Verwaltungsrecht

Kein internationaler Schutz und kein Abschiebungsverbot hinsichtlich Afghanistans für im Iran aufgewachsenen Hazara

Aktenzeichen  Au 8 K 17.33483

Datum:
24.9.2018
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2018, 26208
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Augsburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG § 3 Abs. 1, Abs. 4, § 3e Abs. 1, § 4 Abs. 1 S. 2 Nr. 3
AufenthG § 60 Abs. 5, Abs. 7 S. 1

 

Leitsatz

1. Für die Annahme einer Gruppenverfolgung der Hazara in Afghanistan fehlt es an der hierfür erforderlichen Verfolgungsdichte.  (Rn. 22 – 24) (redaktioneller Leitsatz)
2. Schiiten sind in Afghanistan keiner an ihre Religionszugehörigkeit anknüpfenden gruppengerichteten Verfolgung durch die Taliban oder andere nichtstaatliche Akteure ausgesetzt. (Rn. 25) (redaktioneller Leitsatz)
3. Die allgemeine Gefährdungslage in Stadt und Provinz Kabul erreicht keine solche Intensität, dass die Region im Hinblick auf die allgemeine Sicherheitslage nicht mehr als Fluchtalternative geeignet wäre. Ein gesunder Mann kann zudem auch ohne nennenswertes Vermögen und ohne dortige Kontakte seinen Lebensunterhalt in Kabul sicherstellen, wenn er eine der beiden Landessprachen spricht und den größten Teil seines Lebens in einer islamisch geprägten Umgebung verbracht hat. (Rn. 36 – 39) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar.

Gründe

Über die Klage konnte aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 21. September 2018 entschieden werden, ohne dass ein Vertreter der Beklagten am Verhandlungstermin teilgenommen hat. Die Beklagte wurde nach § 102 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) auf diese Möglichkeit hingewiesen.
Die zulässig erhobene Klage ist nicht begründet. Der Kläger kann weder einen Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Asylgesetz (AsylG) noch auf die Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus (§ 4 AsylG) geltend machen. Auch ein Anspruch des Klägers auf die Feststellung des Vorliegens von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) besteht nicht. Der angefochtene Bescheid des Bundesamtes vom 24. Mai 2017 hat die vom Kläger verfolgten Ansprüche zu Recht abgelehnt, die Klage war deshalb abzuweisen (§ 113 Abs. 5 Satz 1, Abs. 1 VwGO).
Zur Vermeidung von Wiederholungen verweist das Gericht zur Begründung in Anwendung von § 77 Abs. 2 AsylG auf die Ausführungen im angefochtenen Bescheid (dort S. 3 ff.) und sieht insoweit von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe ab.
Ergänzend wird ausgeführt:
1. Der Kläger hat keinen Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 1 AsylG.
Nach § 3 Abs. 4 AsylG wird einem Ausländer, der Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG ist, die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt. Ein Ausländer ist nach § 3 Abs. 1 AsylG Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559, 560 – Genfer Flüchtlingskonvention), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb seines Herkunftslandes befindet. Eine Verfolgung i. S. des § 3 AsylG kann nach § 3c Nr. 3 AsylG auch von nichtstaatlichen Akteuren ausgehen, sofern der Staat oder ihn beherrschende Parteien oder Organisationen einschließlich internationale Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor der Verfolgung zu bieten. Die Gefahr einer derartigen Verfolgung bei seiner Rückkehr nach Afghanistan hat der Kläger nicht glaubhaft gemacht.
a) Es ist Sache des Schutzsuchenden, seine Gründe für eine Verfolgung in schlüssiger Form vorzutragen. Er hat unter Angabe genauer Einzelheiten einen in sich stimmigen Sachverhalt zu schildern, aus dem sich bei Wahrunterstellung ergibt, dass bei verständiger Würdigung seine Furcht vor Verfolgung begründet ist, so dass ihm nicht zuzumuten ist, im Herkunftsland zu verbleiben oder dorthin zurückzukehren. Wegen des sachtypischen Beweisnotstands, in dem sich Flüchtlinge insbesondere im Hinblick auf asylbegründende Vorgänge im Verfolgerland vielfach befinden, genügt für diese Vorgänge in der Regel eine Glaubhaftmachung. Voraussetzung für ein glaubhaftes Vorbringen ist allerdings ein detaillierter und in sich schlüssiger Vortrag ohne wesentliche Widersprüche und Steigerungen.
b) Der Kläger hat individuell nichts vorgetragen, was auf eine ihm in Afghanistan drohende flüchtlingsrelevante Verfolgung schließen lässt. Er hat sich nie in Afghanistan aufgehalten, eine flüchtlingsrelevante Verfolgung dort ist somit nicht erkennbar.
Auch aufgrund seiner Zugehörigkeit zur Volksgruppe der Hazara ist eine gruppengerichtete Verfolgung zu verneinen.
Die rechtlichen Voraussetzungen für die Annahme einer Gruppenverfolgung sind in der höchstrichterlichen Rechtsprechung grundsätzlich geklärt (BVerwG, U.v. 18.7.2006 – 1 C 15/05 – BVerwGE 126, 243). Danach setzt die Annahme einer alle Gruppenmitglieder erfassenden gruppengerichteten Verfolgung voraus, dass eine bestimmte „Verfolgungsdichte“ vorliegt, die die Vermutung eigener Verfolgung rechtfertigt. Hierfür ist die Gefahr einer so großen Vielzahl von Eingriffshandlungen in flüchtlingsrechtlich geschützte Rechtsgüter erforderlich, dass es sich dabei nicht mehr nur um vereinzelt bleibende individuelle Übergriffe oder um eine Vielzahl einzelner Übergriffe handelt. Die Verfolgungshandlungen müssen vielmehr im Verfolgungszeitraum und Verfolgungsgebiet auf alle sich dort aufhaltenden Gruppenmitglieder zielen und sich in quantitativer und qualitativer Hinsicht so ausweiten, wiederholen und um sich greifen, dass daraus für jeden Gruppenangehörigen nicht nur die Möglichkeit, sondern ohne Weiteres die aktuelle Gefahr eigener Betroffenheit entsteht (BayVGH, U.v. 3.7.2012 – 13A B 11.30064 – juris Rn. 20). Ob Verfolgungshandlungen gegen eine bestimmte Gruppe von Menschen in deren Herkunftsstaat die Voraussetzungen der notwendigen Verfolgungsdichte erfüllen, ist aufgrund einer wertenden Betrachtung im Sinn der Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung zu entscheiden (BVerwG, U.v. 18.7.2006 – 1 C 15/05 a.a.O.).
