Verwaltungsrecht

Keinerlei Vorverfolgung des Klägers in seinem Heimatland

Aktenzeichen  M 6 K 17.36366

Datum:
9.10.2017
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AufenthG AufenthG § 60 Abs. 5, Abs. 7 S. 1
AsylG AsylG § 76 Abs. 1

 

Leitsatz

Auch wer ohne jede asylrelevante Fluchtgeschichte und nach eigenen Angaben vor allem einer besseren Zukunftsperspektive wegen in die Bundesrepublik illegal einreist, kann von hier nicht in sein Heimatland abgeschoben werden, wenn er an einer schwerwiegenden Krankheit leidet, die dort nicht hinreichend oder für ihn erreichbar medizinisch oder medikamentös weiterbehandelt werden kann, sodass sich die Erkrankung wesentlich verschlechtert oder sogar Lebensgefahr bestünde. Das gilt nicht nur für Afghanistan, sondern für jedes Land der Erde und all seine an entsprechenden Krankheiten leidenden Staatsbürger, selbst wenn sich diese – wie hier – schon jahrelang in einem anderen Land aufgehalten haben, wo sie offenbar ausreichend medizinisch und medikamentös versorgt waren. (Rn. 14)

Tenor

I. Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 16.3.2017 wird in den Nrn. 4-6 aufgehoben. Die Beklagte wird verpflichtet festzustellen, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG hinsichtlich Afghanistan vorliegen.
II. Die Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der Kläger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Die Klage ist zulässig und hat in der Sache Erfolg. Der Bescheid der Beklagten vom 16. März 2017 ist, soweit er noch angegriffen wird, rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO analog).
1. Über den Rechtsstreit konnte aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 9. Oktober 2017 entschieden werden, obwohl auf Seiten der Beklagten niemand erschienen ist. Die Beklagte wurde ausweislich der Niederschrift zum Termin ordnungsgemäß geladen und darauf hingewiesen, dass im Fall des Ausbleibens eines Beteiligten auch ohne diesen verhandelt und entschieden werden könne.
Es konnte nunmehr im schriftlichen Verfahren ohne weitere mündliche Verhandlung entschieden werden, nachdem sich die Beklagte auf den ihr mit Verfügung vom 30. November 2017 zugestellten Schriftsatz vom 7. Oktober 2017 nicht geäußert hat. Das Gericht hat ausreichend lange zum Zwecke der Gewährung rechtlichen Gehörs zugewartet.
2. Abschiebungsverbote hinsichtlich Afghanistan bestehen für den Kläger deshalb, weil nicht mit hinreichender Sicherheit aufklärbar ist, ob das laut den insoweit schlüssigen ärztlichen Bescheinigungen für den Kläger zwingend notwendige Medikament mit dem Wirkstoff L-Thyroxin für ihn in seinem Heimatland hinreichend verfügbar und zugänglich ist. Auch eigene Recherchen des Gerichts brachten hier keine hinreichende Klarheit, sodass im Zweifel für den Kläger zu entscheiden war.
Daran ändert es nichts, dass der Kläger keine Fluchtgeschichte vorgebracht hat, die im asylrechtlichen Sinne auch nur annähernd geeignet gewesen wäre, ihm einen Schutzstatus als Flüchtling oder subsidiären Schutz zuzuerkennen. Ihm ging es offenkundig vielmehr um eine bessere wirtschaftliche und persönliche Zukunft als diejenige im Iran, wo er sich rund 15 Jahre aufhielt. Doch auch wer ohne jede asylrelevante Fluchtgeschichte und nach eigenen Angaben vor allem einer besseren Zukunftsperspektive wegen in die Bundesrepublik illegal einreist, kann von hier nicht in sein Heimatland abgeschoben werden, wenn er nachweislich an einer schwerwiegenden Krankheit leidet, die dort nicht hinreichend oder für ihn erreichbar medizinisch oder medikamentös weiterbehandelt werden kann, sodass sich die Erkrankung wesentlich verschlechtert oder sogar Lebensgefahr bestünde. Das gilt nicht nur für Afghanistan, sondern für jedes Land der Erde und all seine an entsprechenden Krankheiten leidenden Staatsbürger, selbst wenn sich diese – wie hier – schon jahrelang in einem anderen Land aufgehalten haben, wo sie offenbar ausreichend medizinisch und medikamentös versorgt waren Das gilt hier auch, obwohl der Kläger weder bei seiner Anhörung beim Bundesamt noch bis zur mündlichen Verhandlung hierzu etwas vorgetragen hat, was Zweifel daran aufkommen lassen kann, ob seine Erkrankung wirklich so lebensbedrohlich sein oder werden kann wie er glauben machen will. Er hat auch nicht auf die Notwendigkeit einer Behandlung während der letzten 17 Lebensjahre hingewiesen, von denen er angeblich 15 Jahre im Iran verbracht hat. Der Feststellung von Abschiebungsverboten steht es schließlich auch nicht entgegen, wenn – wie hier – mangels Ausweispapieren – wie sehr häufig – die Identität des Asylbewerbers nicht geklärt ist. Dabei erscheint es höchst zweifelhaft, dass der Kläger 15 Jahre im Iran ohne Papiere sich hat aufhalten können. Aus zahlreichen anderen Verfahren ist bekannt, dass afghanische Staatsangehörige im Iran entweder sog. Flüchtlingsausweise oder sonstige Aufenthaltspapiere erhalten, ohne die sie jedenfalls über längere Zeit nicht zurechtkommen könnten. Sogar Zeugnisse über den Besuch des Gymnasiums im Iran durch afghanische Staatsangehörige samt Abiturabschluss wurden dem Gericht schon vorgelegt. Das alles weckt insgesamt massive Zweifel an der Glaubwürdigkeit des Klägers, was freilich ebenfalls die Feststellung von Abschiebungsverboten nicht hindert.
Es bleibt der Beklagten unbenommen, zu gegebener Zeit zu überprüfen, ob inzwischen die Versorgungslage mit Medikamenten und die medizinische Versorgung mit Nachsorgeuntersuchungen (Überwachung der Schilddrüse) sich so gebessert hat, dass eine Rückführung des Klägers in Betracht gezogen werden kann, zumal wenn ihm ein größerer Vorrat des lange haltbaren Schilddrüsenmedikaments mitgegeben oder dessen Bezug vor Ort organisiert und sichergestellt würde.
3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO, diejenige über die vorläufige Vollstreckbarkeit auf § 708 ff. Zivilprozessordnung – ZPO.


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