Verwaltungsrecht

Keine hinreichende Gefahr einer weiblichen Genitalverstümmelung

Aktenzeichen  Au 9 K 20.30887

Datum:
1.10.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 29763
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Augsburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG § 3, § 4, 14a Abs. 2, § 24 Abs. 1 S. 6
AufenthG § 60 Abs. 5, Abs. 7

 

Leitsatz

1. In Nigeria ist die weibliche Genitalverstümmelung in allen bekannten Formen in ländlichen Gebieten mehr als in den Städten verbreitet; es steht jedoch interner Schutz vor Verfolgung zur Verfügung, da es den Eltern der Klägerin im Fall einer tatsächlichen Bedrohung möglich ist, sich in einem städtischen Gebiet niederzulassen, in welchem die Beschneidungspraxis nicht derart verbreitet ist.  (Rn. 32 – 36) (redaktioneller Leitsatz)
2. Die immer wieder aufkommenden, gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen christlichen und muslimischen Gruppen, bzw. die Angriffe und Auseinandersetzung mit der Gruppierung „Boko Haram“ sind in Intensität und Dauerhaftigkeit nicht mit Bürgerkriegsauseinandersetzungen, die in Nigeria (noch) nicht festzustellen sind, vergleichbar. (Rn. 39) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen. 
II. Die Klägerin hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben. 
III. Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. 

Gründe

Der Einzelrichter (§ 76 Abs. 1 AsylG) konnte über die Klage der Klägerin verhandeln und entscheiden, ohne dass die Beteiligten an der mündlichen Verhandlung vom 1. Oktober 2020 teilgenommen haben. Auf den Umstand, dass beim Ausbleiben eines Beteiligten auch ohne ihn verhandelt und entschieden werden kann, wurden die Beteiligten ausweislich der Ladung ausdrücklich hingewiesen (§ 102 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO). Die Beteiligten sind zur mündlichen Verhandlung vom 1. Oktober 2020 form- und fristgerecht geladen worden.
Die zulässige Klage bleibt in der Sache ohne Erfolg. Der mit der Klage angegriffene Bescheid des Bundesamts vom 28. Mai 2020 ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz VwGO). Die Klägerin besitzt keinen Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (§§ 3 ff. AsylG) bzw. auf Gewährung subsidiären Schutzes (§ 4 AsylG). Ebenfalls liegen zugunsten der Klägerin keine nationalen Abschiebungsverbote auf der Grundlage des § 60 Abs. 5 bzw. Abs. 7 Satz 1 AufenthG vor (§ 113 Abs. 5 Satz 1).
1. Die Klägerin besitzt keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft im Sinne der §§ 3 ff. AsylG.
Nach § 3 Abs. 4 AsylG wird einem Ausländer, der Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG ist, die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt. Ein Ausländer ist nach § 3 Abs. 1 AsylG Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559, 560 – Genfer Flüchtlingskonvention), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb seines Herkunftslandes befindet. Eine solche Verfolgung kann nicht nur vom Staat ausgehen (§ 3c Nr. 1 AsylG), sondern auch von Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen (§ 3c Nr. 2 AsylG) oder nichtstaatlichen Akteuren, sofern die in Nrn. 1 und 2 genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, im Sinne des § 3d AsylG Schutz vor Verfolgung zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht (§ 3c Nr. 3 AsylG). Allerdings wird dem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt, wenn er in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3d AsylG hat und sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt (§ 3e Abs. 1 AsylG).
