Verwaltungsrecht

Keine Gefahr flüchtlingsrelevanter Verfolgung bei Wehrdienstentziehung des Ehemannes – Syrien

Aktenzeichen  20 B 19.30716

Datum:
2.3.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 12367
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG § 3, § 4, § 28 Abs. 1a

 

Leitsatz

Angehörige von Wehrdienstpflichtigen müssen wegen deren Entziehung vom Wehrdienst nicht mit flüchtlingsschutzrelevanten Maßnahmen seitens der syrischen Sicherheitskräfte rechnen. (Rn. 24) (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

RN 11 K 17.34256 2018-04-23 VGREGENSBURG VG Regensburg

Tenor

I. Das Urteil des Verwaltungsgerichts Regensburg vom 23. April 2018 wird geändert. Die Klage wird abgewiesen.
II. Die Klägerin trägt die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe

I.
Die Beteiligten streiten darüber, ob die Klägerin von der Beklagten über den ihr zugestandenen Schutz hinaus die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft beanspruchen kann.
Die am 14. Juni 1995 in Damaskus geborene Klägerin ist syrische Staatsangehörige arabischer Volks- und sunnitischer Religionszugehörigkeit. Sie reiste nach eigenen Angaben am 12. Mai 2017 über Italien auf dem Landweg in die Bundesrepublik Deutschland ein, nachdem sie ihr Heimatland im Jahr 2012 oder 2013 verlassen und sich anschließend im Libanon, Ägypten und in Libyen aufgehalten hatte. Am 18. Mai 2017 stellte sie einen Asylantrag.
In ihrer persönlichen Anhörung vor dem Bundesamt für … (Bundesamt) am 22. Juni 2017 gab die Klägerin an, sie habe Syrien kriegsbedingt verlassen.
Mit Bescheid vom 14. Juli 2017 erkannte das Bundesamt der Klägerin den subsidiären Schutzstatus zu und lehnte den Asylantrag im Übrigen ab.
Mit Urteil vom 23. April 2018 hat das Verwaltungsgericht die Beklagte verpflichtet, der Klägerin die Flüchtlingseigenschaft gem. § 3 Abs. 1 AsylG zuzuerkennen. Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, der Klägerin drohe als Angehörige eines militärdienstpflichtigen Ehemannes, der sich der Wehrpflicht in Syrien durch Ausreise entzogen habe, Reflexverfolgung durch staatliche Stellen.
Das Verwaltungsgericht verpflichtete mit Urteil vom selben Tag die Beklagte, dem Ehemann der Klägerin die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen (RN 11 K 17.34255). Dieser hatte in der persönlichen Anhörung vor dem Bundesamt am 22. Juni 2017 angegeben, seine Frau erst in Libyen geheiratet zu haben.
Hiergegen wendet sich die Beklagte mit der vom Senat wegen Divergenz (§ 78 Abs. 3 Nr. 2 AsylG) zugelassenen Berufung.
Die Beklagte beantragt,
unter Änderung der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung die Klage abzuweisen.
Die Klägerin hat im Berufungsverfahren keinen Antrag gestellt.
Die Landesanwaltschaft Bayern hat sich als Vertreterin des öffentlichen Interesses am Verfahren beteiligt.
Der Senat hat die Beteiligten mit Schreiben vom 15. Januar 2020 zur Sache und zur beabsichtigten Entscheidung nach § 130a VwGO angehört, welches dem Prozessbevollmächtigten der Klägerin am 20. Januar 2020 und der Beklagten am 21. Januar 2020 zugestellt wurde.
Mit Schreiben vom 27. Februar 2020, welches als Telefax am selben Tag beim Bayerischen Verwaltungsgerichtshof einging, teilte der Prozessbevollmächtigte der Klägerin mit, die Klägerin sei bereits in Syrien verheiratet gewesen. Der Ehemann sei
als Flüchtling anerkannt. Zum Beweis der Eheschließung und des Zusammenlebens in Syrien wurde der Ehemann der Klägerin als Zeuge benannt.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die beigezogenen Gerichts- und Behördenakten verwiesen.
II.
Der Senat kann gem. § 130a VwGO über die Berufung durch Beschluss ohne mündliche Verhandlung entscheiden, da er sie einstimmig für begründet hält und die Beteiligten hierzu angehört hat.
1. Die zulässige Berufung ist begründet. Die Klägerin hat in dem für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 2. Halbs. AsylG) keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 4 und Abs. 1 AsylG (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO).
Gemäß § 3 Abs. 1 AsylG ist ein Ausländer – soweit hier von Interesse – Flüchtling i.S.d. Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 560 – Genfer Flüchtlingskonvention), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will. Diese Voraussetzungen lagen bei der Klägerin im Zeitpunkt ihrer Ausreise aus der Arabischen Republik Syrien nicht vor, noch ergeben sie sich aus Ereignissen, die eingetreten sind, nachdem die Klägerin ihr Herkunftsland verlassen hat.
