Verwaltungsrecht

Keine Gruppenverfolgung von Sunniten im Irak

Aktenzeichen  5 ZB 20.30994

Datum:
29.4.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 9612
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG § 3 Abs. 1, § 78 Abs. 3 Nr. 1

 

Leitsatz

1. Der Umfang der Eingriffshandlungen in asylrechtlich geschützte Rechtsgüter, die an die sunnitische Religionszugehörigkeit anknüpfen, rechtfertigt in der Relation zu der Größe dieser Gruppe nicht die Annahme einer alle Mitglieder erfassenden gruppengerichteten Verfolgung. (Rn. 5) (redaktioneller Leitsatz)
2. Anhaltspunkte für eine Gruppenverfolgung sunnitischer Kurden in der kurdischen Autonomieprovinz Dohuk bestehen nicht. (Rn. 6) (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

AN 2 K 17.30376, AN 2 K 17.32669 2020-02-26 Urt VGANSBACH VG Ansbach

Tenor

I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II. Die Kläger tragen die Kosten des Zulassungsverfahrens. Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe

1. Der allein auf § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG gestützte Antrag auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg. Die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache ist schon nicht ausreichend dargelegt im Sinn von § 78 Abs. 4 Satz 4 AsylG.
Der Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung setzt voraus, dass eine konkrete, bisher höchstrichterlich oder obergerichtlich nicht beantwortete Rechts- oder Tatsachenfrage formuliert wird, die für die Entscheidung des Verwaltungsgerichts von Bedeutung war, deren Klärung im Berufungsverfahren zu erwarten und zur Erhaltung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder Weiterentwicklung des Rechts geboten ist und der eine über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung zukommt (vgl. Happ in Eyermann, VwGO, 15. Aufl. 2019, § 124a Rn. 72).
Die von den Klägern für grundsätzlich bedeutsam gehaltene „abstrakte Tatsachenfrage“, ob irakische Staatsangehörige sunnitischen Glaubens aktuell im Irak mit einer beachtlichen Wahrscheinlichkeit mit einer Verfolgung im Sinne von § 3 AsylG rechnen müssen, ist nicht grundsätzlich bedeutsam, sondern in der Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs geklärt (vgl. BayVGH, B.v. 16.10.2019 – 5 ZB 19.33656 – juris Rn. 6; U.v. 19.7.2018 – 20 B 18.30800 – juris Rn. 35, B.v. 8.1.2018 – 20 ZB 17.30839 – juris Rn. 10; B.v. 21.9.2017 – 4 ZB 17.31091 – juris).
Die Frage ist – auch wenn sich nach Berichten von internationalen Organisationen und Medien die Verhältnisse im Irak insbesondere durch das Zurückdrängen des sog. „IS“ auch mit Hilfe schiitischer Milizen und durch die „Verfolgung“ von IS-Kämpfern und IS-Anhängern oder auch entsprechender Verdachtspersonen geändert haben – nach wie vor zu verneinen (vgl. auch VGH BW, U.v. 5.3.2020 – A 10 S 1272/17 – juris Rn 24 ff. zu einem sunnitischen Kurden). Insbesondere weisen die Verfolgungshandlungen, denen die sunnitische Bevölkerungsgruppe im Irak ausgesetzt ist, die für die Annahme einer Gruppenverfolgung erforderliche kritische Verfolgungsdichte nicht auf. Auch kann der Versuch, (ehemalige) IS-Kämpfer und IS-Anhänger aufzuspüren und ihrer habhaft zu werden, nicht ohne weiteres mit einer Verfolgung von Sunniten wegen ihres Glaubens gleichgesetzt werden, auch wenn diese in der Regel sunnitische Glaubensangehörige sind.
