Verwaltungsrecht

Keine konkrete Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung in Afghanistan

Aktenzeichen  Au 3 K 16.31049

Datum:
22.2.2017
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Augsburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AufenthG AufenthG § 60 Abs. 1, Abs. 2, Abs. 5, Abs. 7 S. 1
EMRK EMRK Art. 3
AsylG AsylG § 3, § 4

 

Leitsatz

In Kabul, Mazar-e-Sharif oder in einem anderen relativ sicheren Landesteil droht nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit die konkrete Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung im Sinne von Art. 3 EMRK aufgrund allgemeiner Gewalt oder schlechter humanitärer Bedingungen. (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Die Kläger tragen die Kosten des Verfahrens.

Gründe

Die zulässige Klage ist unbegründet.
1. Die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft im Sinn von § 3 AsylG i.V.m. § 60 Abs. 1 AufenthG und für die Zuerkennung subsidiären Schutzes im Sinn von § 4 AsylG i.V.m. § 60 Abs. 2 AufenthG liegen nicht vor. Die Kläger halten sich weder aus begründeter Furcht vor politischer Verfolgung außerhalb Afghanistans auf noch haben sie stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht, dass ihnen nach einer Rückkehr in Afghanistan ein ernsthafter Schaden droht. Ihr diesbezügliches Vorbringen ist nicht glaubhaft.
Es ist bereits nicht glaubhaft, dass die Kläger in Afghanistan in dem Dorf Jangal Bashi gelebt haben. Abgesehen davon, dass nach einer Information aus dem Internet (http: …trip-suggest.com/afghanistan/kunduz/jangal-bashi) Jangal Bashi eine Stadt ist, haben die Kläger zu 1. und 2. zur Entfernung zwischen Jangal Bashi und der Provinzhauptstadt Kunduz offensichtlich unrichtige Angaben gemacht. Auch wenn man davon ausgeht, dass die Straße nach Kunduz größtenteils nicht asphaltiert ist, ist eine Fahrdauer mit dem Auto von einer Stunde und 15 Minuten oder sogar einer Stunde und 30 Minuten für die etwa 10 km lange Strecke völlig unrealistisch. Zudem liegt Jangal Bashi nicht im Distrikt Khanabad, sondern im Distrikt Aliabad. In diesem Zusammenhang misst das Gericht der „Offiziellen Erklärung über die Eheschließung“ des ältesten Sohnes H. besondere Bedeutung zu, die am 22. November 2016 aufgrund der Aussagen von drei persönlich erschienenen Trauzeugen im Generalkonsulat der Islamischen Republik Afghanistan in München angefertigt und ausgestellt wurde (vgl. Bl. 10 f. der VG-Akte Au 1 K 16.32754). Daraus ergibt sich nicht nur, dass der Sohn H. am 31. Mai 2013 in Kunduz geheiratet hat, sondern auch, dass er und seine Ehefrau ebenso wie die als Leumundszeugen aufgeführten Kläger zu 1. und 2., also seine Eltern, ihren Hauptwohnsitz in Kunduz hatten. Bereits bei der Asylantragstellung am 7. Juli 2016 hatte H. Kunduz als seinen Geburtsort angegeben.
Die fehlende Glaubwürdigkeit der Kläger zu 1. und 2. zeigt sich auch daran, dass sie die Umstände des Todes der Eltern des Klägers zu 1. in wesentlichen Punkten unterschiedlich geschildert haben. Beim Bundesamt hat der Kläger zu 1. noch vorgetragen, seine Eltern seien bei einem Bombenanschlag in Kunduz getötet worden. Der Sohn H. trug bei seiner Anhörung insoweit übereinstimmend vor, als seine Großeltern zum Einkaufen in Kunduz gewesen seien, seien sie bei einem Selbstmordanschlag durch die Explosion getötet worden. Dagegen behauptete der Kläger zu 1. vor Gericht, seine Eltern seien in Kunduz bei Kämpfen zwischen der Regierungsseite und den Taliban erschossen worden. Die Klägerin zu 2. bestätigte bei ihrer Anhörung, dass ihre Schwiegereltern in Kunduz erschossen worden seien. Des Weiteren hat der Kläger zu 1. in der mündlichen Verhandlung vorgebracht, seine Eltern seien etwa drei Monate vor seiner Ausreise umgebracht worden. Nach den Angaben zum Ausreisezeitpunkt („zwei Monate waren wir unterwegs“) müssten die Eltern etwa im Februar 2015 ums Leben gekommen sein. Dies steht nicht nur in einem klaren Widerspruch zur Äußerung der Klägerin zu 2., sie hätten ihr Heimatland zweieinhalb bis drei Jahre nach dem Tod der Schwiegereltern verlassen, sondern auch zu ihrer modifizierten Aussage. Wären die Schwiegereltern „Von heute ab vor ca. drei Jahren“ gestorben, wäre dies bereits im Februar 2014 gewesen. Zudem hat der Sohn H. bei seiner Anhörung durch das Bundesamt am 7. Oktober 2016 ausgesagt, dies sei „Jetzt, vor ca. 3 Jahren“ geschehen, so dass sich der Vorfall bereits im Herbst 2013 ereignet hätte.