Die Tatsache, dass der Ausländer bereits verfolgt oder von Verfolgung unmittelbar bedroht war, ist dabei ein ernsthafter Hinweis darauf, dass seine Furcht vor Verfolgung begründet ist, wenn nicht stichhaltige Gründe dagegen sprechen, dass er neuerlich von derartiger Verfolgung bedroht ist. Hat der Asylbewerber seine Heimat jedoch unverfolgt verlassen, kann sein Asylantrag nur Erfolg haben, wenn ihm auf Grund von Nachfluchttatbeständen eine Verfolgung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht. Dabei ist es Sache des Ausländers, die Gründe für eine Verfolgung in schlüssiger Form vorzutragen. Er hat unter Angabe genauer Einzelheiten einen in sich stimmigen Sachverhalt zu schildern, aus dem sich bei Wahrunterstellung ergibt, dass bei verständiger Würdigung seine Furcht vor Verfolgung begründet ist, so dass ihm nicht zuzumuten ist, im Herkunftsland zu verbleiben oder dorthin zurückzukehren. Dabei genügt für diesen Tatsachenvortrag auf Grund der typischerweise schwierigen Beweislage in der Regel eine Glaubhaftmachung. Voraussetzung für ein glaubhaftes Vorbringen ist allerdings ein detaillierter und in sich schlüssiger Vortrag ohne wesentliche Widersprüche und Steigerungen.
Wer bereits Verfolgung erlitten hat, für den streitet die tatsächliche Vermutung, dass sich frühere Handlungen und Bedrohungen bei der Rückkehr in das Herkunftsland wiederholen werden. Als vorverfolgt gilt ein Schutzsuchender dann, wenn er aus einer durch eine eingetretene oder unmittelbar bevorstehende politische Verfolgung hervorgerufenen ausweglosen Lage geflohen ist. Die Ausreise muss das objektive äußere Erscheinungsbild einer unter dem Druck dieser Verfolgung stattfindenden Flucht aufweisen. Das auf dem Zufluchtsgedanken beruhende Asyl- und Flüchtlingsrecht setzt daher grundsätzlich einen nahen zeitlichen (kausal-) Zusammenhang zwischen der Verfolgung und der Ausreise voraus (vgl. BVerfG, B.v. 12.2.2008 – 2 BvR 2141/06 – juris Rn. 20; VG Köln, U.v. 26.2.2014 – 23 K 5187/11.A – juris Rn. 26).
Gemessen an diesen Maßstäben konnte die Klägerin eine individuelle Verfolgung nicht glaubhaft machen.
Für die Klägerin scheidet die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft wegen einer vorgetragenen geschlechtsbezogenen Verfolgung aus. Zwar stellt die geltend gemachte zwangsweise Beschneidung einen asylerheblichen Eingriff dar, der vom Grundsatz her einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft begründen kann.
Dabei geht das Gericht nach den vorliegenden Erkenntnissen grundsätzlich davon aus, dass die weibliche Genitalverstümmelung in allen bekannten Formen nach wie vor in Nigeria verbreitet ist. Schätzungen zur Verbreitung der weiblichen Genitalverstümmelung gehen jedoch weit auseinander und reichen von 19% bis zu 50% bis 60% (vgl. dazu etwa Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Bundesrepublik Nigeria – Lagebericht – vom 21. Januar 2018, Stand September 2017, Nr. II.1.8).
Es wird zwar teilweise von einem Rückgang der Beschneidungspraxis bzw. einem Bewusstseinswandel ausgegangen, dennoch ist die Beschneidungspraxis noch in den Traditionen der nigerianischen Gesellschaft verwurzelt. Nach traditioneller Überzeugung dient die weibliche Genitalverstümmelung der Sicherung der Fruchtbarkeit, der Kontrolle der weiblichen Sexualität, der Verhinderung von Promiskuität und der Sicherung der wirtschaftlichen Zukunft der Frauen durch eine Heirat. Angesichts des Umstandes, dass teilweise nur eine beschnittene Frau als heiratsfähig angesehen wird, kann der Druck auf die Betroffenen als auch auf deren Eltern zur Durchführung einer Beschneidung erheblich sein. Zur Erreichung der „Heiratsfähigkeit“ sind häufig gerade weibliche Familienmitglieder bemüht, die Beschneidung durchführen zu lassen und mitunter erfolgt dies auch gegen den Willen der Eltern. Übereinstimmend wird davon ausgegangen, dass die weibliche Genitalverstümmelung besonders in ländlichen Gebieten und hierbei insbesondere im Süden bzw. Südwesten und im Norden des Landes verbreitet ist. Das Beschneidungsalter variiert von kurz nach der Geburt bis zum Erwachsenenalter und ist abhängig von der jeweiligen Ethnie. Auch nach der allgemein zugänglichen Stellungnahme „The Epidemiology of Female Genital Mutilation in Nigeria – A Twelve Year Review“ ist selbst innerhalb der Ethnie der Yoruba von 2013 bis 2016 die Beschneidungspraxis stark rückläufig (von 54,5 auf 45,4%). Gesamtbetrachtet lag der Anteil beschnittener Mädchen und Frauen in Nigeria im Jahr 2013 noch bei 24,8%. 2017 waren es nur noch 18,4% (vgl. Länderinformationsblatt der Staatendokumentation des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich – BFA – Nigeria, Gesamtaktualisierung vom 12.4.2019 Nr. 18.1, S. 38 m.w.N.).
