E.v. 10.6.1994 – Vf. 11-VII-94 – VerfGH 47, 154/156 = BayVBl 1994, 656; E.v. 26.10.2009 – Vf. 16-VII-08 – VerfGH 62, 198/202 ff. = BayVBl 2010, 140 m.w.N.; BayVGH, U.v. 17.3.2004, a.a.O.; B.v. 16.7.2009 – 4 ZB 09.26 – BayVBl 2010, 728 Rn. 13; ebenso BVerwG, B.v. 12.9.1977 – VII B 112.77 – DÖV 1978, 415; B. v. 14.10.1993 – 7 B 19.93 – BayVBl 1994, 375 f.). Dass dieses Verfahren, das die größeren Fraktionen und Wählergruppen tendenziell begünstigt, aus mathematischer Sicht kritisiert wird, weil es die verfassungsrechtliche Zielvorgabe der Erfolgswertgleichheit nicht in gleichem Maße erfüllt wie etwa das in neuerer Zeit vielfach verwendete Verfahren Sainte-Laguë/Schepers (vgl. Rauber, NVwZ 2014, 626), ändert an dieser rechtlichen Beurteilung nichts (BayVGH, B.v. 20.3.2017 – 4 ZB 16.1815 – BayVBl 2018, 173 Rn. 12). Der Kommunalgesetzgeber hat, nachdem sich mit keinem der Verfahren eine exakte Spiegelbildlichkeit der Sitzverteilung erreichen lässt, ebenso wie der Verfassungsgeber darauf verzichtet, die örtlichen Volksvertretungen auf die Wahl des jeweils „bestmöglichen“ Verfahrens festzulegen (vgl. BayVGH, U.v. 8.5.2015 – 4 BV 15.201 – VGH n.F. 68, 112 Rn. 30 = BayVBl 2015, 712; VerfGH, E.v. 26.10.2009, a.a.O., 206; VerfGH RhPf, U.v. 23.1.2018 – VGH O 17/17 – NVwZ-RR 2018, 546 Rn. 71 m.w.N.; Lohner/Zieglmeier, BayVBl 2007, 481/487 f.; a. A. Schreiber, BayVBl 1996, 134 ff., 170 ff.). Erst recht besteht danach keine Verpflichtung, den kleinen Gruppen im Gemeinderat durch die Wahl eines sie besonders begünstigenden Auswahlverfahrens die Entsendung von Vertretern in die Ausschüsse zu ermöglichen (BayVGH, U.v. 20.3.2017, a.a.O., m.w.N.; vgl. auch VerfGH, E.v. 30.4.1976 – Vf. 12- IV-75 u.a. – BayVBl 1976, 431; BVerwG, B.v. 7.12.1992 – 7 B 49.92 – NVwZ-RR 1993, 209).
Die kommunalen Vertretungskörperschaften sind daher frei, eines der zulässigen Berechnungsverfahren für die Ausschussbesetzung zu wählen. Die Beweggründe der Gemeinde- oder Stadtratsmitglieder sind grundsätzlich unerheblich. Maßgebend für die Wahl eines bestimmten Verfahrens können je nach Konstellation im Gremium grundsätzliche Erwägungen sein, wie etwa der Wunsch, die Mehrheit im Gemeindeoder Stadtrat auch in den Ausschüssen, vor allem den beschließenden Ausschüssen abzubilden oder die Beteiligung möglichst vieler Parteien und Wählergruppen auch in den Ausschüssen anzustreben. Als legitim können aber auch eigennützige Gründe anzusehen sein, wie etwa die Wahl desjenigen Verfahrens, das der eigenen Partei oder Wählergruppe oder (kommunal-)politisch nahestehenden Parteien oder Wählergruppen eine größere Zahl an Ausschusssitzen einbringt.
Die im Gemeinderat vertretenen Parteien und Wählergruppen können insoweit auch von ihren eigenen früheren Präferenzen abweichen. Dass der Stadtrat der Antragsgegnerin bei der letzten Wahlperiode für die Ausschussbesetzung das Hare-NiemeyerVerfahren angewandt hat, steht der Wahl des d’Hondt’schen Verfahren für die laufende Wahlperiode daher nicht entgegen. Der neugewählte Stadtrat kann das Verfahren für die laufende Wahlperiode in seiner Geschäftsordnung neu bestimmen. Eine Bindung an die bisherige Praxis besteht nicht (vgl. BayVGH, B.v. 12.10.2010 – 4 ZB 10.1246 – BayVBl 2011, 269 = juris Rn. 10).
