Aktenzeichen Au 7 K 17.35340
AufenthG § 60 Abs. 5, Abs. 7 S. 1-5, § 60a Abs. 1 S. 1
EMRK Art. 3
Leitsatz
1. Die weibliche Genitalverstümmelung ist in allen bekannten Formen nach wie vor in Nigeria verbreitet, besonders in ländlichen Gebieten und hier insbesondere im Süden bzw. Südwesten und im Norden des Landes. In Lagos zB ist diese Praxis dagegen sehr stark zurückgegangen. (Rn. 34 – 35) (redaktioneller Leitsatz)
2. Grundsätzlich kann bei drohender Genitalverstümmelung durch Druck von Familienangehörigen interner Schutz in einem anderen Landesteil Nigerias in Anspruch genommen werden. (Rn. 44) (redaktioneller Leitsatz)
Tenor
I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Die Klägerinnen haben die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar.
Gründe
Über die Klage konnte trotz Ausbleibens eines Vertreters der Beklagten in der mündlichen Verhandlung entschieden werden, da die Beteiligten mit der Ladung hierauf hingewiesen wurden (§ 102 Abs. 2 der Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO).
Die zulässige Klage hat in der Sache keinen Erfolg. Der angefochtene Bescheid des Bundesamts vom 7. November 2017 ist, auch soweit er angefochten wurde, rechtmäßig und verletzen die Klägerinnen zu 1 bis 3 nicht in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1, 5 VwGO).
1. Die Klägerinnen zu 1 bis 3 haben keinen Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 1 AsylG.
a) Nach § 3 Abs. 1 AsylG ist ein Ausländer Flüchtling, wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will. Eine solche Verfolgung kann nicht nur vom Staat ausgehen (§ 3c Nr. 1 AsylG), sondern auch von Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen (§ 3c Nr. 2 AsylG) oder von nichtstaatlichen Akteuren, sofern die in Nrn. 1 und 2 genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, im Sinne des § 3d AsylG Schutz vor Verfolgung zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht (§ 3c Nr. 3 AsylG). Allerdings wird dem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3e AsylG (ebenso wie subsidiärer Schutz, § 4 Abs. 3, § 3e AsylG) nicht zuerkannt, wenn er in einem Teil seines Herkunftslandes Schutz vor Verfolgung (bzw. im Falle des subsidiären Schutzes: Schutz vor drohendem ernsthaften Schaden) hat und er sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt.
Die gegenüber dem Bundesamt und in der mündlichen Verhandlung für die Klägerinnen zu 1 bis 3 gelten gemachte Gefahr einer Genitalverstümmelung stellt eine im Rahmen des § 3 Abs. 1 Nr. 1, § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG zu berücksichtigende Verfolgung dar. In Nigeria droht insoweit jedoch keine Verfolgung durch den Staat oder Parteien und Organisationen, die den Staat oder wesentliche Teile des Staatsgebiets beherrschen (§ 3c Nr. 1, 2 AsylG). Es geht vielmehr um Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure (§ 3c Nr. 3 AsylG), gegen die der Staat derzeit keinen wirksamen Schutz bietet (§ 3 d Abs. 2 Satz 2 AsylG).
Anzuwenden ist hier der asylrechtliche Gefahren- bzw. Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (vgl. BVerwG, U.v. 31.1.2013 – 10 C 15/12 – a.a.O.) Der herabgestufte Wahrscheinlichkeitsmaßstab der hinreichenden Sicherheit hat bei der Prüfung der Flüchtlingsanerkennung und des subsidiären Schutzes keine Bedeutung mehr (vgl. BVerwG, U.v. 1.3.2012 – 10 C 7/11 – juris). An dessen Stelle gilt nunmehr nach Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2011/95/EU die tatsächliche Vermutung, dass sich frühere Handlungen und Bedrohungen bei einer Rückkehr in das Herkunftsland wiederholen werden. Hierdurch wird den in der Vergangenheit liegenden Umständen Beweiskraft für ihre Wiederholung in der Zukunft beigemessen (vgl. EuGH, U.v. 2.3.2010 – Rs. V 175/08 u.a., Abdulla). Der Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit setzt voraus, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine „qualifizierende“ Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann (vgl. BVerwG, U.v. 20.2.2013 – 10 C 23/12 – NVwZ 2013, 936/940). Weiter ist die Tatsache, dass ein Antragsteller bereits verfolgt wurde oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. von solcher Verfolgung oder einem Schaden unmittelbar bedroht war, ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht des Antragstellers vor Verfolgung begründet ist, bzw. dass er tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Antragsteller erneut von solcher Verfolgung oder von einem solchen Schaden bedroht wird.