Entsprechendes gilt für die angeblichen Umstände des Todes der Schwiegereltern des Klägers zu 1. bzw. Eltern der Klägerin zu 2.. Beim Bundesamt hat der Kläger zu 1. geäußert, die Taliban hätten seine Schwiegereltern bzw. deren Haus mit Raketen beschossen und bei dem Beschuss seien diese und drei weitere Personen ums Leben gekommen. Der Sohn H. sagte beim Bundesamt aus, seine Großeltern mütterlicherseits, ein Onkel und eine Tante seien ums Leben gekommen, als eine Rakete ihr Haus getroffen habe. Dagegen behauptete der Kläger zu 1. vor Gericht, seine Schwiegereltern und drei weitere Angehörige seien von Banditen erschossen worden, weil sie kein Geld mehr gehabt hätten, nachdem andere Banditen ihnen dieses abgenommen gehabt hätten. Die Klägerin zu 2. hatte im August 2015 im Klinikum Augsburg noch geäußert, sie habe ein traumatisches Erlebnis gehabt, da ihre Familie bei einem Bombenanschlag umgekommen sei (vgl. Arztbrief der 3. Medizinischen Klinik des Klinikums Augsburg vom 4.8./19.8.2015).
Die angeblichen Bemühungen der Taliban um eine Zwangsrekrutierung der beiden älteren Söhne oder sogar des Klägers zu 1. sind schon deshalb nicht glaubhaft, weil nicht nachvollziehbar ist, wie sie sich den Zwangsrekrutierungsver-suchen über einen längeren Zeitraum hinweg hätten entziehen können. Zwangsrekrutierungen durch die Taliban sind ohnehin sehr unwahrscheinlich (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht Afghanistan vom 19.10.2016, II. 1.6 Militärdienst S. 12).
Da die Kläger nicht in einem Dorf, sondern in der Stadt Kunduz gelebt haben, ist es auch nicht glaubhaft, dass sie Analphabeten sind. Sie haben nicht ansatzweise plausibel erklären können, wie sie in der Lage gewesen sind, die Schleusungs-kosten in Höhe von 45.000 US-Dollar aufzubringen. Sie haben sich nicht nur unter Aliasnamen als Asylbewerber gemeldet, sondern offenkundig auch unrichtige Geburtsdaten angegeben. So passen die Angaben zum Heiratsalter nicht zu den angeblichen Geburtsdaten der Kläger zu 1. und 2. sowie des Sohnes H.. Zudem hat das Gericht aufgrund des Eindrucks in der mündlichen Verhandlung die Überzeugung gewonnen, dass der Kläger zu 4. kein Kind im Alter von etwa elfeinhalb Jahren ist, sondern ein mindestens 16-jähriger Jugendlicher. Aufgrund des angegebenen Altersunterschieds zum Kläger zu 5. von ca. eineinhalb Jahren drängt sich deshalb der Schluss auf, dass es sich auch bei dem Kläger zu 5. um einen Jugendlichen handelt. Die Kläger haben nie Personaldokumente vorgelegt, obwohl die Kläger zu 1. und 2. offenbar jeweils im Besitz eines afghanischen Personalausweises sind (vgl. die „Offizielle Erklärung über die Eheschließung“ des Sohnes H. vom 22.11.2016, wo auf S. 2 die Personalausweis-Nummern der Kläger zu 1. und zu 2. genannt werden). Nach den gesamten Umständen ist davon auszugehen, dass die Kläger zu 1. und zu 2. auch Nachweise über das Alter ihrer Kinder den deutschen Behörden und Gerichten vorenthalten.