Die Klägerin ist nicht vorverfolgt aus Syrien ausgereist. Umstände, aus denen sich eine bereits erlittene oder im Zeitpunkt der Ausreise unmittelbar drohende Verfolgung durch den syrischen Staat oder sonstige Akteure i.S.d. § 3c Nr. 2 und 3 AsylG ergeben, lässt sich dem individuellen Vorbringen der Klägerin nicht entnehmen.
Die Klägerin kann für einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nichts daraus für sich ableiten, dass gem. § 28 Abs. 1a AsylG die begründete Furcht vor Verfolgung i.S.d. § 3 Abs. 1 AsylG auch auf Ereignissen beruhen kann, die eingetreten sind, nachdem sie ihr Herkunftsland verlassen hat. Ein solcher Nachfluchtgrund besteht nicht.
Davon wäre nur dann auszugehen, wenn der Klägerin bei verständiger (objektiver) Würdigung der gesamten Umstände ihres Falles mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung droht, sodass ihr nicht zuzumuten ist, in den Herkunftsstaat zurückzukehren. Die „verständige Würdigung aller Umstände“ hat dabei eine Prognose über die Wahrscheinlichkeit künftiger Geschehensabläufe zum Inhalt. Im Rahmen dieser Prognose ist eine „qualifizierende“ Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Es ist maßgebend, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage der Klägerin Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann. Eine in diesem Sinne begründete Furcht vor einem Ereignis kann deshalb auch dann vorliegen, wenn aufgrund einer „quantitativen“ Betrachtungsweise weniger als 50 v.H. Wahrscheinlichkeit für dessen Eintritt besteht. Beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung ist deshalb dann anzunehmen, wenn bei der im Rahmen der Prognose vorzunehmenden zusammenfassenden Bewertung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deswegen gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Maßgebend ist in dieser Hinsicht damit letztlich der Gesichtspunkt der Zumutbarkeit. Entscheidend ist, ob aus der Sicht eines besonnenen und vernünftig denkenden Menschen in der Lage der Klägerin nach Abwägung aller bekannten Umstände eine (hypothetische) Rückkehr in den Herkunftsstaat als unzumutbar erscheint. Ergeben die Gesamtumstände des Falles die „reale Möglichkeit“ einer politischen Verfolgung, wird auch ein verständiger Mensch das Risiko einer Rückkehr in den Heimatstaat nicht auf sich nehmen. Ein verständiger Betrachter wird bei der Abwägung aller Umstände daneben auch die besondere Schwere des befürchteten Eingriffs in einem gewissen Umfang in seine Betrachtung einbeziehen (vgl. BVerwG, EuGH-Vorlage v. 7.2.2008 – 10 C 33.07 – juris Rn. 37 und zu Art. 16a GG U.v. 5.11.1991 – 9 C 118/90 – juris Rn. 17).
Die allgemeine Situation in Syrien stellt sich im Zeitpunkt der vorliegenden Entscheidung wie folgt dar: Das Herrschaftssystem des syrischen Präsidenten Bashar al-Assad ist durch den seit dem Jahr 2011 anhaltenden militärischen Kampf gegen verschiedene feindliche Organisationen und infolge internationaler Sanktionen militärisch sowie wirtschaftlich zunehmend unter Druck geraten. Ziel der Regierung ist es, die bisherige Machtarchitektur bestehend aus dem Präsidenten Bashar al-Assad sowie den drei um ihn gruppierten Clans (Assad, Makhlouf und Shalish) ohne einschneidende Veränderungen zu erhalten und das Herrschaftsmonopol auf dem gesamten Territorium der Syrischen Arabischen Republik wiederherzustellen. Diesem Ziel ordnete die Regierung in den vergangenen Jahren alle anderen Sekundärziele unter (vgl. Gerlach, „Was in Syrien geschieht – Essay“ v. 19.2.2016). Sie geht in ihrem Einflussgebiet ohne Achtung der Menschenrechte gegen tatsächliche oder vermeintliche Regimegegner (Oppositionelle) mit größter Brutalität und Rücksichtslosigkeit vor. Dabei sind die Kriterien dafür, was als politische Opposition betrachtet wird, sehr weit: Kritik, Widerstand oder schon unzureichende Loyalität gegenüber der Regierung in jeglicher Form sollen Berichten zufolge zu schweren Vergeltungsmaßnahmen für die betreffenden Personen geführt haben (UNHCR, Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus der Arabischen Republik Syrien fliehen, 5. Fassung – im Folgenden UNHCR-Erwägungen 2017 – unter Verweis auf: United States Department of State, Country Reports on Human Rights Practices for 2015, 13.4.2016; Amnesty International, Human Slaughterhouse: Mass Hangings and Extermination at Saydnaya Prison, Syria, 7.2.2017; UN Human Rights Council, Out of Sight, out of Mind: Deaths in Detention in the Syrian Arab Republic, 3.2.2016). Seit dem Ausbruch des Krieges im März 2011 sind zahlreiche Fälle von willkürlicher Verhaftung, Inhaftierung ohne Gerichtsverfahren, „Verschwindenlassen“, tätlichen