Es obliegt dabei dem Schutzsuchenden, sein Verfolgungsschicksal glaubhaft zur Überzeugung des Gerichts darzulegen. Er muss daher die in seine Sphäre fallenden Ereignisse, insbesondere seine persönlichen Erlebnisse, in einer Art und Weise schildern, die geeignet ist, seinen geltend gemachten Anspruch lückenlos zu tragen. Dazu bedarf es – unter Angabe genauer Einzelheiten – einer stimmigen Schilderung des Sachverhalts. Daran fehlt es in der Regel, wenn der Schutzsuchende im Lauf des Verfahrens unterschiedliche Angaben macht und sein Vorbringen nicht auflösbare Widersprüche enthält, wenn seine Darstellungen nach der Lebenserfahrung oder aufgrund der Kenntnis entsprechender vergleichbarer Geschehensabläufe nicht nachvollziehbar erscheinen, und auch dann, wenn er sein Vorbringen im Laufe des Verfahrens steigert, insbesondere wenn er Tatsachen, die er für sein Begehren als maßgeblich bezeichnet, ohne vernünftige Erklärung erst sehr spät in das Verfahren einführt (VGH BW, U.v. 27.8.2013 – A 12 S 2023/11 – juris; HessVGH, U.v. 4.9.2014 – 8 A 2434/11.A – juris).
b) Zur Überzeugung des Gerichts kann den Klägerinnen zu 1 bis 3 nach diesen Maßstäben der Flüchtlingsschutz nicht zuerkannt werden. Hinsichtlich der Begründung nimmt das Gericht Bezug auf die Begründung des angefochtenen Bescheids unter Nr. „1. bis 3.“ (vgl. S. 4 bis S. 6 des Bescheids), folgt ihr und sieht insoweit von einer Darstellung der Entscheidungsgründe ab (§ 77 Abs. 2 AsylG).
c) Ergänzend wird noch Folgendes ausgeführt:
Das Gericht geht nach den vorliegenden Erkenntnissen grundsätzlich davon aus, dass die weibliche Genitalverstümmelung in allen bekannten Formen nach wie vor in Nigeria verbreitet ist. Schätzungen zur Verbreitung der weiblichen Genitalverstümmelung gehen jedoch weit auseinander und reichen von 19% bis zu 50% bis 60% (vgl. dazu etwa Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Bundesrepublik Nigeria – Lagebericht – vom 21. November 2016, Stand September 2016, Nr. II.1.8; Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Bundesrepublik Nigeria – Lagebericht – vom 21. Januar 2018, Stand September 2017, Nr. II.1.8). In Lagos gilt die Durchführung der weiblichen Genitalverstümmelung als absolute Ausnahme (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge Informationszentrum Asyl und Migration – weibliche Genitalverstümmelung – Formen, Auswirkungen, Verbreitung, Asylverfahren – April 2010, S. 44).
