Verwaltungsrecht

Keinerlei Vorverfolgung des Klägers in seinem Heimatland

Aktenzeichen  M 6 K 17.34099

Datum:
6.12.2017
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AufenthG AufenthG § 60 Abs. 5, Abs. 7 S. 1
AsylG AsylG § 76 Abs. 1

 

Leitsatz

Auch wer ohne eine asylrelevante Fluchtgeschichte und mutmaßlich oder nach eigenen Angaben vor allem einer besseren Zukunftsperspektive wegen in die Bundesrepublik illegal einreist, kann von hier nicht in sein Heimatland abgeschoben werden, wenn er an einer schwerwiegenden Krankheit leidet, die dort nicht hinreichend oder für ihn erreichbar medizinisch oder medikamentös weiterbehandelt werden kann, sodass sich die Erkrankung wesentlich verschlechtert oder sogar Lebensgefahr bestünde (hier: Suizidgefahr). Das gilt nicht nur für Afghanistan, sondern für jedes Land der Erde und all seine an entsprechenden Krankheiten leidenden Staatsbürger, selbst wenn sich diese – wie hier – schon jahrelang in einem anderen Land aufgehalten haben, wo sie offenbar ausreichend medizinisch und / oder medikamentös versorgt waren. (Rn. 15)

Tenor

I. Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 24.2.2017 wird in den Nrn. 4-6 aufgehoben. Die Beklagte wird verpflichtet festzustellen, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG hinsichtlich Afghanistan vorliegen.
II. Die Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der Kläger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Die Klage ist zulässig und hat in der Sache Erfolg. Der Bescheid der Beklagten vom 5. April 2017 ist, soweit er noch angegriffen wird, rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
1. Über den Rechtsstreit konnte aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 11. Oktober 2017 entschieden werden, obwohl auf Seiten der Beklagten niemand erschienen ist. Die Beklagte wurde ausweislich der Niederschrift zum Termin ordnungsgemäß geladen und darauf hingewiesen, dass im Fall des Ausbleibens eines Beteiligten auch ohne diesen verhandelt und entschieden werden könne.
2. Abschiebungsverbote hinsichtlich Afghanistan bestehen für den Kläger deshalb, weil nicht mit hinreichender Sicherheit aufklärbar ist, ob die diagnostizierte psychische Erkrankung, die laut der insoweit schlüssigen ärztlichen Bescheinigung vorliegt, in Afghanistan angemessen würde behandelt werden können, woran zumindest ernstliche Zweifel bestehen. Zwar gibt es medizinische Versorgung auch auf dem Gebiet der Psychiatrie, diese ist aber massiv beeinträchtigt und durch wiederholte Angriffe von Aufständischen substantiell geschwächt. Zudem ist der Bedarf in einem von bewaffneten Auseinandersetzungen über Jahrzehnte gezeichneten Land immens. Ob der Kläger vor diesem Hintergrund zuverlässig und in angemessener Zeit Zugang zu einer dauerhaften, wenigstens ambulanten, psychiatrischen Betreuung hätte, ist nach Auswertung der ins Verfahren eingeführten Erkenntnismittel zumindest fraglich. Zweifel dürfen in diesem konkreten Einzelfall auch wegen der Suizidalität des Klägers jedoch nicht verbleiben. Aber selbst wenn eine solche Behandlung grundsätzlich möglich sein sollte, so nur in großen Städten und mit erheblichen, nicht nur finanziellen Hürden.
Ob die für den Kläger zwingend notwendigen Medikamente für ihn in seinem Heimatland hinreichend verfügbar und zugänglich sind, ist ebenfalls fraglich. Auch eigene Recherchen des Gerichts brachten hier keine hinreichende Klarheit, sodass im Zweifel für den Kläger zu entscheiden war. Das gilt umso mehr, als er sich von Suizidgedanken bislang nicht hinreichend zu distanzieren in der Lage ist.
Zur Überzeugungsbildung des Gerichts haben schließlich die sehr umfassenden, offensichtlich fachlich kompetenten Aufzeichnungen des Betreuungspersonals beigetragen, deren Inhalt die psychiatrische Diagnose nachhaltig stütz.
An diesem Ergebnis ändert es nichts, dass der Kläger keine Fluchtgeschichte vorgebracht hat, die im asylrechtlichen Sinne geeignet gewesen wäre, ihm einen Schutzstatus als Flüchtling oder subsidiären Schutz zuzuerkennen. Ihm ging es wahrscheinlich vielmehr um eine bessere wirtschaftliche und persönliche Zukunft als diejenige, die ihn in Afghanistan erwarten würde. Aber auch wer ohne jede asylrelevante Fluchtgeschichte in die Bundesrepublik illegal einreist, kann von hier nicht in sein Heimatland abgeschoben werden, wenn er nachweislich an einer schwerwiegenden Krankheit leidet, die dort nicht hinreichend oder für ihn erreichbar medizinisch oder medikamentös weiterbehandelt werden kann, sodass sich die Erkrankung wesentlich verschlechtert oder sogar Lebensgefahr bestünde. Das gilt nicht nur für Afghanistan, sondern für jedes Land der Erde und all seine an entsprechenden Krankheiten leidenden Staatsbürger. Das gilt hier auch, obwohl der Kläger bei seiner Anhörung beim Bundesamt zu einer psychischen Erkrankung nichts vorgetragen hat, sondern hierzu erst mit Schriftsatz seiner Prozessbevollmächtigten vom 14. November 2017 vortragen ließ. Der Feststellung von Abschiebungsverboten steht es schließlich auch nicht entgegen, wenn – wie hier – mangels Ausweispapieren – wie sehr häufig – die Identität des Asylbewerbers nicht geklärt ist.
Es bleibt der Beklagten unbenommen, zu gegebener Zeit zu überprüfen, ob inzwischen die Versorgungslage mit ambulanter, psychiatrischer Betreuung und Medikamenten sich so gebessert hat, dass eine Rückführung des Klägers in Betracht gezogen werden kann, zumal wenn ihm ein größerer Vorrat der lange haltbaren Medikamente mitgegeben oder deren Bezug vor Ort organisiert und sichergestellt würde.
3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO, diejenige über die vorläufige Vollstreckbarkeit auf § 708 ff. Zivilprozessordnung – ZPO.


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