2. Die Kläger haben auch keinen Anspruch auf die Feststellung, dass bei ihnen ein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG hinsichtlich Afghanistans vorliegt. Ihnen droht in Kabul, Mazar-e-Sharif oder in einem anderen relativ sicheren Landesteil nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit die konkrete Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung im Sinn von Art. 3 EMRK aufgrund allgemeiner Gewalt oder schlechter humanitärer Bedingungen (vgl. VGH BW, U.v. 24.7.2013 – A 11 S 727/13 – juris; U.v. 26.2.2014 – A 11 S 2519/12 – juris; zur Zumutbarkeit der Rückkehr afghanischer Familien vgl. auch OVG NRW, B.v. 5.9.2016 – 13 A 1697/16.A – juris).
a) Aus Art. 3 EMRK folgt, dass die Abschiebung eines Ausländers in einen Staat unzulässig ist, in dem ihm mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit die Gefahr droht, der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen zu werden. Die Bestimmung zielt ebenso wie die gesamte Europäische Menschenrechtskonvention hauptsächlich darauf ab, bürgerliche und politische Rechte zu schützen. Ihre grundlegende Bedeutung macht nach Auffassung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte aber eine gewisse Flexibilität erforderlich, um in sehr ungewöhnlichen Fällen eine Abschiebung zu verhindern. In ganz außergewöhnlichen Fällen können daher auch (schlechte) humanitäre Verhältnisse Art. 3 EMRK verletzen, wenn die humanitären Gründe gegen die Ausweisung „zwingend“ sind (vgl. BVerwG, U.v. 31.1.2013 – 10 C 15.12 – BVerwGE 146, 12/22 f. Rn. 25). Dies gilt jedenfalls insoweit, als die schlechten humanitären Bedingungen nicht nur oder überwiegend auf Aktionen von Konfliktparteien, sondern überwiegend auf Armut oder Naturereignisse zurückzuführen sind (vgl. BVerwG, U.v. 31.1.2013 a.a.O.). Für die Beurteilung, ob ganz außergewöhnliche Umstände vorliegen, die nicht in die unmittelbare Verantwortung des Abschiebungszielstaats fallen und die dem abschiebenden Staat nach Art. 3 EMRK eine Abschiebung verbieten, ist grundsätzlich auf den gesamten Abschiebungszielstaat abzustellen und zunächst zu prüfen, ob solche Umstände an dem Ort vorliegen, an dem die Abschiebung endet (vgl. BVerwG, U.v. 31.1.2013 a.a.O. S. 23 Rn. 26).
b) Die allgemeinen Lebensbedingungen in Afghanistan sind zumindest nicht in allen Landesteilen so ernst/schlecht, dass die Abschiebung einer fünfköpfigen Familie wie die der Kläger, die keine individuellen gefahrerhöhenden Umstände aufweisen, eine Verletzung des Art. 3 EMRK darstellen würde. Die Sicherheitslage und damit auch die wirtschaftliche Situation in Afghanistan weisen starke regionale Unterschiede auf. Provinzen und Distrikten mit aktiven Kampfhandlungen stehen andere gegenüber, in denen die Lage trotz punktueller Sicherheitsvorfälle vergleichsweise stabil ist. Es gibt Regionen, z.B. in den Provinzen Kabul, Balkh, Herat, Bamiyan und Panjshir, die im Vergleich mit anderen Landesteilen relativ sicher sind und wirtschaftlich moderat prosperieren (vgl. Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan vom 6.11.2015, Stand November 2015 – Lagebericht Afghanistan vom 6.11.2015 – Zusammenfassung S. 4). Dass jedenfalls die drei Provinzen Kabul, Bamiyan und Panjshir relativ sicher sind, hat auch der afghanische Minister für Flüchtlinge und Repatriierung Balkhi bestätigt, obwohl dieser im Gegensatz zur offiziellen Linie der afghanischen Regierung der Rückführung afghanischer Flüchtlinge aus den EU-Ländern grundsätzlich ablehnend gegenübersteht (vgl. Lagebericht Afghanistan vom 6.11.2015, IV. 1. Situation für Rückkehrer und allgemeine wirtschaftliche Rahmenbedingungen S. 24). Daran ändert auch der Anschlag zweier Selbstmordattentäter nichts, die sich am 23. Juli 2016 inmitten eines Demonstrationszugs der Hazara auf einem zentralen Platz in Kabul in die Luft sprengten und