Die Hazara sind eine in Untergruppen zerfallende Minderheiten-Volksgruppe in Afghanistan mit Siedlungsschwerpunkt in der Provinz Bamyan; ihre Zahl wird auf rund 1,5 Mio. Menschen in Afghanistan und rund 150.000 Menschen im Iran geschätzt. Hazara unterlägen zwar fortwährender, sozial, rassisch oder religiös motivierter gesellschaftlicher Diskriminierung in Form von Gelderpressungen durch illegale Besteuerung, Zwangsrekrutierung, Zwangsarbeit, physischer Gewalt und Haft; die Zahl der Entführungen sei seit dem Jahr 2015 gestiegen, teils freigelassen bzw. gegen andere Häftlinge ausgetauscht worden (Amnesty International – AI, Auskunft an das VG Wiesbaden vom 5.2.2018, S. 21 f., 69 f. mit Verweis auf Bamyan als arme Region aber mit wenigen Sicherheitsvorfällen; EASO Country of Origin Information Report, Individuals targeted by armed actors in the conflict, Dezember 2017, S. 53, 55 a.E.). Es fehlt aber an der für die Annahme einer Gruppenverfolgung erforderlichen kritischen Verfolgungsdichte (vgl. BayVGH, B.v. 24.1.2018 – 13a ZB 17.31611 – Rn. 6 m.w.N.; VGH BW, U.v. 17.1.2018 – A 11 S 241/17 – juris Rn. 68, 76 ff.). Auch unter Berücksichtigung und Würdigung der aktuellen Auskunftslage und der Stellungnahme des UNHCR (UNHCR, International Protection Needs of Asylum-Seekers from Afghanistan vom 30.8.2018, S. 61) ergibt sich keine abweichende rechtliche Bewertung. Nach dem Lagebericht des Auswärtigen Amts hat sich für die während der Taliban-Herrschaft besonders verfolgten Hazara die Lage grundsätzlich verbessert (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan vom 31.5.2018, im Folgenden: Lagebericht, S. 9 f.; EASO Country of Origin Information Report, Individuals targeted by armed actors in the conflict, Dezember 2017, S. 53 f.). Die im Lagebericht geschilderten Überfälle auf schiitische Einrichtungen in Kabul und anderen Städten des Landes zeigen die latenten Spannungen zwischen IS und Hazara, führen aber in ihrer räumlichen und zeitlichen Verteilung nicht zur Annahme einer auch in Kabul so für Hazara gesteigerten Leibes- und Lebensgefahr, die jeden zurückkehrenden Hazara treffen würde (vgl. auch VGH BW, U.v. 11.4.2018 – A 11 S 924/17 – juris Rn. 47 ff.). Eine höhere Gefahr besteht bei schiitischen Versammlungen und politischen Demonstrationen von Hazara (EASO Country of Origin Information Report, Individuals targeted by armed actors in the conflict, Dezember 2017, S. 54). Gleichwohl zeigt eine Auswertung der Überfälle auf Busreisende, dass Hazara weniger wegen ihrer ethnischen Zugehörigkeit als vielmehr wegen ihrer – auch als Beschäftigte der Regierung oder von Nichtregierungsorganisationen – intensiveren Reisetätigkeit im Vergleich zu anderen Volksgruppen häufiger Ziel von Überfällen und Entführungen entlang der Überlandstraßen werden, wobei die Zahl der Vorfälle zwischen 2015 und 2016 abgenommen habe (EASO Country of Origin Information Report, Individuals targeted by armed actors in the conflict, Dezember 2017, S. 54 f.; anders UNHCR, International Protection Needs of Asylum-Seekers from Afghanistan vom 30.8.2018, S. 93 f.). Eine vorwiegend ethnische Anknüpfung solcher Überfälle ist nicht belegt; im Gegenteil erfolgt vielfach keine eindeutige Differenzierung nach ethnischer oder religiöser Zugehörigkeit (vgl. nur UNHCR, International Protection Needs of Asylum-Seekers from Afghanistan vom 30.8.2018, S. 90 f. zu überwiegend schiitischen Hazara). Zudem sind Angriffe des IS auf Hazara in deren Hauptsiedlungsgebiet nicht belegt, sondern gezielt auf schiitische Einrichtungen (Auswärtiges Amt, Auskunft vom 13.6.2018 an das VG Augsburg, S. 2).
Die Situation einer gewissen Diskriminierung gilt auch für die Zugehörigkeit zur Religionsgruppe der Schiiten, da Schiiten zwar nicht in allen Landesteilen gleichermaßen zahlenmäßig vertreten sind, aber doch neben den Sunniten mit etwa 19% die zahlenmäßig nächst große Religionsgruppe bilden (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan vom 31.5.2018, S. 10 f.) und ein entsprechendes Gegengewicht bilden, so dass nicht von einer landesweiten Gruppenverfolgung ausgegangen werden kann. Sowohl im Rat der Religionsgelehrten als auch im Hohen Friedensrat sind auch Schiiten vertreten. Beide Gremien betonen, dass die Glaubensausrichtung keinen Einfluss auf ihre Zusammenarbeit habe (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan vom 31.5.2018 S. 11). Auch wenn sich einzelne lokale oder regionale Angriffe der Taliban und des IS gegen Angehörige und Einrichtungen schiitischer Religionszugehörigkeit richten (vgl. AI, Auskunft vom 8.1.2018 an das VG Leipzig, S. 8; Lagebericht S. 11; EASO Country of Origin Information Report, Individuals targeted by armed actors in the conflict, Dezember 2017, S. 53 f.; Auswärtiges Amt, Auskunft vom 13.6.2018 an das VG Augsburg, S. 2) und Übergriffe gegen Schiiten seit dem Jahr 2016 zugenommen haben (UNHCR, International Protection Needs of Asylum-Seekers from Afghanistan vom 30.8.2018, S. 61 zu Schiiten), fehlt es jedenfalls an der für die Annahme einer landesweiten Gruppenverfolgung erforderlichen kritischen Verfolgungsdichte. Schiiten sind daher keiner an ihre Religionszugehörigkeit anknüpfenden, gruppengerichteten Verfolgung durch die Taliban oder andere nichtstaatliche Akteure ausgesetzt (vgl. VG Augsburg, U.v. 23.10.2017 – Au 6 K 16.32308 – juris Rn. 20 m.w.N.).
c) Dem Kläger ist die Flüchtlingseigenschaft somit nicht zuzuerkennen, weil er sich in Kabul sicher (dazu sogleich) und legal und in diesem Teil des Herkunftslandes ohne begründete Furcht vor Verfolgung aufhalten kann (§ 3e Abs. 1 AsylG).