Es kommt auch nicht darauf an, durch welches Verfahren aufgrund der Größe des Stadtrats und der Ausschüsse sowie der Konstellation der Partei- oder Wählergruppen, wie sie aus der Wahl hervorgegangen ist, die größtmögliche Spiegelbildlichkeit erreicht wird. Eine Ausschussbesetzung, die ein verkleinertes Abbild des Gemeinderats darstellt, wird bei Ausschüssen, die nur fünf Mitglieder umfassen, häufig nur eingeschränkt zu verwirklichen sein. So erhält die CSU hier bei Anwendung des d’Hondt’schen Verfahrens bei 45% der Stadtratssitze 60% der Ausschusssitze, also ein Drittel mehr, als ihr prozentual zusteht; andererseits würde die Antragstellerin bei Anwendung des Verfahrens Hare-Niemeyer mit 10% der Stadtratssitze 20% der Ausschusssitze erreichen, also 100% mehr als ihrem Anteil an Stadtratssitzen entspricht.
b) Das von der Mehrheit im Stadtrat der Antragsgegnerin gewählte d’Hondt’sche Verfahren zur Ausschussbesetzung kann auch nicht als Missbrauch rechtlicher Gestaltungsmöglichkeiten angesehen werden.
In der Geschäftsordnung des Gemeinderats getroffene Organisations- oder Verfahrensregelungen sind willkürlich und daher unzulässig, wenn sie sich gegen eine bestimmte politische Gruppierung richten und das alleinige oder vorrangige Ziel verfolgen, deren Tätigkeit zu beeinträchtigen oder sie als unerwünschte politische Kraft auszuschalten (BayVGH, U.v. 16.2.2000 – 4 N 98.1341 – VGH n.F. 53, 64/68 = BayVBl 2000, 467 m.w.N.; B.v. 12.10.2010 – 4 ZB 10.1246 – BayVBl 2011, 269 Rn. 6; ebenso HessVGH, B.v. 4.8.1983 – 2 TG 40/83 – NVwZ 1984, 54; OVG SH, U.v. 15.3.2006 – 2 LB 48/05 – juris Rn. 55 ff.; Heusch, NVwZ 2017, 1325/1329). Ob eine solche vom Zweck der Geschäftsordnungsautonomie nicht mehr gedeckte diskriminierende Gestaltung des ratsinternen Meinungsbildungs- und Entscheidungsprozesses vorliegt, beurteilt sich nicht allein anhand der offiziellen Erklärungen jener Fraktionen und Wählergruppen, die sich mehrheitlich für die betreffenden Bestimmungen ausgesprochen haben. Von Bedeutung sind darüber hinaus die äußeren Umstände, die dem Erlass der Vorschriften zugrunde liegen, sowie die möglichen Sachgründe, die sich für das gewählte Regelungskonzept anführen lassen. Je stärker von einer bisher überwiegend akzeptierten Handhabung abgewichen wird und je gezielter die gewählte Verfahrensgestaltung auf einen bestimmten (Ausgrenzungs-)Effekt hin zugeschnitten erscheint, desto gewichtiger müssen die sachbezogenen Argumente sein, die das Vorgehen der Ratsmehrheit rechtfertigen (vgl. zum Ganzen BayVGH, B.v. 7.8.2020 – 4 CE 20.1442 – juris Rn. 23).
Für das von der Antragsgegnerin gewählte Verfahren sprechen nachvollziehbare Gründe der Mehrheitsbildung und der Spiegelbildlichkeit. Dass dieses Motiv nur vorgeschoben wäre und mit der getroffenen Regelung stattdessen das alleinige oder vorrangige Ziel verfolgt worden wäre, die Tätigkeit der Antragstellerin zu beeinträchtigen oder sie als unerwünschte politische Kraft auszuschalten, kann nicht angenommen werden. Die Antragsgegnerin weist in der Beschwerdebegründung zu Recht darauf hin, dass insoweit nicht auf Einzeläußerungen, sondern auf die Stadtratsmehrheit, die den Beschluss erwirkt hat, abgestellt werden muss.