mindestens 80 Menschen töteten und 230 Menschen verletzten (vgl. www.tagesschau.de-/ausland/kabul-explosion-105.html). Die Demonstration richtete sich gegen die geplante Trassenführung einer Hochspannungsleitung. Bei dem Anschlag, zu dem sich der sog. Islamische Staat bekannte und von dem sich die Taliban distanzierten, handelt es sich um ein singuläres Ereignis, das die allgemeine Sicherheitslage nicht wesentlich verändert hat. Dies gilt auch für den Anschlag auf das deutsche Generalkonsulat in Mazar-e-Sharif, bei dem es im November 2016 sechs Tote und mehr als 120 Verletzte gegeben hat. Zwar ist die Gesamtzahl der zivilen Opfer bei Kämpfen und Angriffen in Afghanistan im Jahr 2016 gegenüber 2015 um 3% gestiegen. Fast 3.500 Todesopfer und mehr als 7.900 Verletzte wurden dokumentiert. Damit steigt die Zahl der Verletzten seit dem Jahr 2014 kontinuierlich (2014: 6.849; 2015: 7.457), während die Zahl der Toten kontinuierlich sinkt (2014: 3.699; 2015: 3.545). Das Risiko, in Kabul, Mazar-e-Sharif oder einem anderen relativ sicheren Landesteil durch Anschläge Schaden an Leib oder Leben zu erleiden, bleibt jedoch weiterhin weit unterhalb der Schwelle der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (vgl. zur erforderlichen Verfolgungsdichte BVerwG, U.v. 21.4.2009 – 10 C 11.08 – NVwZ 2009, 1237; BayVGH, B.v. 25.1.2017 – 13a ZB 16.30374 – Rn. 9). Andernfalls wäre nicht verständlich, dass im Jahr 2016 etwa 3.300 afghanische Staatsangehörige freiwillig aus Deutschland in ihr Heimatland zurückgekehrt sind und aus Pakistan und dem Iran sogar über eine Million.
Wie das Beispiel der rund 100.000 pakistanischen Paschtunen zeigt, die wegen der Kämpfe mit der pakistanischen Armee allein im Juni 2014 laut UNHCR aus dem pakistanischen Nord-Waziristan nach Afghanistan gekommen sind und oft direkt von paschtunischen Familien in den afghanischen Nachbarprovinzen Paktika und Khost aufgenommen worden sind, gibt es in Afghanistan über den eigenen Familienverband hinaus eine große Solidarität und Hilfsbereitschaft innerhalb des eigenen Stammesverbandes bzw. der eigenen Volksgruppe (vgl. Lagebericht Afghanistan vom 6.11.2015, III. 5. Lage ausländischer Flüchtlinge S. 22). Dementsprechend erachtet der UNHCR eine interne Schutzalternative dann als zumutbar, wenn die (erweiterte) Familie oder die ethnische Gemeinschaft der Person willens und in der Lage sind, diese in der Praxis tatsächlich zu unterstützen (vgl. UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 19.4.2016, 3. f.).
c) Trotz kontinuierlicher Fortschritte, die z.B. zu einem Anstieg der Lebenserwartung bei Geburt um 22 Jahre und einem deutlichen Rückgang der Mütter- und Kindersterblichkeit über das letzte Jahrzehnt geführt haben, belegte Afghanistan im Jahr 2015 nur Platz 171 von 188 im Human Development Index der Vereinten Nationen (im Jahr 2011 Platz 172). Die Grundversorgung ist für große Teile der Bevölkerung eine tägliche Herausforderung. Das World Food Programme reagiert das ganze Jahr hindurch in verschiedenen Landesteilen auf Krisen bzw. Notsituationen wie Dürre, Überschwemmungen oder extremen Kälteeinbruch. Gerade der Norden – eigentlich die „Kornkammer“ des Landes – ist extremen Natureinflüssen wie Trockenheiten, Überschwemmungen und Erdverschiebungen ausgesetzt. Die aus chronischer Unterentwicklung und Konflikten resultierenden Folgeerscheinungen haben im Süden und Osten Afghanistans dazu geführt, dass dort ca. 1 Mio. oder fast ein Drittel aller Kinder als akut unterernährt gelten (vgl. Lagebericht Afghanistan vom 6.11.2015, IV. 1.1 Grundversorgung S. 24). Der Anteil der Menschen, die unterhalb der nationalen Armutsgrenze leben, beträgt im landesweiten Durchschnitt rund 36 Prozent. Die Arbeitslosenquote stieg im Oktober 2015 auf 40 Prozent (vgl. Lagebericht Afghanistan vom 6.11.2015, IV. 1. Rückkehrfragen S. 23).