Angriffen, Tötung in Gewahrsam der Sicherheitskräfte und Mordanschlägen belegt. Die Gefahr körperlicher und seelischer Misshandlung ist in den Verhörzentralen der Sicherheitsdienste, zu denen weder Anwälte noch Familienangehörige Zugang haben, als besonders hoch einzustufen. Personen, die unter dem Verdacht oppositioneller Umtriebe stehen, unterliegen ebenfalls einem hohen Folterrisiko (Auswärtiges Amt, Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien, 13.11.2018). Menschenrechtsgruppen zufolge hat das Regime seit März 2011 zwischen 17.500 und 60.000 Männer, Frauen und Kinder zu Tode gefoltert oder exekutiert; das syrische Regime stellt falsche Totenscheine offenbar mit dem Ziel aus, die wahre Ursache und den Ort des Todes der Gefangenen zu verschleiern (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation – Syrien, 25.1.2018, S. 34 unter Verweis auf US Department of State, 2016 Country Reports on Human Rights Practices – Syria, 3.3.2017). Das Schicksal und der Aufenthaltsort zehntausender Menschen, die seit Ausbruch des Krieges von Regierungskräften inhaftiert worden waren und seitdem „verschwunden“ sind, sind nach wie vor unbekannt. Während der Haft werden Folter und andere Misshandlungen systematisch angewendet (Amnesty International, Report Syrien 2018, 22.2.2018; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation – Syrien, 25.1.2018, S. 34 unter Verweis auf Human Rights Watch, World Report 2017 – Syria; Einwanderungs- und Flüchtlingsbehörde von Kanada, Antworten auf Informationsanfragen SYR105361.E, 19.1.2016) (vgl. BayVGH, U.v. 12.4.2019 – 21 B 18.32459 – BeckRS 2019, 12018 Rn. 26; U.v. 9.4.2019 – 21 B 18.33075 – juris Rn. 21, unter Fortführung seiner Rechtsprechung aus der Entscheidung v. 20.6.2018 – 21 B 17.31605 – juris).
Der Klägerin droht für den Fall ihrer Rückkehr nach Syrien nicht aufgrund der Wehrdienstentziehung ihres Ehemannes mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit flüchtlingsrelevante Verfolgung.
Es besteht Einigkeit in der Rechtsprechung der deutschen Oberverwaltungsgerichte, dass Angehörige von Wehrdienstpflichtigen wegen deren Entziehung vom Wehrdienst allein nicht mit flüchtlingsschutzrelevanten Maßnahmen seitens der syrischen Sicherheitskräfte rechnen müssen. Daran wird festgehalten. Zur Begründung wird auf die Rechtsprechung des 21. Senats des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs (U.v. 20.6.2018 – 21 B 17.31605 – juris Rn. 52 ff; U.v. 22.6.2018 – 21 B 18.30852 – juris Rn. 39), des erkennenden Senats (U.v. 9.5.2019 – 20 B 19.30534 – juris Rn. 6381), des VGH Baden-Württemberg (U.v. 9.8.2017 – A 11 S 710.17 – juris Rn. 50), des Sächsischen OVG (U.v. 7.2.2018 – 5 A 1246/17.A – juris Rn. 49-50) und des Nordrhein-Westfälischen OVG (U.v. 12.12.2018 – 14 A 847/18.A – juris Rn. 37) Bezug genommen.
Im Übrigen besteht nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs zu den Folgen einer Wehrdienstentziehung für syrische Staatsangehörige (BayVGH, U.v. 12.4.2019 – 21 B 18.32459 – juris), der sich der Senat angeschlossen hat (vgl. nur BayVGH, U.v. 1.10.2019 – 20 B 19.32618 – juris), auch für Wehrdienstentzieher wie den Ehemann der Klägerin im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (§ 77 Abs. 1 AsylG) keine flüchtlingsrelevante Gefahr mehr. An dieser Rechtsprechung hält der Senat auch nach Auswertung der aktuellen Auskunftslage fest (vgl. hierzu ausführlich OVG Niedersachsen, B.v. 16.1.2020 – 2 LB 731/19 – BeckRS 2020,168). Damit kann eine derartige Gefahr auch für seine Familienangehörigen nicht mehr bestehen.
2. Die Durchführung einer mündlichen Verhandlung ist durch die Behauptung im Schreiben des Prozessbevollmächtigten der Klägerin vom 27. Februar 2020, die Ehe sei bereits in Syrien geschlossen worden, nicht erforderlich geworden. Eine wesentliche Änderung der Prozesssituation ergibt sich aus diesem Vorbringen nicht (Happ in Eyermann, VwGO, 15. Auflage 2019, § 130a Rn. 10a m.w.N.), da die Klägerin bislang keinen Nachweis über eine Eheschließung in Syrien mit ihrem als Zeugen benannten Ehemann vorgelegt hat. Zudem gab dieser in seiner Anhörung vor dem Bundesamt an, er habe die Klägerin in Libyen geheiratet. Ein Anspruch auf die Zuerkennung eines Anspruchs der Klägerin nach § 26 Abs. 1 Satz 1, 5 AsylG ist damit zum maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 2. Halbsatz) nicht ersichtlich.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO, § 83b AsylG.
Die Revision wird nicht zugelassen. Die Voraussetzungen des § 132 Abs. 2 VwGO liegen nicht vor.


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