Verwaltungsrecht

Keine Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zum Familiennachzug wegen der Titelerteilungssperren des § 10 Abs. 3 Sätze 1 und 2 AufenthG

Aktenzeichen  10 C 20.1895

Datum:
17.9.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 24604
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AufenthG § 5 Abs. 1 Nr. 2, § 10 Abs. 3 S. 1, Abs. 3 S. 1, S. 2, S. 3, § 25 Abs. 5, § 28 Abs. 1 S. 1 Nr. 3, § 48 Abs. 1, § 54 Abs. 2 Nr. 9, § 98 Abs. 2 Nr. 2, Nr. 3
GG Art. 6
VwGO § 166 Abs. 1 S. 1
ZPO § 114 Abs. 1 S. 1
StGB § 78 Abs. 3 Nr. 4, § 78c Abs. 3 S. 2

 

Leitsatz

1. Ein strikter Rechtsanspruch i.S.d. § 10 Abs. 3 Satz 3 AufenthG setzt voraus, dass alle zwingenden und regelhaften Tatbestandsvoraussetzungen erfüllt sind, weil nur dann der Gesetzgeber selbst eine Entscheidung über das zu erteilende Aufenthaltsrecht getroffen hat. Zu einem Anspruch führen daher nicht Regelansprüche oder Ansprüche aufgrund von Sollvorschriften. (Rn. 7) (redaktioneller Leitsatz)
2. Soweit einer Erteilung der Aufenthaltserlaubnis gemäß § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG das Vorliegen eines Ausweisungsinteresses i.S.d. § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG i.V.m. § 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG entgegensteh,liegt kein Anspruch i.S.d. § 10 Abs. 3 Satz 3 AufenthG vor, der die Titelerteilungssperren des § 10 Abs. 3 Sätze 1 und 2 AufenthG überwinden könnte. (Rn. 8) (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