Die medizinische Versorgung leidet trotz erkennbarer und erheblicher Verbesserungen landesweit weiterhin an unzureichender Verfügbarkeit von Medikamenten und Ausstattung der Kliniken, insbesondere aber an fehlenden Ärzten und Ärztinnen sowie gut qualifiziertem Assistenzpersonal (v.a. Hebammen). Im Jahr 2013 stand 10.000 Einwohnern Afghanistans statistisch gesehen eine medizinisch qualifizierte Person gegenüber. Durch die gute ärztliche Versorgung im „French Medical Institute“ und dem Deutschen Diagnostischen Zentrum in Kabul können allerdings Patienten einschließlich Kinder auch mit komplizierteren Krankheiten in Kabul behandelt werden (vgl. Lagebericht Afghanistan vom 6.11.2015, IV. 1.2 Medizinische Versorgung S. 24 f.).
Das rapide Bevölkerungswachstum stellt eine weitere Herausforderung für die wirtschaftliche und soziale Entwicklung des Landes dar. Zwischen 2012 und 2015 wird das Bevölkerungswachstum auf rund 2,4 Prozent pro Jahr geschätzt, was in etwa einer Verdoppelung der Bevölkerung innerhalb einer Generation gleichkommt. Die Möglichkeiten des afghanischen Staates, die Grundbedürfnisse der eigenen Bevölkerung zu befriedigen und ein Mindestmaß an sozialen Dienstleistungen, etwa im Bildungsbereich, zur Verfügung zu stellen, geraten dadurch zusätzlich unter Druck (vgl. Lagebericht Afghanistan vom 6.11.2015, IV. 1. Situation für Rückkehrer und allgemeine wirtschaftliche Rahmenbedingungen S. 23 f.).
Allerdings gibt es traditionell ein eklatantes Gefälle zwischen urbanen Zentren und ländlichen Gebieten. Während es in ländlichen Gebieten vielerorts etwa an grundlegender Infrastruktur für Energie, Trinkwasser und Transport fehlt, ist die Situation in der Hauptstadt Kabul und in den Provinzhauptstädten erheblich besser (vgl. Lagebericht Afghanistan vom 6.11.2015, IV. 1. Situation für Rückkehrer und allgemeine wirtschaftliche Rahmenbedingungen S. 23). Gleiches gilt für die medizinische Versorgung. Auch hier gibt es bedeutende regionale Unterschiede innerhalb des Landes, wobei die Situation in den Nord- und Zentralprovinzen um ein Vielfaches besser ist als in den Süd- und Ostprovinzen (vgl. Lagebericht Afghanistan vom 6.11.2015, IV. 1.2 Medizinische Versorgung S. 25).