Es wird zwar teilweise von einem Rückgang der Beschneidungspraxis (Female Genital Mutilation – FGM) bzw. einem Bewusstseinswandel ausgegangen, dennoch ist die Beschneidungspraxis noch in den Traditionen der nigerianischen Gesellschaft verwurzelt. Nach traditioneller Überzeugung dient die weibliche Genitalverstümmelung der Sicherung der Fruchtbarkeit, der Kontrolle der weiblichen Sexualität, der Verhinderung von Promiskuität und der Sicherung der wirtschaftlichen Zukunft der Frauen durch eine Heirat. Angesichts des Umstandes, dass teilweise nur eine beschnittene Frau als heiratsfähig angesehen wird, kann der Druck auf die Betroffenen als auch auf deren Eltern zur Durchführung einer Beschneidung erheblich sein. Zur Erreichung der „Heiratsfähigkeit“ sind häufig gerade weibliche Familienmitglieder bemüht, die Beschneidung durchführen zu lassen und mitunter erfolgt dies auch gegen den Willen der Eltern. Übereinstimmend wird davon ausgegangen, dass die weibliche Genitalverstümmelung besonders in ländlichen Gebieten und hierbei insbesondere im Süden bzw. Südwesten und im Norden des Landes verbreitet ist. In Lagos, dem modernsten und am meisten entwickelten Staat, sei FGM dagegen nicht verbreitet und „sterbe aus” (Immigration and Refugee Board of Canada, „Nigeria: Prevalence of FGM, including ethnic groups in which FGM is prevalent, particulary in Lagos State and within the Edo ethnic group; consequences for refusal; availability of state protection; the ability of a family to refuse a ritual practice such as FGM [2014-September 2016]“ https://www.ecoi.net/en/document/1258187.html). Das Beschneidungsalter variiert von kurz nach der Geburt bis zum Erwachsenenalter und ist abhängig von der jeweiligen Ethnie. Eine einheitliche, bundesweite Gesetzgebung gegen die Beschneidungspraxis gibt es nicht, eine Verfolgung ist lediglich nach dem allgemeinen Strafrecht möglich. Einige Bundesstaaten, darunter auch Edo-State – der Herkunftsstaat der Klägerin zu 1 und ihres Ehemannes -, haben Gesetze gegen die Genitalverstümmelung erlassen; allerdings sind Verfahren bislang nicht bekannt geworden; ein effektiver Schutz von Frauen und Mädchen durch diese Gesetze müsse bezweifelt werden, jedoch werde von einem Rückgang der Eingriffe berichtet (vgl. Auswärtiges Amt – Lageberichte – a.a.O.; Auswärtiges Amt, Auskunft an das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge vom 18.7.2008 und vom 21.8.2008; vgl. auch Lageberichte vom 28. August 2013, vom 6. Mai 2012, vom 21. Januar 2018 jeweils Nr.II.1.8; zum Ganzen außerdem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Informationszentrum Asyl und Migration – weibliche Genitalverstümmelung – Formen, Auswirkungen, Verbreitung, Asylverfahren – April 2010; ACCORD – Nigeria – Frauen, Kinder, sexuelle Orientierung, Gesundheitsversorgung, 21. Juni 2011, S. 6 ff.; WHO, Eliminating female genital mutiliation – an interagency statement – 2008, http://apps.who.int/iris/bitstream/10665/43839/1/9789241596442_eng.pdf; VG Aachen, U.v. 16.9.2014 – 2 K 2262/13.A – juris, m.w.N.). Am 7. Februar 2018 hat der Gouverneur von Edo State, Godwin Obaseki, sich vehement gegen die Praxis der weiblichen Genitalverstümmelung ausgesprochen, deren Beendigung gefordert und die Medien aufgerufen, dieses Thema auf ihren Titelseiten zu behandeln (https://www.edostate.gov.ng/obaseki-seeks-intercontinental-action-to-eliminate-female-genital-mutilation).
Im vorliegenden Fall hat das Gericht die Überzeugung gewonnen, dass die Durchführung einer Genitalverstümmelung sowohl bei der Klägerin zu 1 als auch bei ihren Töchtern, den Klägerinnen zu 2 und 3, im Falle der Rückkehr in ihr Heimatland nicht beachtlich wahrscheinlich ist.
Die Klägerin zu 1 ist laut eigenem Vortrag nicht beschnitten worden. Ihre Verfolgungsgeschichte, sie habe Nigeria verlassen, um ihrer Beschneidung, die ihre Eltern verlangt hätten, zu entgehen, weist derart viele Widersprüchlichkeiten auf, dass das Gericht sie als unglaubhaft bewertet und davon überzeugt ist, dass der Klägerin zu 1 in Nigeria keine Beschneidung gedroht hat, sondern dass sei ihr Heimatland aus asylrechtlich nicht relevanten Gründen verlassen hat.