2. Der Kläger hat auch keinen Anspruch auf die Gewährung subsidiären Schutzes i.S. des § 4 Abs. 1 AsylG. Er hat keine stichhaltigen Gründe für die Annahme vorgebracht, dass ihm bei einer Rückkehr nach Afghanistan ein ernsthafter Schaden i.S. des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nrn. 1 bis 3 AsylG droht.
a) Der Kläger hat eine ernsthafte Bedrohung, die dem afghanischen Staat zurechenbar wäre, so sie eine Gefährdungslage i.S. des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG begründen würde, nicht geltend gemacht.
b) Auch die Voraussetzungen des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG liegen nicht vor. Dem Kläger droht bei einer Rückkehr nach Afghanistan nach derzeitigem Kenntnisstand des Gerichts auch keine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts. Jedenfalls ist ihm im Zeitpunkt der vorliegenden Entscheidung eine Rückkehr nach Kabul zumutbar.
aa) Die Frage, ob die in Afghanistan oder Teilen von Afghanistan stattfindenden gewalttätigen Auseinandersetzungen nach Intensität und Größenordnung als vereinzelt auftretende Gewalttaten i.S. von Art. 1 Nr. 2 des Zusatzprotokolls vom 8. Juni 1977 zu den Genfer Abkommen vom 12. August 1949 über den Schutz der Opfer nicht internationaler bewaffneter Konflikte (BGBl. 1990 II S. 1637) – ZP II – oder aber als anhaltende Kampfhandlungen bewaffneter Gruppen im Sinne von Art. 1 Nr. 1 ZP II zu qualifizieren sind, kann dahinstehen, weil nach der Überzeugung des Gerichts der Kläger keiner erheblichen individuellen Gefahr für Leib oder Leben ausgesetzt wäre. Denn es fehlt vorliegend an einer Verdichtung allgemeiner Gefahren, die weitere Voraussetzung für die Zuerkennung subsidiären Schutzes nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG ist.
bb) Das Gericht ist der Überzeugung, dass der Kläger bei einer Rückkehr nach Afghanistan jedenfalls in Kabul keiner Verfolgung ausgesetzt wäre und Kabul als innerstaatliche Fluchtalternative noch geeignet und zumutbar ist, so dass erwartet werden kann, dass er sich dort vernünftigerweise niederlässt.
Grundsätzlich ist Kabul im Hinblick auf die allgemeine Sicherheitslage als Fluchtalternative geeignet. Das Risiko, dort durch Anschläge Schaden an Leib oder Leben zu erleiden, ist weit unterhalb der Schwelle der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (vgl. BayVGH, B.v. 23.5.2017 – 13a ZB 17.30314 – Rn. 6 ff.; BayVGH, B.v. 20.2.2018 – 13a ZB 17.31970 – Rn. 6; VGH BW, U.v. 11.4.2018 – A 11 S 924/17 – juris Rn. 365 ff.): Auch aus dem Lagebericht des Auswärtigen Amtes, der Lagebeurteilung des Auswärtigen Amtes und weiteren Quellen ergibt sich nicht, dass sich die Sicherheitslage in Kabul trotz gezielter Angriffe auf ausländische und afghanische Einrichtungen (dazu BT-Drs. 19/1120, S. 6 a.E.; UNHCR, International Protection Needs of Asylum-Seekers from Afghanistan vom 30.8.2018, S. 18) im Vergleich zur Einschätzung in den vorangegangenen Lageberichten derart wesentlich verschlechtert hätte (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 31.5.2018, S. 5, mit Verweis auf UNAMA-Daten, S. 18 f. – im Folgenden: Lagebericht).
Die Hauptgefährdung der afghanischen Zivilbevölkerung geht demnach landesweit von lokalen Machthabern und Kommandeuren aus, die sich der Kontrolle der Zentralregierung entziehen und häufig ihre Macht missbrauchen. Neben medienwirksamen Anschlägen auf militärische wie zivile internationale Akteure wurden vermehrt Anschläge auf afghanische Sicherheitskräfte verübt mit gestiegenen Opferzahlen insbesondere unter Armeeangehörigen (Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 31.5.2018, S. 17). Die im Vergleich zum Jahr 2016 etwas gesunkene (Rückgang um 9% gegenüber dem Vorjahr) Gesamtzahl ziviler Opfer von 3.438 toten und 7.015 verletzten Zivilisten landesweit im Jahr 2017 resultiert vor allem aus weniger Opfer fordernden Kampfhandlungen, während Selbstmordattentate und komplexen Anschläge etwa 22% der zivilen Opfer verursachten und um 17% auf 2.295 Opfer stiegen (UNAMA, Protection of Civilians in Armed Conflict, Annual Report 2017, S. 1 f. mit Fn. 6; ebenso UNHCR, International Protection Needs of Asylum-Seekers from Afghanistan vom 30.8.2018, S. 19 unter Verweis auf UNAMA). In der Provinz Kabul seien 88% der 1.831 zivilen Opfer auf solche Attentate regierungsfeindlicher Kräfte zurückzuführen (vgl. UNAMA a.a.O. S. 4). Auffallend sei die Zunahme von Anschlägen auf religiöse Ziele insbesondere der Schiiten durch Terroristen des IS (vgl. Lagebericht, S. 20; UNHCR, International Protection Needs of Asylum-Seekers from Afghanistan vom 30.8.2018, S. 20 f.; sowie EASO Country of Origin Information Report, Afghanistan, Security Situation, Update Mai 2018, S. 30), während UNAMA die Anstrengungen der Regierungskräfte würdigt, zivile Opfer bei Kampfhandlungen zu vermeiden (vgl. UNAMA a.a.O. S. 3). Erstrangiges Ziel der Aufständischen seien ausländische Streitkräfte, Regierungsvertreter und die als Verbündete angesehenen afghanischen Sicherheitskräfte und Regierungsmitglieder sowie Regierungsbedienstete (Auswärtiges Amt, Lagebeurteilung vom 28.7.2017, S. 6 ff. Nr. 23 f., 28); für sie fluktuiere die Bedrohungslage regional (Auswärtiges Amt, ebenda S. 7 Nr. 24), sowie der Unterstützung für diese verdächtige Zivilisten (vgl. UNAMA a.a.O. S. 3; auch Amnesty International – AI, Auskunft an das VG Wiesbaden vom 5.2.2018, S. 19, 26; AI, Auskunft vom 8.1.2018 an das VG Leipzig, S. 3 f.).