Bei der prognostischen Einschätzung der Zumutbarkeit der Rückkehr afghanischer Asylbewerber in ihr Herkunftsland ist zu berücksichtigen, dass afghanische Asylbewerber mit oder ohne Familie vor ihrer Ausreise nicht zu dem Teil der Bevölkerung gehört haben, der unterhalb der Armutsgrenze lebt, weil sich diese Bevölkerungsgruppe eine Schleusung nach Europa nicht leisten kann. Vielmehr handelt es sich in der Regel um junge, verhältnismäßig gut ausgebildete und moderat wohlhabende Personen (vgl. Lagebericht Afghanistan vom 6.11.2015, Zusammenfassung S. 6), die schon aus diesem Grund bei einer Rückkehr jedenfalls gegenüber denjenigen im Vorteil sein dürften, die seit jeher unterhalb der Armutsgrenze leben und deren Kinder oft von Unterernährung akut bedroht sind. Obwohl Norwegen auch afghanische Familien mit minderjährigen Kindern abschiebt, sind diesbezüglich offenbar keine Bezugsfälle bekannt, in denen diesen Familien die Reintegration in Afghanistan nicht gelungen wäre (vgl. Lagebericht Afghanistan vom 2.3.2015, Stand Oktober 2014, IV 2.1 Freiwillige Rückkehr und Rückführungen anderer EU-Staaten S. 24; Lagebericht Afghanistan vom 6.11.2015, IV. 2.1 S. 26). Auch wurde die norwegische Abschiebungspraxis offenbar nie vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte beanstandet. Zudem wurde anlässlich der letzten Geberkonferenz Anfang Oktober 2016, bei der die internationale Gemeinschaft Afghanistan für die kommenden vier Jahre Finanzhilfen in Höhe von 15,2 Milliarden Dollar (umgerechnet ca. 13,6 Milliarden Euro) zugesagt hat, ein Rückübernahmeabkommen zwischen der Europäischen Union und Afghanistan geschlossen (vgl. www.faz.net/aktuell/politik/aus-land/geber-konferenz-afghanis-tan-erhaelt-15-mrd-dollar-finanzhilfen-14468268. html). Da auch Familien mit minderjährigen Kindern von diesem Rückübernahmeabkommen erfasst werden, lässt dies den Schluss zu, dass es allgemeiner Konsens unter den EU-Staaten (und Afghanistan) ist, dass auch diesem Personenkreis bei Wahrung der Familieneinheit die Rückkehr nach Afghanistan zumutbar ist (vgl. Joint Way Forward on migration issues between Afghanistan and the EU, Part I. Nr. 4. Satz 1). Um die Reintegration zu erleichtern, entwickelt und finanziert die EU Hilfsprogramme, wobei besondere Beachtung den Bedürfnissen von Frauen, Kindern und anderen schutzbedürftigen Gruppen gegeben werden soll (vgl. Joint Way Forward on migration issues between Afghanistan and the EU, Part IV. Nr. 3).
d) Für eine reale, mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit bestehende Chance afghanischer Familien, nach einer Rückkehr eine ausreichende Existenzgrundlage für alle Familienmitglieder zu finden, sprechen vor allem die Start- und Reintegrationshilfen, die sie erhalten können. Für eine fünfköpfige Familie wie diejenige der Kläger beträgt die Starthilfe nach dem von Bund und Ländern finanzierten GARP-Programm insgesamt 2.500 EUR (500 EUR pro Rückkehrer ab 12 Jahre). Hinzu kommen die kumulativ zur Verfügung stehenden Reintegrationsleistungen nach dem Europäischen Reintegrationsprogramm „ERIN“. Diese umfassen als Maßnahmen zur Wiedereingliederung folgende individuellen Reintegrationshilfen:
̶  Ankunftsservice:
– Abholung/Empfang am Ankunftsort (z.B. Flughafen)
– Kurzfristige Unterkunft am Ankunftsort (bis zu 2 Nächte)
– Dringende medizinische Versorgung (Notfallversorgung)
̶  Unterstützung in sozialen, medizinischen und rechtlichen Angelegenheiten
̶  Unterstützung bei Wohnungssuche/Wohnraumbeschaffung (ggf. Mietzuschuss)
̶  Beratung bei der Suche und Vermittlung von Arbeitsstellen
̶  Aus- und Weiterbildungsmaßnahmen
̶  Unterstützung bei Existenzgründungen
̶  Sonstige individuelle Hilfsangebote zum Aufbau einer eigenen Existenz
Die Unterstützung, die vor allem den Abbau anfänglicher Hürden nach einer Rückkehr sowie die dauerhafte Reintegration zum Ziel hat, wird über eine vor Ort tätige Partnerorganisation (Service Provider) weitgehend als Sachleistung gewährt. Diese erstellt mit dem Rückkehrer einen individuellen Rückkehr- und Reintegrationsplan. Die maximale Förderhöhe beträgt bei freiwilligen Rückkehrern bis zu 1.300 EUR oder 2.000 EUR bei Existenzgründung (Höchstbetrag), bei rückgeführten Personen bis zu 700 EUR. Bei freiwilliger Rückkehr im Familienverbund wird für den Ehegatten eine Förderung im Wert bis zu 500 EUR und für jedes minderjährige Kind zusätzlich bis zu 100 EUR gewährt; der Maximalbetrag für die Familie beträgt bis zu 2.300 EUR. Auch wenn auf diese Leistungen ein Rechtsanspruch nicht besteht, kann davon ausgegangen werden, dass die Kläger als fünfköpfige Familie Reintegrationshilfen im Gesamtwert bis zu 4.600 EUR in Anspruch nehmen können. Gerade vor dem Hintergrund, dass professionelle Hilfe bei der Arbeitsplatz- und Wohnungssuche gewährt wird, erscheint dies ausreichend für die Prognose, dass es den Klägern jedenfalls bis zum Ablauf der Zeitspanne, während der ihr Lebensunterhalt durch die Reintegrationshilfen gesichert ist, gelingt, sich zumindest mit Gelegenheitsarbeiten einschließlich Heimarbeit eine ausreichende Existenzgrundlage zu schaffen. Dabei ist mit zu berücksichtigen, dass die Familie im Notfall voraussichtlich aus dem Kreis der in Afghanistan im Allgemeinen und in Kabul im Besonderen tätigen internationalen Hilfsorganisationen langfristig die notwendige Unterstützung bekommen würde.