Bei ihrer ersten Anhörung in Deutschland am 11. September 2013 gab sie zu den Gründen für ihren Asylantrag an, ihre beiden Schwestern seien im Jahr 2003 und 2004 beschnitten worden und daran gestorben. Im Jahr 2005 seien ihre Eltern wegen der Beschneidung an sie herangetreten (s. Bundesamtsprotokoll, S. 6). Sie habe deswegen im Jahr 2005 das Familienhaus verlassen und sei danach bei Freunden ihres Mannes geblieben (s. Bundesamtsprotokoll, S. 7). Im Rahmen dieser Anhörung gab sie außerdem an, sie sei bis zum Jahr 2006 in die Schule gegangen, habe dann später als Auszubildende bis 2009 in einem Frisörsalon gearbeitet und für diese Ausbildung auch bezahlen müssen(s. Bundesamtsprotokoll, S. 4 Frage 18, 19). Nach dieser Version hätten ihre Eltern im Jahr 2005, als sie 15 Jahre alt gewesen ist (behauptetes Geburtsdatum: … 1990), die Beschneidung von ihr verlangt; sie hätte aber nach ihrem Auszug aus dem elterlichen Haus bis zur Ausreise aus Nigeria dann noch knapp vier Jahre (Ausbildungsabschluss 2009) in derselben Stadt (…) leben können, ohne dass die Eltern die Beschneidung erzwungen hätten. Bereits nach dieser (ersten) Version erscheint es äußerst unwahrscheinlich, dass die Eltern der Klägerin zu 1 auf deren Beschneidung bestanden haben, denn dann wäre es ihnen mit Sicherheit gelungen, der Klägerin zu 1 habhaft zu werden, die nach ihrem Auszug noch ca. vier Jahre in … gelebt und eine (kostenpflichtige) Ausbildung in einem Friseursalon gemacht haben will.
In der mündlichen Verhandlung am 21. November 2018 verwickelte sich die Klägerin zu 1 zu den Fragen, wann sie beschnitten werden sollte und wann sie Nigeria verlassen habe, in erhebliche bzw. unauflösliche Widersprüche, und gab zunächst an, sie sei ca. 18 oder 19 Jahre alt gewesen, als ihre Eltern die Bescheidung verlangt hätten. Auf Vorhalt des Gerichts bezüglich ihrer damaligen Aussage im September 2013 korrigierte sie das Alter, in dem ihre Beschneidung stattfinden sollte, auf ca. 16 oder 17 Jahre und gab an, sich nicht mehr genau erinnern zu können (vgl. Sitzungsprotokoll S. 4). Im weiteren Verlauf der mündlichen Verhandlung gab sie an, sie habe Nigeria im Jahr 2006 mit ca. 16 oder 17 Jahren verlassen. Auf weitere Fragen des Gerichts gab sie (im Widerspruch zu ihren Angaben vom 11.9.2013) an, nach dem Tod ihrer Schwestern seien ca. vier Jahre vergangen, dann hätten ihre Eltern auch ihre Beschneidung verlangt.
Auch im Hinblick auf ihre Lebensumstände bis zur Ausreise aus Nigeria sowie im Hinblick auf ihre Reise nach bzw. über Libyen nach Italien traten erhebliche Widersprüche auf. Während sie bei ihrer ersten Anhörung am 11. September 2013 angegeben hatte, das Familienhaus wegen der drohenden Beschneidung im Jahr 2005 verlassen, aber noch einige Jahre in … bei Freunden ihres Mannes gelebt zu haben (s.o. Rn. 38), behauptete sie in der mündlichen Verhandlung, sie habe Nigeria, nachdem sie von der drohenden Beschneidung erfahren habe, nur wenige Tage später verlassen. Hierzu führte sie aus, sich zwei bis drei Tage bei einer Freundin versteckt zu haben, die ihr Geld für die Reise gegeben habe. Sie sei dann nach … gefahren, dort einige Tage geblieben und dann über … nach Libyen gefahren, wo sie sich bis zur Weiterreise nach …Italien – Ankunft Januar 2009 – zwei bis drei Wochen aufgehalten habe (vgl. Sitzungsprotokoll S. 6). Nach diesen Angaben zu einer ca. ein- bis zweimonatigen Reisedauer müsste ihre Ausreise aus Nigeria in den letzten Monaten des Jahres 2008 erfolgt sein.