Zutreffend ist das Verwaltungsgericht davon ausgegangen, dass den neun Mitgliedern der CSU-Fraktion nicht unterstellt werden kann, für das Verfahren nach d’Hondt vorrangig deshalb gestimmt zu haben, um die Antragstellerin als politische Kraft auszuschalten, sondern dass es ihnen darum gegangen sein dürfte, eine Mehrheit der Ausschusssitze zu erreichen. Diese eigennützige Motivation ist – unabhängig von dem Verlust der Mehrheit im Stadtrat wegen des Austritts eines auf ihre Liste gewählten Mitglieds – naheliegend und zulässig und wird auch von der Antragstellerin nicht grundsätzlich infrage gestellt. Entsprechendes dürfte für den insoweit stimmberechtigten und der Partei CSU angehörenden ersten Bürgermeister der Antragsgegnerin gelten. Dem Beigeladenen zu 4, der sich im Beschwerdeverfahren mit Schreiben vom 11. November 2020 geäußert hat, kann ebenfalls keine Diskriminierungsabsicht hinsichtlich der Antragstellerin unterstellt werden, zumal er an der im Zeitungsartikel vom 9. Mai 2020 erwähnten Besprechung der Fraktionschefs ersichtlich nicht teilgenommen hat. Somit ist bereits bei elf Stimmberechtigten und damit bei der Stadtratsmehrheit anzunehmen, dass sie das Verfahren nach d’Hondt nicht vorrangig deshalb gewählt haben, um die Antragstellerin als politische Kraft auszuschalten.
Es kann daher offenbleiben, welche Beweggründe für die übrigen Mitglieder des Stadtrats hinsichtlich der Wahl des d’Hondt’schen Verfahrens für die Ausschussbesetzung maßgebend waren. Ergänzend sei nur auf Folgendes hingewiesen:
Die Antragsgegnerin hat im Beschwerdeverfahren drei (gleichlautende) eidesstattliche Erklärungen von Stadtratsmitgliedern der SPD vorgelegt, wonach sie für die Anwendung des d’Hondt’schen Verfahrens gestimmt hätten, weil dadurch bestmöglich sichergestellt sei, dass das Spiegelbildlichkeitsgebot bei der Ausschussbesetzung berücksichtigt sei. Nur so sei es möglich gewesen zu verhindern, dass eine Fraktion, die 10% der Stadtratssitze innehabe, genauso viele Ausschusssitze bekomme wie eine Fraktion, die 20% der Stadtratssitze innehabe. Ein vorrangiges Ziel, die Antragstellerin als politische Kraft auszuschalten, lässt sich dieser Erklärung nicht entnehmen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Mitglieder der nicht unmittelbar betroffenen Fraktionen frei entscheiden können, welcher politische Konkurrent durch die Wahl des Verfahrens einen (weiteren) Ausschusssitz erhalten soll. Sie können daher für dasjenige Besetzungsverfahren votieren, das die ihnen jeweils politisch näherstehende Partei oder Wählergruppe begünstigt. Dieses Motiv kann auch für die vier Stadtratsmitglieder der FUWR-Fraktion angenommen werden, die sich im Beschwerdeverfahren nicht geäußert haben. Allein die öffentliche Äußerung des Vorsitzenden der SPD-Fraktion, die Vorsitzenden der Stadtratsfraktionen hätten sich verabredet, das d’Hondt’sche Verfahren (auch) aus den von ihm geschilderten Motiven zu wählen, reicht daher nicht aus, um der Stadtratsmehrheit zu unterstellen, mit der Entscheidung für das d’Hondt’sche Verfahren das alleinige oder vorrangige Ziel zu verfolgen, die Tätigkeit der Antragstellerin zu beeinträchtigen oder sie als unerwünschte politische Kraft auszuschalten. Es besteht somit kein Grund, die Ausschussbesetzung durch eine Anordnung im einstweiligen Rechtsschutzverfahren zu korrigieren.
2. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1, § 159 Satz 2 VwGO. Da die anwaltlich nicht vertretenen Beigeladenen keinen Antrag gestellt und sich damit keinem Kostenrisiko ausgesetzt haben, entspricht es der Billigkeit, dass sie ihre etwaigen außergerichtlichen Kosten selbst tragen (vgl. § 154 Abs. 3, § 162 Abs. 3 VwGO).
3. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 47 Abs. 1, § 53 Abs. 2 Nr. 1, § 52 Abs. 1 GKG i.V.m. Nr. 22.7 und Nr. 1.5 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).


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