Aufgrund dieser Erkenntnislage in Zusammenschau mit dem Vortrag der gesetzlichen Vertreterin scheidet bei der Klägerin – für die eine Vorverfolgung in Nigeria aufgrund der Tatsache, dass sie in Deutschland geboren ist – eine geschlechtsspezifische Verfolgungsgefahr aus, da eine mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eintretende Gefahr hinsichtlich der Durchführung einer Genitalverstümmelung (FGM) nicht besteht. Dies auch unter Berücksichtigung der Volkszugehörigkeit der Klägerin zur Volksgruppe der Igbo.
Nach dem Informationsblatt des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge – Informationszentrum Asyl und Migration – Weibliche Genitalverstümmelung – Formen, Auswirkungen – Verbreitung – Asylverfahren vom April 2010 verhält es sich bei der Volksgruppe der Igbo so, dass die Beschneidung während der Pubertät und vor der Heirat durchgeführt wird. Der Volkszugehörigen der Igbo im Südosten wird die Beschneidung innerhalb von sieben Tagen nach der Geburt vorgenommen. Bereits aufgrund dieser Erkenntnislage ist ausgehend vom Alter der Klägerin die Gefahr einer weiblichen Genitalverstümmelung für die Klägerin nicht hinreichend wahrscheinlich, so dass sich eine Ablehnung des Asylantrages als offensichtlich unbegründet aufdrängt.
Überdies ist davon auszugehen, dass der Klägerin interner Schutz vor Verfolgung zur Verfügung steht, § 3e Abs. 1 AsylG. Da Genitalverstümmelungen in ländlichen Gebieten weiter verbreitet sind als in den Städten, ist es den Eltern der Klägerin im Fall einer tatsächlichen Bedrohung möglich, sich in einem städtischen Gebiet niederzulassen, in welchem die Beschneidungspraxis nicht mehr derart verbreitet ist. So gilt beispielsweise die Durchführung der weiblichen Genitalverstümmelung beispielsweise in Lagos mittlerweile sogar als absolute Ausnahme (vgl. zum Gesamten: Bundesamt für Migration und Flüchtlinge Informationszentrum Asyl und Migration – weibliche Genitalverstümmelung – Formen, Auswirkungen, Verbreitung, Asylverfahren – April 2010, S. 44). Auch werden alleinstehende oder allein lebende Frauen im liberaleren Südwesten des Landes – und dort vor allem in den Städten – eher akzeptiert (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Bundesrepublik Nigeria vom 10. Dezember 2018). Eine Ansiedlung der Mutter der Klägerin bzw. der Familie der Klägerin kann auch vernünftigerweise außerhalb der vormaligen Aufenthaltsorte der Mutter der Klägerin erwartet werden. Auch ist zu berücksichtigen, dass die gesetzlichen Vertreter der Klägerin eine Beschneidung der Klägerin selbst ablehnen. Die Mutter der Klägerin bzw. deren Eltern dürften bei einer Ansiedlung in Nigeria außerhalb der vormaligen Aufenthaltsorte – eine Gefahr der Beschneidung dürfte allenfalls von den Großfamilien bzw. den Dorfältesten im ursprünglichen Aufenthaltsort der Mutter der Klägerin ausgehen – hinreichenden Schutz vor der Gefahr einer Beschneidung bieten. Es ist der gesetzlichen Vertreterin der Klägerin bzw. deren Eltern auch zumutbar, sich in einem anderen sicheren Gebiet des Landes niederzulassen und dort eine Erwerbstätigkeit aufzunehmen, um jedenfalls das Existenzminimum zu sichern. Die Ansiedlung kann vorliegend auch vernünftigerweise erwartet werden. Zum einen wird die Klägerin zumindest mit ihrer Mutter nach Nigeria zurückkehren. Zudem besteht die Möglichkeit effektiven Schutz und Unterstützung durch staatliche Stellen und NGO’s, die über landesweite Netzwerke