Diese Entwicklung wird auch durch die Daten aus dem ersten Halbjahr 2018 belegt, wonach im Vergleich zum Vorjahresvergleichszeitraum die Gesamtzahl der zivilen Opfer geringfügig von 5.272 auf 5.122 Personen gesunken, dabei aber die Zahl getöteter Zivilisten um 1% gestiegen und die Zahl verletzter Zivilisten um 5% gesunken ist (vgl. UNAMA, Midyear Update on the Protection of Civilians in Armed Conflict vom 15.7.2018, S. 1). Knapp die Hälfte aller zivilen Opfer landesweit waren auf Sprengstoffanschläge zurückzuführen, in der Provinz Nangarhar sogar zwei Drittel und in der Provinz Kabul gar 95% (vgl. UNAMA a.a.O. S. 1 f.), wobei der IS sich etwa der Hälfte der Anschläge berühmte und insbesondere im zwischen afghanischem Staat und Taliban vereinbarten Feiertags-Waffenstillstand die Feuerruhe brach (vgl. UNAMA a.a.O. S. 2, 6).
Für afghanische Zivilisten gehe eine Bedrohung für Leib und Leben in ländlichen Gebieten insbesondere von Kampfhandlungen zwischen den Konfliktparteien sowie improvisierten Sprengkörpern, Selbstmordanschlägen und komplexen Angriffen auf staatliche Einrichtungen und in städtischen Gebieten vor allem von Selbstmordanschlägen und komplexen Angriffen sowie gezielten Tötungen und Entführungen aus (vgl. UNAMA a.a.O. S. 1, 4; sowie EASO Country of Origin Information Report, Afghanistan, Security Situation, Update Mai 2018, S. 25 f., unter Verweis auf UNAMA-Daten). Systematisch staatlich organisierte Gewalt gegen die eigene Bevölkerung findet nicht statt; im Gegenteil tragen die Bemühungen um Schonung von Zivilisten bei Einsätzen afghanischer Sicherheitskräfte Früchte in einem Rückgang derart verursachter Opfer um 21% (vgl. UNAMA a.a.O. S. 5). Soweit eine landesweite Gefährdung von Zivilisten durch Kampfhandlungen, Anschläge und Verfolgung gesehen wird (vgl. Amnesty International – AI, Auskunft an das VG Wiesbaden vom 5.2.2018, S. 2), widerspricht dies der Einschätzung von UNAMA nicht, da die Intensität der Gefährdung von zahlreichen Faktoren abhängt (vgl. AI ebenda S. 2 ff., 16 f., 43 ff. unter Verweis u.a. auf UNAMA).
Für Kabul teilt die Unterstützungsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan (UN Assistance Mission in Afghanistan, UNAMA) in ihrem Jahresbericht für 2017 um 4% im Vergleich zum Jahr 2016 auf 1.831 zivile Opfer, darunter 479 getötete und 1.325 verletzte Zivilsten gestiegene Opferzahlen mit (vgl. Protection of Civilians in Armed Conflict, Annual Report 2017, S. 4, 67). So bestätigte auch die Schweizerische Flüchtlingshilfe (Schweizerische Flüchtlingshilfe, Schnellrecherche der SFH-Länderanalyse vom 19.6.2017 zu Afghanistan: Sicherheitslage in der Stadt Kabul, S. 2; ebenso EASO Country of Origin Information Report, Afghanistan, Security Situation, Update Mai 2018, S. 25 f.), dass die Provinz Kabul im Jahr 2016 unter allen afghanischen Provinzen die meisten zivilen Toten und Verletzten zu verzeichnen gehabt habe. Nächst hohe Opferzahlen werden aus den Provinzen Helmand, Nangarhar, Kandahar, Faryab und Uruzgan gemeldet (vgl. UNAMA a.a.O. S. 4; auch UNAMA, Midyear Update on the Protection of Civilians in Armed Conflict vom 15.7.2018, S. 1). Das Selbstmordattentat vom 31. Mai 2017 in Kabul sei der folgenschwerste Angriff nach den Aufzeichnungen der UNAMA seit dem Jahr 2011 (UNAMA a.a.O. S. 28 f.; ähnlich SFH a.a.O., S. 3 f.). Diese Datenlage zeigt also einerseits etwa gleichbleibende gesamte Opferzahlen, allerdings einen Anstieg der zivilen Opferzahlen und eine relative Verschlechterung der Sicherheitslage in Stadt und Provinz Kabul durch die Zunahme gezielter Anschläge (vgl. UNHCR, International Protection Needs of Asylum-Seekers from Afghanistan vom 30.8.2018, S. 17 ff.; AI, Auskunft vom 8.1.2018 an das VG Leipzig, S. 4 f., 8). Allerdings hat die Zunahme von Anschlägen bei gleichzeitig erheblicher Zunahme der Bevölkerung dort auch durch Wanderungsbewegungen (vgl. Lagebericht S. 19 a.E.) nach Überzeugung des Gerichts nicht zu einer solchen Verschlechterung der Sicherheitslage in der Zentralregion und in Stadt und Provinz Kabul geführt, dass vernünftigerweise nicht mehr erwartet werden könnte, dass ein Rückkehrer sich dort niederlässt. Die allgemeine Gefährdungslage dort erreicht keine Intensität, dass ein innerstaatlicher bewaffneter Konflikt im Sinne von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG nach den von der Rechtsprechung gestellten Anforderungen an einen solchen Konflikt (vgl. BayVGH, B.v. 20.2.2018 – 13a ZB 17.31970 – Rn. 6; BayVGH, B.v. 26.3.2018 – 13a ZB 17.30438 – Rn. 7) angenommen werden könnte. Ausgehend von einer Opferzahl von rund 10.500 zivilen Opfern im Jahr 2017 und einer Bevölkerungszahl in Afghanistan von mindestens 27 Mio. Menschen ist das Risiko, dort durch Anschläge Schaden an Leib oder Leben zu erleiden, landesweit noch weit unterhalb der Schwelle der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (vgl. BayVGH, B.v. 11.12.2017 – 13a ZB 17.31374 – juris Rn. 6 ff.: Wahrscheinlichkeit weit unter 1:800) und es besteht auch keine zu einem Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 oder § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG führende Gefahrenlage (vgl. BayVGH, B.v. 20.2.2018 – 13a ZB 17.31970 – Rn. 6; BayVGH, B.v. 26.3.2018 – 13a ZB 17.30438 – Rn. 7). Dies gilt auch für die Stadt Kabul mit einer von UNAMA mitgeteilten Opferzahl im Jahr 2017 von 1.831 zivile Opfern bei einer Einwohnerzahl in der Stadt Kabul von geschätzt 4,5 Mio. Menschen (UNAMA a.a.O. S. 4, 67; vgl. auch Auswärtiges Amt, Länderinformationen Afghanistan, Schätzung 2011, www…de, Abruf vom 7.6.2017).