Die oben dargestellten erheblichen Widersprüche, insbesondere zum zeitlichen Ablauf der Ereignisse (Zeitpunkt einer drohenden Beschneidung, Zeitpunkt, wann sie deswegen Nigeria verlassen habe), beruhen zur Überzeugung des Gerichts aber nicht darauf, dass die Klägerin zu 1 etwa wegen mangelnder Schulbildung Ereignisse nicht zeitlich einordnen kann. Insoweit konnte sie in der mündlichen Verhandlung nämlich klare und richtige Aussagen zu ihrem Aufenthalt in Italien machen (s. S. 7 des Sitzungsprotokolls: „Ich war so ca. eineinhalb Monate schwanger, als ich von Libyen nach … gefahren bin. Ich war also so ca. sechs bis sieben Monate in Italien als meine Tochter auf die Welt gekommen ist.“). Auch hat sie die Frage des Gerichts, wie lange sie nach ihrer zweiten Einreise jetzt in Deutschland ist, sofort und richtig beantworten können (s. S. 8 des Sitzungsprotokolls: „Ich bin im Januar letzten Jahres gekommen. Es sind jetzt ein Jahr und zehn Monate. Im nächsten Januar werden es zwei Jahre.“). Die erheblichen Widersprüche zu den maßgeblichen Punkten ihrer Verfolgungsgeschichte, nämlich wann ihre Eltern sie der Beschneidung unterziehen wollten und wann sie (deswegen) Nigeria verlassen haben will, zeigen zur Überzeugung des Gerichts daher, dass die Klägerin zu 1 diesen Verfolgungsgrund frei erfunden hat und sich in der mündlichen Verhandlung lediglich an ihre (erfundenen) Angaben in der Anhörung vom 11. September 2103 nicht mehr erinnern konnte.
Auch die Angaben der Klägerin zu ihrer traditionellen Hochzeit sprechen dafür, dass von Seiten ihrer Familie kein Beschneidungsverlangen erfolgt ist bzw. dass ihre Familie nicht zu dem Personenkreis gehört, der eine Beschneidung als zwingend erforderlich ansieht. In der Bundesamtsanhörung vom 11. September 2013 gab sie an, ihr Ehemann habe Geld an ihre Eltern bezahlt, so dass sie erst traditionell und dann in der Kirche geheiratet haben (s. Bundesamtsprotokoll, S. 3, Frage 10). Diese Aussage spricht dafür, dass die Eltern eine Heirat akzeptierten und eine Beschneidung der Klägerin zu 1 nicht (mehr) für erforderlich ansahen. In der mündlichen Verhandlung hat sie zwar vorgetragen, ihr Mann habe den Brautpreis an ihren Onkel väterlicherseits überwiesen, da sie vor ihren Eltern weggelaufen sei; eine entsprechende Aussage machte auch ihr Ehemann (s. S. 7, 8 des Sitzungsprotokolls). Diese erst in der mündlichen Verhandlung erfolgte Änderung der früheren Aussage stellt sich aber zur Überzeugung des Gerichts als Versuch dar, den damaligen (im Hinblick auf die Verfolgungsgeschichte) unschlüssigen Sachvortrag nachzubessern. Aber selbst wenn der Brautpreis tatsächlich an den Onkel der Klägerin zu 1 entrichtet wurde, weil sie vor ihren Eltern weggelaufen war, und – wie der Ehemann der Klägerin zu 1 ausgesagt hat – sein Bruder sich diesbezüglich mit dem Onkel der Klägerin in Verbindung gesetzt und den Brautpreis bezahlt hat (s. S. 8 des Sitzungsprotokolls), zeigt dies jedenfalls, dass sowohl die Familie des Ehemannes der Klägerin zu 1 dessen Heirat mit einer unbeschnittenen Frau akzeptiert und dass auch maßgebliche Familienangehörige der Klägerin zu 1 (Onkel väterlicherseits) deren Heirat, ohne dass sie beschnitten ist, zugestimmt haben.