verfügen, zu erhalten (vgl. Länderinformationsblatt der Staatendokumentation des BFA – Nigeria, Gesamtaktualisierung vom 12.4.2019, Nr. 20, S. 40; Bundesamt für Migration und Flüchtlinge Informationszentrum Asyl und Migration – weibliche Genitalverstümmelung – Formen, Auswirkungen, Verbreitung, Asylverfahren – April 2010, S. 44). Ebenfalls ist bereits nicht ersichtlich, wie die fehlende Beschneidung der Klägerin bei einer Ansiedlung in einer nigerianischen Großstadt überhaupt bekannt werden sollte. Dafür fehlen jegliche Anhaltspunkte.
2. Der beantragte (unionsrechtliche) subsidiäre Abschiebungsschutz nach § 4 AsylG kommt ebenfalls nicht in Betracht.
Nach § 4 Abs. 1 Satz 1 AsylG ist ein Ausländer subsidiär Schutzberechtigter, wenn er stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht. Als ernsthafter Schaden gilt dabei auch die Gefahr der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Bestrafung (§ 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG). Die Art der Behandlung oder Bestrafung muss eine Schwere erreichen, die dem Schutzbereich des Art. 3 EMRK zuzuordnen ist und für den Fall, dass die Schlechtbehandlung von nichtstaatlichen Akteuren ausgeht, muss der Staat erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sein, Schutz zu gewähren (§ 4 Abs. 3 Satz 1 AsylG i.V.m. § 3 c Nr. 3 AsylG).
Die Klägerin ist im Falle ihrer erstmaligen Einreise nach Nigeria nicht einer erheblichen individuellen Gefahr für Leib oder Leben im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts (§ 4 Abs. 1 Nr. 3 AsylG) ausgesetzt, auch nicht wegen seines christlichen Glaubens. Die immer wieder aufkommenden, gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen christlichen und muslimischen Gruppen, bzw. die Angriffe und Auseinandersetzung mit der Gruppierung „Boko Haram“ sind überwiegend regional begrenzt und weisen nicht die Merkmale eines innerstaatlichen Konflikts i.S. der Vorschrift und der dazu ergangenen höchstrichterlichen Rechtsprechung auf (vgl. BVerwG, U.v. 31.1.2013 – 10 C 2013 -, U.v. 17.11.2011 – 10 C 13/10 -, U.v. 27. 4.2010 – 10 C 4/09 -, U.v. 14.7.2009 – 10 C 9/08 und U.v. 24.6.2008 – 10 C 43/07 – sowie B.v. 14.11.2012 – 10 B 22/12 – jeweils juris). Das Ausmaß dieser Konflikte ist in Intensität und Dauerhaftigkeit nicht mit Bürgerkriegsauseinandersetzungen, die in Nigeria (noch) nicht festzustellen sind, vergleichbar. Nach den allgemein zugänglichen Erkenntnismitteln (Tagespresse, Medien) und Erkenntnissen des Gerichts kam es zwar auch im Jahr 2017 und 2018 sehr häufig zu Anschlägen der Gruppe „Boko Haram“ und sind auch die Einsätze der nigerianischen Sicherheitskräfte mit Gewaltexzessen und willkürlichen Verhaftungen verbunden. Allerdings konzentrieren sich die Anschläge von „Boko Haram“ und die daraus folgenden Auseinandersetzungen immer noch hauptsächlich auf den Norden bzw. Nordosten Nigerias, während es im Süden und Südwesten des Landes nur vereinzelt zu Anschlägen bzw. Terrorakten gekommen ist. Eine landesweite Verübung von Terrorakten durch die Organisation „Boko Haram“ findet nicht statt (vgl. dazu: AA, Lageberichte von Nigeria vom 10. Dezember 2018, 21. Januar 2018, 26. November 2016, 28. November 2014, jew. Zusammenfassung S. 5 sowie II, 1.4., vom 28. August 2013, vom 6. Mai 2012, 7. März 2011, 11. März 2010 und vom 21. Januar 2009, jeweils Ziffer II.1.4). In Nigeria findet kein Bürgerkrieg statt. Bürgerkriegsparteien sind nicht vorhanden.