Soweit Organisationen wie UNHCR und Pro Asyl sowie Presseberichte auf die Zunahme von Anschlägen in Kabul verweisen (vgl. UNHCR, International Protection Needs of Asylum-Seekers from Afghanistan vom 30.8.2018), folgen sie eigenen Maßstäben, nicht jenen der o.g. Rechtsprechung. Dass die Opferzahlen – bei anderer Zählweise – höher liegen können, wie teils eingewandt wird (vgl. Stahlmann, Asylmagazin 2017, 82 mit Fn. 2), ändert diese Bewertung nicht, denn die von UNAMA mitgeteilten Daten sind methodisch nachvollziehbar ermittelt und auch deswegen belastbar (dies räumt auch das Schweizerische Bundesverwaltungsgericht, U.v. 13.10.2017 – D-5800/2016 – www.bvger.ch, Urteilsabdruck S. 18 f. ein), da sie von einer von der internationalen Staatengemeinschaft getragenen Organisation stammen. UNAMA wurde auf Grund der Resolution Nr. 1401 des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen eingerichtet auf Bitten der afghanischen Regierung; das Mandat wurde bis heute verlängert, zuletzt am 17. März 2017 mit Resolution Nr. 2344. UNAMA ist landesweit vertreten und unterhält Verbindungsbüros in Pakistan und im Iran; die Mission hat mehr als 1.500 Beschäftigte, darunter etwa 1.150 afghanische Beschäftigte (vgl. UNAMA, Mandate, Methodology, a.a.O.). Dass die Methodik der UNAMA überholt wäre, die Informationen an offen erkennbaren inhaltlichen Defiziten litten, insbesondere an entscheidungserheblichen unzutreffenden Tatsachenannahmen, unlösbaren Widersprüchen, sich aus den Stellungnahmen ergebenden Zweifeln an der Sachkunde oder der Unparteilichkeit oder eines speziellen, hier nicht vorhandenen Fachwissens bedürften (vgl. BVerwG, U.v. 22.10.2015 – 7 C 15.13 – NVwZ 2016, 308/312 Rn. 47 m.w.N.), ist weder ersichtlich noch substantiiert gerügt. Im Gegenteil liegen für Afghanistan mangels Einwohnermeldewesens auch für die Bevölkerungszahlen nur Schätzungen vor (dies räumt das Schweizerische Bundesverwaltungsgericht, U.v. 13.10.2017 – D-5800/2016 – Urteilsabdruck S. 18 f. ein; auch Stahlmann, Asylmagazin 2017, 73/74), so dass jede Datenerhebung schon deswegen an tatsächliche Grenzen stößt. Dass und weshalb andere Auskunftsquellen methodisch belastbarere Primärdaten hätten (auch SFH a.a.O. gibt keine selbst erhobenen Daten wieder), ist nicht ersichtlich, so dass die Daten von UNAMA weiterhin zu Grunde gelegt werden (vgl. Amnesty International, Afghanistan 2017 vom 15.2.2017, S. 3; Amnesty International – AI, Auskunft an das VG Wiesbaden vom 5.2.2018, S. 2, 47 ff. jeweils unter Verweis auf UNAMA-Daten; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Afghanistan Update vom 14.9.2017, S. 4 ff.).
Die o.g. genannten Daten zu Grunde gelegt erreicht die allgemeine Gefährdungslage in Kabul keine Intensität, dass Stadt und Provinz Kabul im Hinblick auf die allgemeine Sicherheitslage als Fluchtalternative nicht mehr geeignet wären (vgl. BayVGH, B.v. 11.12.2017 – 13a ZB 17.31374 – juris Rn. 6 ff.; BayVGH, B.v. 20.2.2018 – 13a ZB 17.31970 – Rn. 6). Daran wird auch im vorliegenden Fall festgehalten.
c) Zudem ist der Kläger insoweit auch auf eine zumutbare Fluchtalternative nach § 4 Abs. 1 und Abs. 3 Satz 1 i.V.m. § 3e AsylG zu verweisen.
Dem Kläger ist Kabul auch wirtschaftlich zumutbar. Ihm droht erst recht keine erhebliche konkrete Gefahr für Leib oder Leben wegen der allgemeinen Versorgungslage in Kabul (dazu sogleich). Das Gericht geht davon aus, dass der Kläger seinen Lebensunterhalt in Kabul sicherstellen kann (vgl. BayVGH, B.v. 12.9.2018 – 13a ZB 17.31021 – Rn. 7 ff.). Auch wenn hierfür mehr zu fordern ist als ein kümmerliches Einkommen zur Finanzierung eines Lebens am Rande des Existenzminimums (vgl. BVerwG, U.v. 31.1.2013 – 10 C 15/12 – juris Rn. 20), ist doch vernünftigerweise zu erwarten, dass der Kläger sich in Kabul aufhält und seinen Lebensunterhalt dort sicherstellt. Es ist zu erwarten, dass der Kläger als gesunder Mann auch ohne nennenswertes Vermögen oder familiäre bzw. sonstige Kontakte seinen Lebensunterhalt in Kabul sicherstellen kann (vgl. BayVGH, B.v. 24.1.2018 – 13a ZB 17.31611 – Rn. 6 m.w.N.; VGH BW, U.v. 17.1.2018 – A 11 S 241/17 – juris Rn. 470 ff.; VGH BW, U.v. 11.4.2018 – A 11 S 924/17 – juris Rn. 345 ff.).