Wenn der Bayerische Verwaltungsgerichtshof in dem zitierten Urteil vom 21. November 2014 (a.a.O. Rn. 29) ausführt, die Unterstützungsleistungen würden nur einen vorübergehenden Ausgleich schaffen, seien aber nicht geeignet, auf Dauer eine menschenwürdige Existenz zu gewährleisten, orientiert er sich nicht an dem allgemein anerkannten, auch dem Kindeswohl in dem gebotenen Maße Rechnung tragenden Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (vgl. BVerwG, B.v. 18.7.2001 – 1 B 71.01 – juris m.w.N.). Demnach genügt es, dass die Reintegrationshilfen, die seit der Entscheidung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs durch das Europäische Reintegrationsprogramm „ERIN“ erheblich ausgeweitet und erheblich effektiver gestaltet wurden, der rückkehrenden Familie eine reale Chance geben, ebenso wie ein großer Teil der bereits ortsansässigen Familien zumindest mit Gelegenheitsarbeiten eine ausreichende Existenzgrundlage zu finden. Die Reintegrationshilfen sollen die Nachteile ausgleichen, die Rückkehrer in der Phase des Neustarts vorübergehend gegenüber der ortsansässigen Bevölkerung haben, sie aber nicht auf Dauer besser stellen. Dauerhafte Hilfen wären im Hinblick auf die für eine gelungene Reintegration erforderliche Eigeninitiative kontraproduktiv. Auch bei § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG reicht es nicht aus, dass sich die Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit irgendwann verwirklichen kann. Vielmehr ist für die Bejahung eines Abschiebungsverbots erforderlich, dass alsbald mit ihrer Realisierung zu rechnen ist (vgl. BVerwG, U.v. 29.7.1999 – 9 C 2.99 – juris). Abgesehen davon zählt der UNCHR in seinen Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 19. April 2016 Kinder nicht generell zu den besonders schutzbedürftigen Personengruppen, sondern nur Kinder mit bestimmten Profilen oder in spezifischen Umständen oder Kinder im Kontext der (Zwangs-)Rekrutierung von Minderjährigen. (vgl. 3. b. Nr. 3, 10). Im Vergleich mit den zigtausenden Rückkehrerfamilien aus den Nachbarstaaten Pakistan und Iran haben die aus Deutschland zurückkehrenden Familien ohnehin einen großen Startvorteil.