Au 6 K 20.1049 2020-08-04 Bes VGAUGSBURG VG Augsburg

Tenor

I. Die Beschwerde wird zurückgewiesen.
II. Der Kläger trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.

Gründe

Mit seiner Beschwerde verfolgt der Kläger, der im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG ist, seinen in erster Instanz erfolglosen Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für eine beim Bayerischen Verwaltungsgericht Augsburg anhängige Verpflichtungsklage auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zum Familiennachzug nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG weiter.
Die zulässige Beschwerde (§ 146 Abs. 1 VwGO) ist unbegründet. Die Voraussetzungen für die Bewilligung von Prozesskostenhilfe nach § 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO liegen nicht vor.
Nach § 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V. mit § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO ist einer Partei, die nach ihren persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht, nur zum Teil oder nur in Raten aufbringen kann, Prozesskostenhilfe zu bewilligen, wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint. Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Frage, ob die beabsichtigte Rechtsverfolgung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet, ist grundsätzlich der Zeitpunkt der Entscheidungsreife des Prozesskostenhilfeantrags, also wenn dieser vollständig vorliegt und der Prozessgegner Gelegenheit zur Äußerung hatte. Ändert sich im Laufe des Verfahrens die Sach- und Rechtslage zugunsten des Antragstellers, ist ausnahmsweise jedoch der Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts – hier des Beschwerdegerichts – maßgeblich, wenn nach dem materiellen Recht bei einer Entscheidung in der Hauptsache im Laufe des Verfahrens eingetretene Entwicklungen zu berücksichtigen sind (BayVGH, B.v. 5.10.2018 – 10 C 17.322 – juris Rn. 6 m.w.N.).
Gemessen an diesen Grundsätzen hat das Verwaltungsgericht im vorliegenden Fall zutreffend festgestellt, dass die Klage keine hinreichenden Erfolgsaussichten hat. Das Verwaltungsgericht hat dies damit begründet, dass der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG das Fehlen der Regelerteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG entgegenstehe, weil der Kläger wegen mehrerer Straftaten (unerlaubter Aufenthalt in Tateinheit mit Aufenthalt ohne Pass, Leistungserschleichung und Diebstahl) strafrechtlich belangt worden sei, deshalb ein noch aktuelles generalpräventives Ausweisungsinteresse bestehe und kein Ausnahmefall vorliege, der ein Absehen von der Regelerteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG geböte. Zudem stehe der Erteilung des Aufenthaltstitels die Titelerteilungssperre des § 10 Abs. 3 Satz 1 AufenthG entgegen. Ein Ausnahmefall nach § 10 Abs. 3 Satz 3 AufenthG liege nicht vor, da wegen des Ausweisungsinteresses kein Anspruch auf die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis bestehe.
Dem hält der Kläger mit der Beschwerde lediglich entgegen, das Gericht übertreibe „maßlos“ bei der Beurteilung der Straftaten des Klägers. Es habe sich ausnahmslos um Strafbefehle gehandelt, gegen die sich der Kläger in Ermangelung finanzieller Mittel und Unterstützung nicht habe wehren können. Als Vater eines deutschen Kindes habe der Kläger das Recht auf einen Aufenthalt. Dieses Vorbringen bietet keinen Anlass zur Abänderung des Beschlusses des Erstgerichts.
Das Verwaltungsgericht ist zu Recht davon ausgegangen, dass der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG die Titelerteilungssperre des § 10 Abs. 3 Satz 1 AufenthG entgegensteht, weil der Asylantrag des Klägers unanfechtbar abgelehnt worden ist. Die Anwendung des § 10 Abs. 3 Satz 1 AufenthG ist auch nicht durch § 10 Abs. 3 Satz 3 Halbs. 1 AufenthG ausgeschlossen, da der Kläger keinen Anspruch auf Erteilung eines Aufenthaltstitels hat. Entsprechendes gilt für die – vom Verwaltungsgericht nicht angeführte – Titelerteilungssperre nach § 10 Abs. 3 Satz 2 AufenthG in Folge der Ablehnung des Asylantrags des Klägers als offensichtlich unbegründet.
Ein Anspruch i.S.d. § 10 Abs. 3 Satz 3 AufenthG muss sich unmittelbar aus dem Gesetz ergeben. Ein derart strikter Rechtsanspruch setzt voraus, dass alle zwingenden und regelhaften Tatbestandsvoraussetzungen erfüllt sind, weil nur dann der Gesetzgeber selbst eine Entscheidung über das zu erteilende Aufenthaltsrecht getroffen hat (vgl. BVerwG, U.v. 17.12.2015 – 1 C 31.14 – juris Rn. 20.; U.v. 10.12.2017 – 1 C 15.14 – juris). Zu einem Anspruch führen daher nicht Regelansprüche oder Ansprüche aufgrund von Sollvorschriften (BVerwG, U.v. 17.12.2015, a.a.O.).
Insoweit hat das Verwaltungsgericht zutreffend entschieden, dass der Erteilung der Aufenthaltserlaubnis gemäß § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG das Vorliegen eines Ausweisungsinteresses i.S.d. § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG i.V.m. § 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG entgegensteht und daher kein Anspruch i.S.d. § 10 Abs. 3 Satz 3 AufenthG vorliegt, der die Titelerteilungssperren des § 10 Abs. 3 Sätze 1 und 2 AufenthG überwinden könnte. Der Senat teilt die Auffassung, dass insbesondere die Ahndung wegen unerlaubten Aufenthalts in Tateinheit mit Aufenthalt ohne Pass zu einer Geldstrafe von 150 Tagessätzen durch Strafbefehl des Amtsgerichts Ulm vom 13. Juli 2017 ein aktuelles generalpräventives Ausweisungsinteresse begründet. Für die Annahme eines Ausweisungsinteresses sind generalpräventive Gründe ausreichend (BVerwG, U.v. 12.7.2018 – 1 C 16.17 – juris. Rn. 16, 20). Soweit der Kläger mit der Beschwerde einwendet, er habe sich nicht ausreichend gegen die entsprechenden Strafbefehle wehren können, bleibt völlig unklar, wie ein solches „Wehren“ ausgesehen und zu welchen von den Feststellungen der Strafverfolgungsbehörden abweichenden Feststellung dies geführt hätte. Insbesondere im Hinblick auf die Strafe wegen illegalen Aufenthalts in Tateinheit mit Aufenthalt ohne Pass, auf die das Verwaltungsgericht die Annahme eines Ausweisungsinteresses im Wesentlichen gestützt hat, trägt er nichts vor, was eine andere Beurteilung seines Verhaltens rechtfertigen könnte.