Zwar wird darauf verwiesen, der Zugang zu Wohnung und Arbeit hänge maßgeblich von Netzwerken vor Ort ab (vgl. Stahlmann, Asylmagazin 2017, 73/76 f., 78; Stahlmann, Gutachten an das VG Wiesbaden vom 28.3.2018, S. 191 ff.). Allerdings ist nicht davon auszugehen, dass die große Zahl aus den Nachbarstaaten zurückkehrender Afghanen über solche Netzwerke verfügt (Stahlmann, Asylmagazin 2017, 73/75 spricht von über 1 Mio. Rückkehrern allein im Jahr 2016; bestätigt durch Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 31.5.2018 – im Folgenden: Lagebericht, S. 20, 24 unter Verweis auf UNHCR: etwa 670.000 Binnenvertriebene im Jahr 2016 und 450.000 im Jahr 2017 sowie bisher 54.000 im Jahr 2018; hohe Anforderungen an funktionsfähige Netzwerke stellt Stahlmann, Gutachten vom 28.3.2018 an das VG Wiesbaden, S. 192 ff.). Etwa 610.000 Afghanen sind im Jahr 2017 aus Iran und Pakistan zurückgekehrt (Lagebericht, S. 28 unter Verweis auf UNHCR und IOM). Die Gesamtzahl der Binnenvertriebenen wurde für Ende 2017 auf etwa 2 Mio. Personen geschätzt (Amnesty International, Zurück in die Gefahr 2017, S. 12; dazu auch Amnesty International – AI, Auskunft an das VG Wiesbaden vom 5.2.2018, S. 45); in der Provinz Kabul seien nach Daten von IOM über 437.000 Personen entsprechend 9% der Bevölkerung Vertriebene oder Auslandsrückkehrer, wovon 5.425 Personen entweder in Zelten oder unter freiem Himmel lebten (EASO Country of Origin Information Report, Afghanistan, Security Situation, Update Mai 2018, S. 32). Insgesamt leben rund 6.5 Mio. Afghanen außer Landes, etwa 18,4% der Gesamtbevölkerung (BT-Drs. 19/1120, S. 14). Durch diese Auflösung überkommener Strukturen besteht die soziale Notwendigkeit, neue und von gewachsenen Strukturen unabhängige Netzwerke unter den Rückkehrern zu bilden oder ohne solche zu leben (vgl. VGH BW, U.v. 11.4.2018 – A 11 S 924/17 – juris Rn. 346 ff.)
In diesem Sinne werden dauerhafte familien- und stammesbasierte Netzwerken einerseits und sich dynamisch wandelnde sektorspezifische Netzwerke beispielsweise in der Wirtschaft andererseits (sog. quam) unterschieden (EASO, Afghanistan Networks, Februar 2018, S. 10, 18 f.). Traditionelle Netzwerke haben durch Landflucht und Verstädterung sowie die Folgen des Krieges an Wirksamkeit abgenommen. Gleichwohl ist es zuerst die erweiterte generationenübergreifende Familie vorrangig väterlicherseits, welche die Existenz des Einzelnen sichert und umgekehrt seine Arbeitskraft für die Gruppe beansprucht und wesentlich auf der Blutsbeziehung beruht, während andere Netzwerke auf persönlichen Beziehungen der Beteiligten untereinander beruhen (EASO, Afghanistan Networks, Februar 2018, S. 12 f., 14). Selbst durch Auslandsaufenthalte abgeschwächte Familienbande lassen sich durch Rückkehrer wieder stärken; je länger ein Afghane allerdings im Ausland gelebt hat, desto schwieriger ist die Wiederaufnahme solcher Beziehungen (EASO, Afghanistan Networks, Februar 2018, S. 13 f.). Die Familiengruppe (Clan) ist die erweiterte Großfamilie, der Stamm die durch gemeinsame Vorfahren gebildete Großgruppe, deren Bedeutung in der paschtunischen Volksgruppe am deutlichsten ausgeprägt ist und sich in der privaten Aufnahme Hunderttausender Paschtunen aus Pakistan durch Paschtunen in Afghanistan während einer pakistanischen Militäroffensive in den dortigen westlichen Stammesgebieten zeigte (EASO, Afghanistan Networks, Februar 2018, S. 15 f.). Nicht familienbasierte Netzwerke (quam), z.B. aus gemeinsamer Zeit in demselben Beruf, an derselben Universität oder auch in demselben Flüchtlingslager können ebenfalls Unterstützung sichern, die umso größer ist, je enger das Vertrauensverhältnis der Personen untereinander ist (EASO, Afghanistan Networks, Februar 2018, S. 17). Wanderung insbesondere junger Männer zur Arbeitsaufnahme und Unterstützung des Familienverbandes ist Afghanen keineswegs fremd, sondern charakteristisch für eine weitverbreitete Strategie zur Unterstützung Einzelner und der Gruppe (EASO, Afghanistan Networks, Februar 2018, S. 19). Einen minderjährigen Familienangehörigen in die Fremde, gar nach Europa zu schicken, ist eine Entscheidung der gesamten Familie und ohne deren Billigung und Unterstützung auch nicht möglich; sie erhofft sich dadurch finanzielle Unterstützung und eine personenbezogene Verankerung in der Ferne des Westens mit der Möglichkeit, die restliche Familie nachzuholen, zumal Afghanen mit den Asylumständen in Europa vertraut sind und für Minderjährige ein leichter erlangbares Bleiberecht erhoffen (EASO, Afghanistan Networks, Februar 2018, S. 20 f.). Im Jahr 2017 überwiesen Afghanen aus dem Ausland 479 Mio. USD in ihre Heimat – für viele Familie eine wichtige Einkommensquelle (BT-Drs. 19/1120, S. 15). Erfahrungsgemäß halten Afghanen im Ausland – auch in Europa – enge Verbindung zu ihrer Großfamilie, selbst wenn ihnen (und besonders Minderjährigen) geraten wird, in Asylverfahren deren Existenz zu verneinen (EASO, Afghanistan Networks, Februar 2018, S. 23). Die tatsächlich enge Verbindung zeigt sich sowohl im Heiratsverhalten von Auslandsafghanen innerhalb der eigenen ethnischen Gruppe bis hin zu Familiennachzügen aus Afghanistan einerseits sowie in den enormen finanziellen Rückflüssen aus dem Westen nach Afghanistan, die nach (wegen des informellen hawala-Systems nur) Schätzungen der Weltbank von rund 85. Mio. USD im Jahr 2008 auf rund 300 Mio. USD im Jahr 2015 angestiegen sind (EASO, Afghanistan Networks, Februar 2018, S. 24, zu hawala ebenda S. 31; die Bedeutung der Geldüberweisungen erkennt auch Stahlmann, Gutachten vom 28.3.2018 an das VG Wiesbaden, S. 197, an). Der Kontakt wird vorwiegend über Mobiltelefone gehalten, von denen mindestens die Hälfte der Großfamilien über eines verfügt bei rund 25 Mio. Anschlussnehmern und fünf großen Netzanbietern in Afghanistan, zunehmend über Internet (EASO, Afghanistan Networks, Februar 2018, S. 25 f.; dies räumt Stahlmann, Gutachten vom 28.3.2018 an das VG Wiesbaden, S. 192, ein).