Für die Annahme einer Gruppenverfolgung ist die Gefahr einer so großen Vielzahl von Eingriffshandlungen in flüchtlingsrechtlich geschützte Rechtsgüter erforderlich, dass es sich dabei nicht mehr nur um vereinzelt bleibende individuelle Übergriffe oder um eine Vielzahl einzelner Übergriffe handelt. Die Verfolgungshandlungen müssen vielmehr im Verfolgungszeitraum und Verfolgungsgebiet auf alle sich dort aufhaltenden Gruppenmitglieder zielen und sich in quantitativer und qualitativer Hinsicht so ausweiten, wiederholen und um sich greifen, dass daraus für jeden Gruppenangehörigen nicht nur die Möglichkeit, sondern ohne Weiteres die aktuelle Gefahr eigener Betroffenheit entsteht (BVerwG, U.v. 31.4.2009 – 10 C 11.08 – AuAS 2009, 173; U.v. 1.2.2007 – 1 C 24.06 – NVwZ 2007, 590; U.v. 18.7.2006 – 1 C 15.05 – BVerwGE 126, 243). Auch unter Berücksichtigung der von den Klägern in der Zulassungsbegründung geschilderten Verfolgungshandlungen, denen die sunnitische Bevölkerungsgruppe im Irak ausgesetzt ist, und der dort genannten Zahlen von zum Tode verurteilten und getöteten Sunniten ist eine für die Annahme einer Gruppenverfolgung erforderliche kritische Verfolgungsdichte von Sunniten im Irak nicht zu erkennen. Der Umfang der Eingriffshandlungen in asylrechtlich geschützte Rechtsgüter, die an die sunnitische Religionszugehörigkeit anknüpfen, rechtfertigt in der Relation zu der Größe dieser Gruppe nicht die Annahme einer alle Mitglieder erfassenden gruppengerichteten Verfolgung. Das gilt auch, wenn man nur die Zahl der arabischen (unter Ausschluss der kurdischen) Sunniten betrachtet. Die irakische Bevölkerung setzt sich zu 60 bis 65 Prozent aus arabischen Schiiten, zu 17 bis 22 Prozent aus arabischen Sunniten und zu 15 bis 20 Prozent aus (überwiegend sunnitischen) Kurden zusammen (vgl. Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 12.1.2019, S. 6; vgl. auch Lagebericht vom 2.3.2020 S. 7 f.). Bei einer Gesamtbevölkerung von ca. 38 Mio. Einwohnern (vgl. www.auswaertiges-amt.de – Länderinfos Stand Mai 2019) würde das bedeuten, dass über 6 bis 8 Mio. arabische Sunniten im Irak im oben geschilderten Sinn als Gruppe verfolgt würden. Für eine solche Annahme gibt es trotz der Bekämpfung des „IS“ und trotz der teilweise erhebliche Spannungen entlang der Konfessionslinien innerhalb der irakischen Bevölkerung, die in Einzelfällen auch zu Bedrohungen, Verletzungen und Todesfällen allein aufgrund der konfessionellen Zugehörigkeit, insbesondere der zum sunnitischen Islam, geführt haben, keine ausreichenden Hinweise. Ein flächendeckendes Vorgehen gegen Sunniten ist nicht erkennbar.
Hinzu kommt, dass die Kläger sunnitische Kurden sind und aus einem Dorf in der kurdischen Autonomieprovinz Dohuk stammen. Auch wenn die Kläger, wie in der Klagebegründung vorgetragen, im September 2016 wegen innerfamiliärer Streitigkeiten nach Telkef, das wohl schon in der Provinz Ninive liegt, geflohen sind, bleibt die Provinz Dohuk die Herkunftsregion der Kläger, auf die es im Hinblick auf eine asylrechtlich relevante Verfolgung ankommt (vgl. BVerwG, U.v. 31.1.2013 – 10 C 15.12 – juris Rn. 13 m.w.N.; BayVGH, B.v. 22.3.2018 – 20 ZB 16.30038 – juris Rn. 8; vgl. auch Bergmann in Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Aufl. 2020, § 4 AsylG Rn. 16). Anhaltspunkte für eine Gruppenverfolgung sunnitischer Kurden in der kurdischen Autonomieprovinz Dohuk bestehen nicht und werden in der Zulassungsbegründung auch nicht dargelegt. Dass der Kläger zu 1 IS-Kämpfer oder IS-Anhänger gewesen wäre, wurde ebenfalls nicht vorgetragen.
2. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO. Gerichtskosten werden gemäß § 83b AsylG nicht erhoben.
Dieser Beschluss, mit dem die Entscheidung des Verwaltungsgerichts rechtskräftig wird (§ 78 Abs. 5 Satz 2 AsylG), ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).


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