Die Kläger können sich nicht mit Erfolg darauf berufen, dass die genannten Reintegrationshilfen ganz oder teilweise nur für „freiwillige“ Rückkehrer gewährt werden, also (teilweise) nicht bei einer zwangsweisen Rückführung (Abschiebung). Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte können schlechte humanitäre Verhältnisse ein Abschiebungsverbot nach Art. 3 EMRK nur begründen, wenn die humanitären Gründe gegen die Ausweisung „zwingend“ sind. Davon kann aber keine Rede sein, wenn der Betroffene seine individuelle Lage dadurch entscheidend verbessern kann, dass er seiner Ausreiseverpflichtung von sich aus nachkommt und es nicht auf eine Abschiebung ankommen lässt. Zudem kann nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ein Asylbewerber, der durch eigenes zumutbares Verhalten – wie insbesondere durch freiwillige Rückkehr – im Zielstaat drohende Gefahren abwenden kann, vom Bundesamt nicht die Feststellung eines Abschiebungsverbots verlangen (vgl. BVerwG, U.v. 15.4.1997 – 9 C 38.96 – juris; VGH BW, U.v. 26.2.2014 – A 11 S 2519/12 – juris S. 40; a.A. VG Augsburg, U.v. 16.6.2011 – Au 6 K 11.30153 – juris Rn. 22). Abgesehen davon gibt die Internationale Organisation für Migration (IOM), die Abschiebungen nicht unterstützt und keine Abschiebungsprogramme durchführt, auch abgeschobenen Asylbewerbern Unterstützung nach der Ankunft im Land (vgl. Lagebericht Afghanistan vom 6.11.2015, IV. 2.1 Freiwillige Rückkehr und Rückführungen anderer EU-Staaten S. 26).
e) Die Kläger können sich auch nicht mit Erfolg auf individuelle gefahrerhöhende Umstände berufen. Dies gilt auch für die Klägerin zu 2.. Dem Arztbrief vom 4.8./19.8.2015 kann entnommen werden, dass sie vor ca. 15 Jahren in Afghanistan an TBC erkrankt und dort behandelt worden ist. Der Verdacht auf eine erneute TBC-Erkrankung bestätigte sich jedoch nicht. Allerdings wurde eine pneumonische Infiltration durch drei verschiedene Erreger festgestellt und medikamentös behandelt. Nach einem zweiwöchigen stationären Aufenthalt wurde die Klägerin zu 2. in gutem Allgemeinzustand in die ambulante Behandlung entlassen, so dass sie jedenfalls bei ihrer Anhörung durch das Bundesamt am 24. Juni 2016 vollständig genesen war („Jetzt bin ich wieder gesund“). Anhaltspunkte für eine Herzkrankheit ergeben sich aus den ärztlichen Feststellungen in dem Arztbrief vom 4.8./19.8.2015 nicht, obwohl die Klägerin damals geäußert hatte, sie leide seit ca. 10 Jahren unter Herzrasen und Angstzuständen, weil ihre Familie bei einem Bombenanschlag umgekommen sei. Dies ist jedoch, wie unter 1. dargelegt, nicht glaubhaft.
Der Kurzbrief der 4. Medizinischen Klinik des Klinikums * vom 27. Januar 2017 enthält lediglich die Diagnose „Hyperventilation i.R. psychischer Belastungssituation“. Vor dem Hintergrund, dass die Kläger an diesem Tag die Ladung zur mündlichen Verhandlung bekommen haben und die Klägerin zu 2. dies so verstanden hat, dass eine Abschiebung in das Heimatland erfolgen solle, ist das Gericht überzeugt, dass die Klägerin zu 2. einen Asthmaanfall simuliert hat, um „eine Bescheinigung dafür zu erhalten“, dass sie für eine Abschiebung zu krank sei. Das ärztliche Attest der praktischen Ärztin Dr. med. * vom 27. Januar 2017 ist unter diesen Umständen ebenso als Gefälligkeitsattest zu werten wie das für die Klägerin zu 3. am 20. Dezember 2016 ausgestellte Attest der gleichen Ärztin.
f) Der vorliegende Fall einer Familie aus Eltern und drei Jugendlichen (s.o. 1.) unterscheidet sich dadurch wesentlich von demjenigen, der dem Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 21. November 2014, Az. 13a B 14.30284, zugrunde lag, dass sämtliche Familienmitglieder erwerbsfähig sind und in erheblichem Umfang zum Lebensunterhalt der Familie beitragen können. Hinzu kommt, dass die Kläger nach einer Rückkehr in ihr Herkunftsland mit Unterstützung durch die dort lebenden Verwandten (Schwester des Klägers zu 1., Onkel und Schwester der Klägerin zu 2.) und den in Deutschland aufenthaltsberechtigten volljährigen Sohn M. rechnen können.
3. Die Kläger haben auch keinen Anspruch auf die Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG. Wie sich aus den Ausführungen unter 2. ergibt, besteht für sie in Afghanistan jedenfalls landesweit keine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Das Verfahren ist gerichtskostenfrei (§ 83b AsylG).

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