Letztlich kommt es auf die individuelle Rückkehrsituation für alleinstehende leistungsfähige Männer bzw. für verheiratete Paare im berufsfähigen Alter an (vgl. BayVGH, B.v. 19.6.2017 – 13a ZB 17.30400 – juris Rn. 15) bezogen auf Unterkunft und Arbeit (so auch UNHCR, International Protection Needs of Asylum-Seekers from Afghanistan vom 30.8.2018, S. 9 f., wobei eine generell zu bejahende Zumutbarkeit der Rückkehr nach Kabul ablehnt wird). Insofern bemerkenswert ist, dass die Volksgruppen in Kabul an ethnisch getrennten Wohnformen nicht mehr festhalten (können): So sind in Kabul fast alle Volksgruppen vertreten, insbesondere Paschtunen, Tadschiken, Hazara, Usbeken, Turkmenen, Baluchen, Sikh und Hindu, ohne dass eine Volksgruppe unter ihnen deutlich vorherrscht. Auch wenn die Angehörigen der Volksgruppen zu einer Ansiedlung bei ihren Familien oder im Kreis ihrer Volksgruppe neigen (Nutzung von quam, EASO, Afghanistan Networks, Februar 2018, S. 17), haben sich doch auch Volksgruppenübergreifende Nachbarschaften gebildet (EASO Country of Origin Information Report, Afghanistan, Key socio-economic indicators, August 2017, S. 17, 68 a.E.; die ethischen „Dörfer in der Stadt“ betont EASO, Afghanistan Networks, Februar 2018, a.a.O. S. 11). Die Kernherausforderung ist, trotz der geschätzten Arbeitslosenrate von 40% eine Beschäftigung zu finden, wobei die Beschäftigungsquote von Frauen in Vollzeit in einem männerdominierten Arbeitsmarkt ohnehin gering ist (in Kabul und Herat ca. 20%, in Mazar-e-Sharif ca. 5%). Etwa 90% der Arbeitsplätze sind nicht dauerhaft und die Arbeitslosenrate unter jungen Menschen (15 – 24 Jahre) deutlich höher als in der übrigen männlichen Bevölkerung (EASO Country of Origin Information Report, Afghanistan, Key socio-economic indicators etc. a.a.O. S. 22; zum Ganzen auch UNHCR, International Protection Needs of Asylum-Seekers from Afghanistan vom 30.8.2018, S. 16 f.). Die Beschäftigung weist hauptsächlich zwei Arten von Arbeitsverhältnissen auf, förmliche Arbeitsstellen in Regierung, Hilfsorganisationen und einem Teil der Wirtschaft mit etwa 20% der Arbeitsverhältnisse in den Städten, sowie unqualifizierte Stellen in den Bazaren, als Tagelöhner im Bausektor (mit sinkendem Anteil in Folge des Rückgangs des internationalen Militärengagements) und in der Landwirtschaft sowie in familiären Netzwerken (ebenda S. 22). Hingegen können trotz der hohen Arbeitslosenrate tausende Stellen für qualifizierte Beschäftigte nicht besetzt werden (ebenda S. 23). Die Beschäftigungsmöglichkeiten für Rückkehrer hängen insbesondere von Bildung (Sprache, Schrift, Rechenfähigkeit) und Erfahrung ab, wobei Rückkehrer u.a. ihre Migrationserfahrung je nach Einzelfall für sich einsetzen können (ebenda S. 24; auch EASO, Afghanistan Networks, Februar 2018, S. 27 f.). Der durch den Rückzug der internationalen Truppen ausgelöste Rückgang der Wirtschaftsentwicklung hat sich nunmehr etwas stabilisiert (BT-Drs. 19/1120, S. 3 f.), was sich auch auf den Arbeitsmarkt auswirkt.
In der Provinz Kabul hängen die meisten Beschäftigungsverhältnisse noch direkt oder indirekt von der Landwirtschaft ab, auch hier hat sich die Perspektive einer Beschäftigung trotz im Landesvergleich besserer Aussichten durch die verschlechterte Sicherheitslage und den Rückgang des international militärischen Engagements verschlechtert (EASO Country of Origin Information Report, Afghanistan, Key socio-economic indicators etc. a.a.O. S. 28). Für Rückkehrer ist auch für ihren Zugang zu grundlegenden Rechten, förmlicher Beschäftigung und Unterkunft der Besitz von Identitätspapieren entscheidend (ebenda S. 40 f.). In der Zusammenfassung sind die Schwierigkeiten für Rückkehrer umso größer, je geringer ihre Arbeitsfähigkeit, ihre Bildung oder Vertrautheit mit den Lebensverhältnissen in Kabul ist (ebenda S. 103; ähnlich Amnesty International – AI, Auskunft an das VG Wiesbaden vom 5.2.2018, S. 15, 44, 55 f.), wobei familiäre Netzwerke solche Defizite eher auffangen können (Lagebericht, S. 28; EASO ebenda S. 65 f.) und die Zugehörigkeit zu einer Volksgruppe den Zugang zu einer Arbeit zwar nicht allein ermöglicht, aber erleichtern und Vorurteile gegenüber Rückkehrern mindern kann (ebenda S. 68; zum Ganzen auch Asylos, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 29 ff., 42 ff.; Amnesty International, Zurück in die Gefahr 2017, S. 20, 24, 32; auch EASO, Afghanistan Networks, Februar 2018, S. 27 f.; Amnesty International – AI, Auskunft an das VG Wiesbaden vom 5.2.2018, S. 50 ff., 65, 69 f.).