Nach allem hat das Gericht die Überzeugung gewonnen, dass die Durchführung einer Genitalverstümmelung bei den Klägerinnen zu 1 bis 3 im Falle der Rückkehr in ihr Heimatland nicht beachtlich wahrscheinlich ist, zumal sie zusammen mit dem Ehemann der Klägerin zu 1 bzw. Vater der Klägerinnen zu 2 und 3, dessen Asylbegehren mit Urteil gleichen Datums (Az.: Au 7 K 17.35432) ebenfalls abgewiesen wurde, nach Nigeria zurückkehren (können). Es erscheint äußert unwahrscheinlich, dass die Klägerin zu 1, die mittlerweile dreifache Mutter ist und ihren Ehemann traditionell (und zivilrechtlich) geheiratet hat, nach einer Rückkehr nach Nigeria dann noch mit Genitalverstümmelung – gegen den Willen ihres Ehemannes – bedroht werden sollte, zumal sowohl die Familie ihres Ehemannes als auch ihre eigene Familie oder ggf. maßgebliche Mitglieder ihrer Familie (Onkel väterlicherseits) vor der (traditionellen) Hochzeit nicht auf ihrer Beschneidung bestanden haben bzw. mit der Heirat einverstanden waren. Insbesondere hat sich auch der Ehemann bzw. Vater der Klägerinnen klar gegen den Brauch der Beschneidung ausgesprochen und vorgetragen, dass die nigerianische Gemeinschaft in Italien die Beschneidung seiner Töchter (Klägerinnen zu 2 und 3) erreichen wollte. Um dies zu vermeiden, seien sie (zum zweiten Mal) aus Italien nach Deutschland gekommen (s. Bundesamtsakte, Bl. 23, 72). Dementsprechend ist zu erwarten, dass die Klägerin zu 1 und ihr Ehemann auch in Nigeria dem Brauch der Genitalverstümmelung nicht nachkommen werden und zwar weder im Hinblick auf die Klägerin zu 1 noch auf die Klägerinnen zu 2 und 3, zumal entsprechender Druck durch die jeweiligen Familien, wie ausgeführt, nicht beachtlich wahrscheinlich ist. Selbst wenn jedoch im familiären Umfeld der Klägerin zu 1 und ihres Ehemannes (noch) dem Brauch nachgegangen werden sollte, Mädchen bei Erreichung der „Heiratsfähigkeit“ zu beschneiden, würde auch den Klägerinnen zu 2 (9 Jahre) und 3 (knapp 5 Jahre) bei Rückkehr nach Nigeria keine konkrete bzw. aktuelle Gefahr drohen, da sie erst in etlichen Jahren ein heiratsfähiges Alter erreichen werden, die Gefahr einer künftigen Beschneidung daher reine Spekulation wäre.
Auch wenn zur Überzeugung der Einzelrichterin Druck zur Vornahme der Beschneidung ausgehend vom familiären Umfeld der Klägerin zu 1 und/oder ihres Ehemannes unwahrscheinlich ist, stünde den Klägerinnen bzw. der klägerischen Familie für diesen Fall interner Schutz im Sinne des § 3e AsylG durch Ausweichen in eine andere Landesgegend, z.B. nach, zur Verfügung. Nach der Erkenntnislage (s.o. Rn. 35) ist davon auszugehen, dass die Familie gerade z.B. in … internen Schutz im Sinne des § 3e AsylG auch vor dem Zugriff der Familie finden könnte.
2. Der beantragte (unionsrechtliche) subsidiäre Abschiebungsschutz nach § 4 AsylG kommt ebenfalls nicht in Betracht. Hinsichtlich der Begründung nimmt das Gericht auch hierzu Bezug auf die Begründung des angefochtenen Bescheids (S. 5/6), folgt ihnen und sieht insoweit von einer Darstellung der Entscheidungsgründe ab (§ 77 Abs. 2 AsylG).