Die Klägerin ist bei ihrer erstmaligen Einreise nach Nigeria zusammen mit ihrer Mutter daher in der Lage, diesen Konflikten durch Rückkehr in weniger gefährdete Gebieten im Sinne eines internen Schutzes (§ 4 Abs. 3, § 3e AsylG) aus dem Wege zu gehen. An dieser Stelle ist darauf hinzuweisen, dass die Familie der Klägerin selbst aus dem Süden Nigerias stammt. Dies zugrunde gelegt, kommt auch eine Rückkehr nach Lagos bzw. Abuja als innerstaatliche Fluchtalternative, die der Klägerin bzw. ihrer Mutter auch zuzumuten ist, in Betracht.
3. Auch (zielstaatsbezogene) Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) oder § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG sind nicht erkennbar.
Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass die schlechte wirtschaftliche Situation in Nigeria – hier leben immer noch ca. 70% der Bevölkerung am Existenzminimum und sind von informellem Handel und Subsistenzwirtschaft abhängig (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Bundesrepublik Nigeria – Lagebericht – a.a.O. Nr. I.2.) – ebenso wie die Situation hinsichtlich der verschiedenen gewalttätigen Auseinandersetzungen und Übergriffe, z.T. auch durch die Sicherheitskräfte, und die damit zusammenhängenden Gefahren (s.o. und Lagebericht a.a.O. Nr. II.2 und 3.) grundsätzlich nicht zu einer individuellen, gerade dem Kläger drohenden Gefahr führt, sondern unter die allgemeinen Gefahren zu subsumieren ist, denen die Bevölkerung oder relevante Bevölkerungsgruppe allgemein ausgesetzt ist und die gemäß § 60 Abs. 7 Satz 5 AufenthG durch Anordnungen gemäß § 60 a Abs. 1 Satz 1 AufenthG zu berücksichtigen sind.
Der Umstand, dass im Falle einer Aufenthaltsbeendigung die Lage eines Betroffenen erheblich beeinträchtigt würde, reicht allein nicht aus, um einen Verstoß gegen Art. 3 EMRK anzunehmen; anderes kann nur in besonderen Ausnahmefällen gelten, in denen humanitäre Gründe zwingend gegen die Aufenthaltsbeendigung sprechen, wie zum Beispiel im Falle einer tödlichen Erkrankung in fortgeschrittenen Stadium, wenn im Zielstaat keine Unterstützung besteht (BVerwG, U.v. 31.1.2013 – 10 C 15/12 – BVerwGE 146, 12-31, juris, Rn. 23 ff. m.w.N.). Im Hinblick auf die Bewertung eines Verstoßes gegen Art. 3 EMRK gelten dabei bei der Beurteilung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG die gleichen Voraussetzungen wie bei der Frage der Zuerkennung subsidiären Schutzes nach § 60 Abs. 2 AufenthG i.V.m. § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG wegen unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung (BVerwG, U.v. 31.1.2013 – a.a.O. – juris Rn. 22, 36).