Angesichts der Bevölkerungsfluktuation in Afghanistan durch Rückkehrer auch aus dem benachbarten Ausland kann auf das Vorhandensein von bestehenden Netzwerken gerade nicht maßgeblich abgestellt werden (so aber das Schweizerische Bundesverwaltungsgericht, U.v. 13.10.2017 – D-5800/2016 – www…ch, Urteilsabdruck S. 26 f. selbst für junge gesunde Männer; auch Stahlmann, Gutachten vom 28.3.2018 an das VG Wiesbaden, S. 194), weil auch solche Netzwerke keine statischen Gebilde sind und ihre Veränderung bzw. Neubildung nicht ausgeschlossen sondern auch unter Afghanen möglich und zumutbar ist, wie ihre Neubildung auch in Europa zeigt.
Dass dem Kläger verwehrt wäre, ggf. neue Netzwerke zu bilden, ist nicht ersichtlich. Er ist volljährig und arbeitsfähig. Auch wenn er mit den Verhältnissen in Kabul nicht vertraut ist, weil er mit seiner Familie im Iran gelebt hat, ist eine ausreichende Sicherung des Lebensunterhalts möglich. Es ist maßgeblich nicht ein Vertrautsein erforderlich, sondern es genügt für einen Rückkehrer, wenn er den größten Teil seines Lebens in einer islamisch geprägten Umgebung verbracht hat und eine der beiden Landessprachen spricht (BayVGH, B.v. 29.6.2017 – 13a ZB 17.30597 – Rn. 6; BayVGH, B.v. 26.3.2018 – 13a ZB 17.30438 – Rn. 7), was bei dem Dari sprechenden Kläger der Fall ist. Durch seine Schulbildung und die berufliche Tätigkeit im Iran ist ihm eine Wiedereingliederung möglich, auch wenn es an einem familiären Netzwerk fehlt. Eine Rückkehr nach Afghanistan scheitert grundsätzlich nicht am fehlenden vorherigen Aufenthalt im Herkunftsland; maßgeblich ist, dass eine der beiden Landessprachen Dari oder Paschtu gesprochen wird (vgl. BayVGH, B.v. 29.6.2017 – 13a ZB 17.30597 – Rn. 6 m.w.N.; BayVGH, B.v. 26.3.2018 – 13a ZB 17.30438 – Rn. 7). Im Übrigen sind unter Berücksichtigung der Auskunftslage insbesondere Rückkehrer aus dem Westen in einer Position, die durchaus auch Perspektiven im Hinblick auf die Sicherung des Lebensunterhalts eröffnet (vgl. BayVGH, U.v. 13.5.2013 – 13a B 12.30052 – juris Rn. 12; VGH BW, U.v. 17.1.2018 – A 11 S 241/17 – juris Rn. 479, 484, 493). Zudem stehen ihm auch Rückkehrhilfen zur Verfügung (vgl. BAMF an VG Augsburg vom 12.08.2016), die jedenfalls für die Anfangszeit einer Wiedereingliederung des Klägers in die afghanischen Verhältnisse sein Auskommen sichern, bis er aus eigener Kraft seinen Lebensunterhalt sichern kann (aus GARP-Mitteln 500 Euro je Erwachsener, aus ERIN-Mitteln ca. 700 Euro, näher dazu VG Augsburg, U.v. 18.10.2016 – Au 3 K 16.30949 – Rn. 21 m.w.N.; auch Asylos, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 19, 21, asylos.eu/wp-content/uploads/2017/08/AFG2017-05-Afghanistan-Situation-of-young-male-Westernised-returnees-to-Kabul-1.pdf; zudem BT-Drs. 19/1120, S. 15 f.), wobei nur ein Sechstel der Rückkehrer auch Leistungen nach der Rückkehr in Anspruch nahm (Asylos ebenda S. 20). Hinzu kommt z.B. eine von Deutschland unterstützte Hilfsorganisation vor Ort (IPSO), welche psycho-soziale Hilfe für 400 bis 500 Personen am Tag anbietet wie u.a. Übungen für Kenntnisse des Alltags in Afghanistan, Einzelberatung, und handwerkliche Fähigkeiten (Asylos ebenda S. 53 m.w.N.), sowie eine von IOM unterhaltene Unterkunftsmöglichkeit für die ersten zwei Wochen nach der Ankunft (EASO, Afghanistan Networks, Februar 2018, S. 30).
4. Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 Satz 1 AufenthG liegen ebenfalls nicht vor.
Eine extreme allgemeine Gefahrenlage ergibt sich für den Kläger in Kabul als möglichem Zielort der Abschiebung weder aus seiner Volkszugehörigkeit noch hinsichtlich der allgemeinen Sicherheitslage (vgl. oben). Dem Kläger droht auch keine erhebliche konkrete Gefahr für Leib oder Leben wegen der allgemeinen Versorgungslage in Kabul (vgl. soeben).
Auch soweit die Bevollmächtigte des Klägers insoweit unter Bezug die Ausführungen im Gutachten von Stahlmann vom 28. März 2018 an das VG Wiesbaden die Auffassung vertritt, dass dem Kläger eine Rückkehr nach Afghanistan unzumutbar ist und zur Feststellung des Vorliegens eines Abschiebungsverbotes führen muss, folgt der Einzelrichter dieser Auffassung nicht. Wie der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg in Auseinandersetzung mit dem vorgenannten Gutachten im Einzelnen dargelegt hat, sind im „Falle leistungsfähiger, erwachsener Männer ohne Unterhaltsverpflichtungen und ohne familiäres oder soziales Netzwerk bei der Rückkehr aus dem westlichen Ausland“ die Voraussetzungen des Vorliegens eines Abschiebungsverbotes zu verneinen (VGH BW, U.v. 11.4.2018 – A 11 S 1729/17 – juris Rn. 331). Auf diese umfangreichen Ausführungen in der Rechtsprechung (a.a.O. Rn. 331 ff.) wird im Einzelnen Bezug genommen, der Einzelrichter schließt sich dieser Auffassung an.
5. Nachdem sich auch die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbotes nach § 11 Abs. 1 AufenthG als rechtmäßig erweist, war die Klage mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO abzuweisen. Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83b AsylG).
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 Abs. 2 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.


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