3. Auch (zielstaatsbezogene) Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) oder § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG liegen nicht vor. Wegen der Begründung im Einzelnen folgt das Gericht auch insoweit den Ausführungen in dem angefochtenen Bescheid (unter Nr. 4, S. 6 bis 12) und sieht deshalb von einer Darstellung der Entscheidungsgründe ab. Lediglich ergänzend wird nochmals Folgendes ausgeführt:
a) Die schlechte wirtschaftliche Situation in Nigeria – hier leben immer noch ca. 70% der Bevölkerung am Existenzminimum und sind von informellem Handel und Subsistenzwirtschaft abhängig (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Bundesrepublik Nigeria – Lagebericht – vom 21. Januar 2018, Stand September 2017, Nr. I.2.) führt – ebenso wie die Situation hinsichtlich der verschiedenen gewalttätigen Auseinandersetzungen und Übergriffe, z.T. auch durch die Sicherheitskräfte, und die damit zusammenhängenden Gefahren (Lagebericht a.a.O. Nr. II.2 und 3.) – grundsätzlich nicht zu einer individuellen, gerade den Klägern drohenden Gefahr, sondern ist unter die allgemeinen Gefahren zu subsumieren, denen die Bevölkerung oder relevante Bevölkerungsgruppe allgemein ausgesetzt sind und die gemäß § 60 Abs. 7 Satz 5 AufenthG durch Anordnungen gemäß § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG zu berücksichtigen sind.
Der Umstand, dass im Falle einer Aufenthaltsbeendigung die Lage eines Betroffenen erheblich beeinträchtigt würde, reicht allein nicht aus, um einen Verstoß gegen Art. 3 EMRK anzunehmen; anderes kann nur in besonderen Ausnahmefällen gelten, in denen humanitäre Gründe zwingend gegen die Aufenthaltsbeendigung sprechen, wie zum Beispiel im Falle einer tödlichen Erkrankung in fortgeschrittenen Stadium, wenn im Zielstaat keine Unterstützung besteht (BVerwG, U.v. 31.1.2013 – 10 C 15/12 – BVerwGE 146, 12-31, juris, Rn. 23 ff. m.w.N.). Im Hinblick auf die Bewertung eines Verstoßes gegen Art. 3 EMRK gelten dabei bei der Beurteilung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG die gleichen Voraussetzungen wie bei der Frage der Zuerkennung subsidiären Schutzes nach § 60 Abs. 2 AufenthG i.V.m. § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG wegen unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung (BVerwG, U.v. 31.1.2013 – a.a.O. – Rn. 22, 36).
Auch eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib und Leben (§ 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG) für einen Betroffenen aufgrund allgemein für die Bevölkerung bestehender Gefahren, die über diese allgemein bestehenden Gefahren hinausgeht, ist nur im Ausnahmefall im Sinne eines Abschiebungshindernisses nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu berücksichtigen (BVerwG, U. v. 31.1.2013 – a.a.O. Rn. 38). Ein Ausländer kann im Hinblick auf die Lebensbedingungen, die ihn im Abschiebezielstaat erwarten, insbesondere die dort herrschenden wirtschaftlichen Existenzbedingungen und die damit zusammenhängende Versorgungslage, Abschiebungsschutz in verfassungskonformer Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG nur ausnahmsweise beanspruchen, wenn er bei einer Rückkehr aufgrund dieser allgemein bestehenden Bedingungen mit hoher Wahrscheinlichkeit einer extremen Gefahrenlage ausgesetzt wäre. Denn nur dann gebieten es die Grundrechte aus Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG, ihm trotz einer fehlenden politischen Leitentscheidung nach § 60a Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 60 Abs. 7 Satz 5 AufenthG Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu gewähren. Wann danach allgemeine Gefahren von Verfassungs wegen zu einem Abschiebungsverbot führen, hängt wesentlich von den Umständen des Einzelfalles ab und entzieht sich einer rein quantitativen oder statistischen Betrachtung. Die drohenden Gefahren müssen jedoch nach Art, Ausmaß und Intensität von einem solchen Gewicht sein, dass sich daraus bei objektiver Betrachtung für die Betroffenen die begründete Furcht ableiten lässt, selbst in erheblicher Weise ein Opfer der extremen allgemeinen Gefahrenlage zu werden. Bezüglich der Wahrscheinlichkeit des Eintritts der drohenden Gefahren ist von einem im Vergleich zum Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit erhöhten Maßstab auszugehen. Diese Gefahren müssen dem Betroffenen daher mit hoher Wahrscheinlichkeit drohen. Dieser Wahrscheinlichkeitsgrad markiert die Grenze, ab der eine Abschiebung in den Heimatstaat verfassungsrechtlich unzumutbar erscheint. Schließlich müssen sich diese Gefahren alsbald nach der Rückkehr realisieren (zum Ganzen BVerwG, U. v. 31.1.2013 a.a.O. Rn. 38).