In diesem Zusammenhang kann dahinstehen, ob das Verwaltungsgericht im Rahmen der Prüfung der ausreichenden Aktualität des generalpräventiven Ausweisungsinteresses (vgl. dazu grundlegend BVerwG, U.v. 9.5.2019 – 1 C 21.18 – BVerwGE 165, 331 – juris Rn. 18 ff.) hinsichtlich der Frage des Beginns der einfachen dreijährigen Verfolgungsverjährungsfrist (§ 78 Abs. 3 Nr. 5 StGB) zu Recht ohne weitere eigene Feststellungen auf den Tag der Vorlage des Reisepasses am 11. Oktober 2018 bei der Ausländerbehörde als Tag der „Tatbeendigung“ abstellen durfte, nachdem der Strafbefehl vom 13. Juli 2017 nur den Zeitraum bis zum 2. Mai 2017 betraf und dem Kläger am 6. Juli 2018 ein gültiger Nationalpass ausgestellt worden war. Denn die einfachen Verjährungsfristen des § 78 StGB bilden lediglich die untere Grenze für die Annahme einer ausreichenden Aktualität, die obere Grenze orientiert sich hingegen regelmäßig an der absoluten Verjährungsfrist des § 78c Abs. 3 Satz 2 StGB, die regelmäßig das Doppelte der einfachen Verjährungsfrist beträgt (BVerwG, U.v. 9.5.2019, a.a.O. Rn. 19). Angesichts dessen führt die zum maßgeblichen Zeitpunkt der Senatsentscheidung mit viereinhalb Monaten – gerechnet ab dem 2. Mai 2017 – allenfalls geringfüge Überschreitung der Regelverjährungsfrist nicht zu der Annahme einer fehlenden Aktualität des Ausweisungsinteresses.
Unabhängig davon hat der Kläger auch nach dem 2. Mai 2017 wiederholt vorsätzlich gegen Rechtsvorschriften verstoßen und damit neuerlich ein aktuelles Ausweisungsinteresse begründet (vgl. zur Berücksichtigungsfähigkeit von der absoluten Verfolgungsverjährung unterfallenden Taten bei einem zeitlichen und sachlichen Zusammenhang mit noch nicht verjährten Taten BVerwG, U.v. 9.5.2019 – 1 C 21.18 – BVerwGE 165, 331 – juris Rn. 21). So hat es der Kläger entgegen seiner Verpflichtung aus § 48 Abs. 1 AufenthG trotz Aufforderung unterlassen, seinen am 6. Juli 2018 ausgestellten Reisepass bei der Ausländerbehörde vorzulegen und bei der Beantragung einer Duldung am 2. Oktober 2018 (Bl. 421 der Verwaltungsakte) insofern unvollständige Angaben gemacht, als er der Ausländerbehörde verschwieg, dass er seit dem 6. Juli 2018 über einen gültigen Nationalpass verfügte. Damit hat er eine weitere Ordnungswidrigkeit nach § 98 Abs. 2 Nr. 3 AufenthG und eine weitere Straftat nach § 95 Abs. 2 Nr. 2 AufenthG begangen (vgl. zu letzterem BayVGH, B.v. 8.2.2019 – 10 C 18.1641 – juris Rn. 10 unter Verweis auf BGH, B.v. 2.9.2009 – 5 StR 266/09 – juris Rn. 19, 22). Die Straftat nach § 95 Abs. 2 Nr. 2 AufenthG verjährt gem. § 78 Abs. 3 Nr. 4 StGB innerhalb von fünf Jahren.
Zu alledem spricht angesichts der konkreten Umstände des Einzelfalls (Zerreißen des Passes nach der Einreise und Vorlage eines neuen Passes erst nach der Übertragung der elterlichen Sorge durch das Amtsgerichts) vieles dafür, dass der Kläger seine pass- und aufenthaltsrechtlichen Pflichten auch in Zukunft bei Bedarf wieder verletzen wird und insofern auch ein spezialpräventives Ausweisungsinteresse besteht (ausführlich zum general- und spezialpräventiven Ausweisungsinteresse in solchen Konstellationen jüngst BayVGH, B.v. 4.5.2020 – 10 ZB 20.666 – juris Rn. 8).
Anhaltspunkte dafür, dass die Regelerteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG dennoch erfüllt wäre, sind nicht ersichtlich. Für das Vorliegen eines Ausnahmefalls ist angesichts der beharrlichen, wiederholten und schwerwiegenden Rechtsverstöße des Klägers nichts ersichtlich. Den Interessen an der (ununterbrochenen) Beziehung des Klägers zu seinem Kind hat die Ausländerbehörde durch die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG Rechnung getragen. Und selbst wenn der Kläger einen Ausnahmefall für sich in Anspruch nehmen könnte, der schon auf der Tatbestandsseite ein Absehen von der Regelerteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG erfordern würde, fehlte es an einem gesetzlichen Anspruch i.S.d. § 10 Abs. 3 Satz 3 Halbs. 1 AufenthG (vgl. BayVGH, B.v. 20.8.2018 – 10 C 18.1361 – juris Rn. 13, NdsOVG, B.v. 5.9.2017 – 13 LA 129/17 – juris Rn. 17 jeweils m.w.N.). Schließlich stellt auch die Möglichkeit, eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG zu erteilen, von der der Beklagte vorliegend Gebrauch gemacht hat, keinen Rechtsanspruch i.S.d. § 10 Abs. 3 Satz 3 AufenthG dar (BayVGH, B.v. 20.8.2018 – 10 C 18.1361 – juris Rn. 14).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO.
Einer Streitwertfestsetzung bedarf es nicht, weil die nach Nr. 5502 des Kostenverzeichnisses zum Gerichtskostengesetz (Anlage 1 zu § 3 Abs. 2 GKG) anfallende Gebühr streitwertunabhängig ist.
Diese Entscheidung ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).


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