Auch eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib und Leben (§ 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG) für einen Betroffenen aufgrund allgemein für die Bevölkerung bestehender Gefahren, die über diese allgemein bestehenden Gefahren hinausgeht ist, nur im Ausnahmefall im Sinne eines Abschiebungshindernisses nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu berücksichtigen (BVerwG, U.v. 31.1.2013 – a.a.O., juris Rn. 38). Ein Ausländer kann im Hinblick auf die Lebensbedingungen, die ihn im Abschiebezielstaat erwarten, insbesondere die dort herrschenden wirtschaftlichen Existenzbedingungen und die damit zusammenhängende Versorgungslage, Abschiebungsschutz in verfassungskonformer Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG nur ausnahmsweise beanspruchen, wenn er bei einer Rückkehr aufgrund dieser allgemein bestehenden Bedingungen mit hoher Wahrscheinlichkeit einer extremen Gefahrenlage ausgesetzt wäre. Denn nur dann gebieten es die Grundrechte aus Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG, ihm trotz einer fehlenden politischen Leitentscheidung nach § 60a Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 60 Abs. 7 Satz 5 AufenthG Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu gewähren. Wann danach allgemeine Gefahren von Verfassungs wegen zu einem Abschiebungsverbot führen, hängt wesentlich von den Umständen des Einzelfalles ab und entzieht sich einer rein quantitativen oder statistischen Betrachtung. Die drohenden Gefahren müssen jedoch nach Art, Ausmaß und Intensität von einem solchen Gewicht sein, dass sich daraus bei objektiver Betrachtung für die Betroffenen die begründete Furcht ableiten lässt, selbst in erheblicher Weise ein Opfer der extremen allgemeinen Gefahrenlage zu werden. Bezüglich der Wahrscheinlichkeit des Eintritts der drohenden Gefahren ist von einem im Vergleich zum Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit erhöhten Maßstab auszugehen. Diese Gefahren müssen dem Betroffenen daher mit hoher Wahrscheinlichkeit drohen. Dieser Wahrscheinlichkeitsgrad markiert die Grenze, ab der eine Abschiebung in den Heimatstaat verfassungsrechtlich unzumutbar erscheint. Schließlich müssen sich diese Gefahren alsbald nach der Rückkehr realisieren (zum Ganzen BVerwG, U.v. 31.1.2013 a.a.O., juris Rn. 38).
Für derartige besondere Gefahren aufgrund schlechter humanitärer oder wirtschaftlicher Verhältnisse ist hier nichts ersichtlich. Insbesondere kann im Falle der Kläger nicht davon ausgegangen werden, dass die schlechte wirtschaftliche Situation in Nigeria zu einem Abschiebungsverbot aufgrund schlechter humanitärer Verhältnisse führt, die im Ausnahmefall als unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 3 EMRK qualifiziert werden könnten. Dies gilt auch unter Berücksichtigung des Umstandes, dass die Klägerin mit ihrer Mutter nach Nigeria zurückkehrt.
Das Gericht geht daher davon aus, dass die Klägerin und ihre Mutter auch nach ihrer Rückkehr in der Lage sein werden, ihren Lebensunterhalt in Nigeria zu sichern. Dies gilt selbst unter der Prämisse, dass die gesetzliche Vertreterin der Klägerin mit zwei minderjährigen Kindern nach Nigeria zurückkehrt. Selbst für den Personenkreis der alleinstehenden Frauen, die keine staatliche finanzielle oder soziale Unterstützung erhalten, ist es nicht gänzlich unmöglich bzw. ausgeschlossen, sich eine wirtschaftliche Grundexistenz zu schaffen, so etwa im Südwesten des Landes und in den Städten, in denen auch alleinstehende Frauen eher akzeptiert werden. In Nigeria existieren auch Hilfsorganisationen bei verschiedenen Kirchengemeinden oder Nicht-Regierungs-Organisationen, die verschiedene Hilfestellungen anbieten, deren Inanspruchnahme jedoch von dem persönlichen Wissen und Engagement der betroffenen Frau bzw. ihrer Zugehörigkeit zur dortigen Gemeinschaft abhängig ist (vgl. zum Ganzen BFA – Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich – Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Nigeria – Gesamtaktualisierung vom 12.4.2019, Nr. 18.2., Seite 40). Auf die im vorbezeichneten Länderinformationsblatt der Staatendokumentation der BFA auf Seite 41 enthaltene Auflistung spezifischer Hilfsorganisationen für Frauen wird entsprechend verwiesen.