b) Für derartige besondere Gefahren aufgrund schlechter humanitärer oder wirtschaftlicher Verhältnisse ist hier nichts ersichtlich. Insbesondere kann im Falle der Klägerinnen zu 1 bis 3 nicht davon ausgegangen werden, dass die schlechte wirtschaftliche Situation in Nigeria zu einem Abschiebungsverbot aufgrund schlechter humanitärer Verhältnisse führt, die im Ausnahmefall als unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 3 EMRK qualifiziert werden könnten. Dabei ist im Falle der Klägerinnen zu berücksichtigen, dass sie zusammen mit dem Ehemann bzw. Vater nach Nigeria zurückkehren können, dessen Asylbegehren mit Urteil gleichen Datums (Az.: Au 7 K 17.35432) ebenfalls abgewiesen wurde. Dieser ist ein junger, gesunder, arbeitsfähiger Mann, der sowohl in Nigeria als auch im Ausland seinen Lebensunterhalt bestreiten konnte und zudem auf einen großen Familienverband in Nigeria zurückgreifen kann. Zudem ist auch die Klägerin zu 1 gesund und arbeitsfähig, so dass keine Anhaltspunkte dafür bestehen, dass sie zusammen mit ihrem Ehemann den Lebensunterhalt für sich und die und die drei Kinder (Klägerinnen zu 2 und 3 sowie der jüngste Sohn [Kläger im erfolglos gebliebenen Verfahren Au 7 K 17.35482]) nicht wird sicherstellen können.
c) Auch ein krankheitsbedingtes Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG kommt bei den Klägerinnen zu 1 bis 3 nicht in Betracht.
Eine Erkrankung wurde lediglich für die Klägerin zu 3 geltend gemacht, nämlich dass (in Italien) Blutarmut festgestellt worden sei. Laut der jüngsten für die Klägerin zu 3 vorgelegten Bescheinigung, dem Laborbericht (…, …) vom 19. Mai 2017, besteht kein Hinweis auf anomales Hämoglobin oder heterozygote beta-Thalassämie; es wird lediglich neben einer Familienuntersuchung eine Wiederholungsuntersuchung mit kleinem Blutbild empfohlen (Bl. 27 der Bundesamtsakte im Verfahren des Bruders, Gesch.Z.: …).
Der Gesetzgeber hat in der seit dem 17. März 2016 geltenden Fassung des § 60 Abs. 7 Satz 2 bis 4 AufenthG klargestellt, dass eine erhebliche konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen nur bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden, vorliegt (§ 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG). Es wird im Falle einer Erkrankung nicht vorausgesetzt, dass die medizinische Versorgung im Herkunftsland mit der Versorgung in Deutschland gleichwertig ist; eine ausreichende medizinische Versorgung liegt in der Regel zudem vor, wenn diese nur in einem Teil des Zielstaats erlangt werden kann (vgl. § 60 Abs. 7 Satz 3 und 4 AufenthG).
Im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung lagen auch hinsichtlich der der Klägerin zu 3 keine Anhaltspunkte für eine Erkrankung, geschweige denn für eine lebensbedrohliche oder schwerwiegende Erkrankung, vor.
4. Die auf § 34 Abs. 1 AsylG i.V.m. § 59 AufenthG gestützte Abschiebungsandrohung ist damit ebenfalls rechtmäßig, da die Voraussetzungen dieser Bestimmungen vorliegen. Die Ausreisefrist von 30 Tagen ergibt sich aus § 38 Abs. 1 Satz 1 AsylG.
5. Gegen die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots nach § 11 Abs. 1 AufenthG sind keine substantiierten Einwände erhoben worden und solche sind auch nicht ersichtlich.
6. Die Klage war mithin mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO i.V.m. § 159 VwGO abzuweisen. Die Gerichtskostenfreiheit folgt aus § 83b AsylG.
7. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 Abs. 2 VwGO.