Es kann daher nicht mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit davon ausgegangen werden, dass die Klägerin nach einer Rückkehr in existenzielle Not geraten wird. Vielmehr ist es ihr zusammen mit ihrer Familie zuzumuten, in ihre Heimat zurückzukehren, auch wenn dies mit gewissen Schwierigkeiten verbunden ist. Eine mit hoher Wahrscheinlichkeit eintretende Extremgefahr ist für das Gericht nicht ersichtlich. Nennenswerte gesundheitliche Einschränkungen der Klägerin sind im Verfahren nicht bekanntgeworden. Ärztliche Atteste wurden nicht vorgelegt. Gleiches gilt auch in Bezug auf die sich wohl auch in Afrika ausbreitende Corona-Pandemie. Auch dieser Umstand ist nicht geeignet, zur Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 bzw. Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu führen.
Soweit dessen Bevollmächtigter auf die sich wohl auch in Afrika ausbreitende Corona-Pandemie verweist, ist dieser Umstand nicht geeignet, zur Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 5 bzw. Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu führen. Insoweit gilt es die Vorschrift des § 60 Abs. 7 Satz 6 AufenthG zu beachten. Danach sind Gefahren nach § 60 Abs. 7 Satz 1, denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt ist, nur bei einer Anordnung nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG zu berücksichtigen. Eine derartige allgemeine Entscheidung hinsichtlich des Zielstaats Nigeria i.S.d. § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG liegt derzeit nicht vor. Eine persönliche Betroffenheit von der Krankheit selbst hat die Klägerin bzw. deren gesetzliche Vertreter bereits nicht aufgezeigt.
Im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung sind überdies in Nigeria lediglich 58.848Corona-Fälle bestätigt, wovon 50.358 Personen genesen sind und es lediglich zu 1.112 Todesfällen gekommen ist (Quelle: COVID-19 pandemic data, Wikipedia, Stand: 1.10.2020). Demnach handelt es sich um eine lediglich abstrakte Gefährdung, der im Rahmen des § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG zu begegnen ist. Dieser Umstand ist daher nicht geeignet, ein Abschiebungsverbot auf der Grundlage des § 60 Abs. 5 bzw. Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu begründen.
4. Die auf § 34 Abs. 1 AsylG i.V.m. § 59 AufenthG gestützte Abschiebungsandrohung ist ebenfalls rechtmäßig, da die Voraussetzungen dieser Bestimmungen vorliegen. Die Ausreisefrist von 30 Tagen ergibt sich aus § 38 Abs. 1 AsylG. Auf die zu ermöglichende gemeinsame Ausreise nach § 43 Abs. 3 Satz 1 AsylG wird hingewiesen.
Hinweise auf eine Fehlerhaftigkeit der Befristung der Einreise- und Aufenthaltsverbote nach § 11 AufenthG bestehen im maßgeblichen Zeitpunkt nicht. Die Beklagte hat das ihr zustehende Ermessen erkannt und im Rahmen der gerichtlich gem. § 114 Satz 2 VwGO beschränkten Prüfung ordnungsgemäß ausgeübt.
5. Die Klage war mithin mit der Kostenfolge aus § 154 Abs. 1 VwGO abzuweisen. Als im Verfahren unterlegen hat die Klägerin die Kosten des Verfahrens zu tragen. Die Gerichtskostenfreiheit folgt aus § 83b AsylG.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 Abs. 2 VwGO.


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