Verwaltungsrecht

Kriterien für die Aufnahme in die Vormerkungsdatei für eine Sozialwohnung

Aktenzeichen  12 ZB 17.987

Datum:
3.7.2017
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BayVBl – 2018, 248
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
BayWoBindG Art. 5
DVWoR Art. 3

 

Leitsatz

1. Bei der Aufnahme von Wohnungssuchenden in eine nach Dringlichkeitsstufen und Punkten differenzierende Vormerkdatei (Rangliste) ist eine wie auch immer geartete „Rückstufung“ von Antragstellern, die nicht bzw. erst seit kurzem in der kreisfreien Gemeinde oder dem Landkreis wohnen, hinter bereits seit längerem dort ansässige Personen nur dann statthaft, wenn dadurch der vom Gesetz- und Verordnungsgeber in Art. 5 Sätze 3, 6 und 7, 2. Halbsatz BayWoBindG i.V.m. § 3 Abs. 3 DVWoR festgelegte Vorrang des Gesichtspunkts der sozialen Dringlichkeit der Bewerbung als maßgebliches Auswahlkriterium bei der Benennung für eine Sozialwohnung im konkreten Einzelfall gewahrt bleibt (vgl. bereits BayVGH, B.v. 11.3.2014 – 12 C 14.380 – juris, Rn. 15). (Rn. 8)
2. Nach § 3 Abs. 3 Satz 3 Nr. 1 DVWoR richtet sich die Dringlichkeit in erster Linie nach dem sozialen Gewicht des Wohnungsbedarfs des Bewerbers; (ob und) wie lange der antragstellende Wohnungssuchende schon in der kreisfreien Gemeinde oder dem Landkreis mit seinem Hauptwohnsitz gemeldet ist, wo er sich um eine Wohnung bemüht, darf hingegen gemäß § 3 Abs. 3 Satz 3 Nr. 2 DVWoR nur ergänzend berücksichtigt werden (vgl. auch bereits BayVGH, B.v. 19.8.2013 – 12 C 13.1519 – juris, Rn 13 und B.v. 11.3.2014 – 12 C 14.380 – juris, Rn. 15). (Rn. 9)
3. Ein genereller (auch nur faktischer) Ausschluss von gemäß Art. 5 Satz 3 BayWoBindG vorrangig zu berücksichtigenden Personen von der Benennung für eine Sozialwohnung durch wie auch immer ausgestaltete „Warte(zeit)-, Rangfolge- oder (Anwesenheits-) Punkteregelungen“ ohne konkrete, die Umstände des Einzelfalls in den Blick nehmende Prüfung und Beurteilung der jeweiligen sozialen Dringlichkeit des Wohnbedarfs kommt danach nicht in Betracht. Andernfalls würde das „Hilfskriterium“ der Verweil- oder Aufenthaltsdauer entgegen der Intention des Gesetz- und Verordnungsgebers zum Hauptkriterium erhoben, obwohl es lediglich ergänzend, nämlich nur bei ansonsten im Wesentlichen gleicher Bedürftigkeit und Dringlichkeit, zum Tragen kommen soll (vgl. auch bereits BayVGH, B.v. 11.3.2014 – 12 C 14.380 – juris, Rn. 16 u. 17).   (Rn. 10)
4. Die Prüfung und Beurteilung der zuständigen Behörde muss in jedem Einzelfall erkennen lassen, dass die aufgezeigten Maßstäbe beachtet wurden. Pauschale Darlegungen unter Bezugnahme auf abstrakte Punkte- oder Rang(folge)regelungen ohne konkrete Prüfung und Beurteilung der sozialen Dringlichkeit des Wohnbedarfs im Einzelfall können insoweit nicht genügen.   (Rn. 11 – 12)

Verfahrensgang

M 12 K 17.342 2017-03-23 Bes VGMUENCHEN VG München

Tenor

Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe und Anwaltsbeiordnung für einen Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.

Gründe

I.
Der am … 1956 geborene Kläger wohnt derzeit mit seiner Ehefrau und seiner siebenjährigen Tochter in einer Zweieinhalbzimmerwohnung (Gesamtwohnfläche 50 qm) in U* … (Landkreis München). Am 30. November 2016 beantragte er bei der beklagten Landeshauptstadt München für sich und seine Familie die Registrierung für eine öffentlich geförderte Wohnung.
Mit Bescheid vom 4. Januar 2017 merkte die Beklagte den Haushalt des Klägers für eine öffentlich geförderte Wohnung vor. Als angemessene Wohnungsgröße wurden drei Räume mit einer Fläche ab 10 qm festgesetzt. Die Dringlichkeit des Antrags wurde (lediglich) mit 7 Punkten (5 Grundpunkte, 1 Vorrangpunkt, 1 Anwesenheitspunkt) in Rangstufe IV festgesetzt. Zur Begründung wurde ausgeführt, dass der Kläger nicht mit Hauptwohnsitz in München gemeldet sei.
Mit Urteil vom 23. März 2017 wies das Verwaltungsgericht die auf Zuerkennung einer höheren Punktzahl gerichtete Klage als unbegründet ab. Der Kläger lebe mit seiner Familie im Landkreis München und habe somit keinen Hauptwohnsitz in der Landeshauptstadt. Die Einstufung mit 5 Grundpunkten entspreche daher den ermessensbindenden Richtlinien der Beklagten. Der im Landkreis München wohnhafte Kläger könne beim Landratsamt München einen Wohnungsantrag stellen, bei dem die von ihm vorgetragenen Aspekte sozialer Dringlichkeit vollumfänglich berücksichtigt würden. Die Beklagte habe dem Kläger vielmehr zu Unrecht einen Anwesenheitspunkt gewährt, obwohl er seit über drei Jahren keinen Hauptwohnsitz mehr in München habe.
Mit dem Antrag auf Zulassung der Berufung verfolgt der anwaltlich nicht vertretene Kläger sein Begehren weiter.
II.
Der Senat legt den Antrag des Klägers dahin aus, ihm für einen noch zu stellenden Antrag auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts München vom 23. März 2017 Prozesskostenhilfe zu bewilligen, nicht aber als Antrag auf Zulassung der Berufung, der zu seiner Zulässigkeit anwaltlicher Vertretung bedürfte.
1. Der so zu verstehende Antrag ist abzulehnen, weil die beabsichtigte Rechtsverfolgung – jedenfalls derzeit – keine Aussicht auf Erfolg bietet (§ 166 VwGO, § 114 Abs. 1 ZPO). Die Beiordnung eines Bevollmächtigten nach § 121 Abs. 2 ZPO kommt deshalb ebenfalls nicht in Betracht.
1.1 Eine Zulassung der Berufung wegen ernstlicher Zweifel an der Richtigkeit der Entscheidung des Verwaltungsgerichts (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) ist derzeit nicht zu erwarten. Der Kläger legt auch im vorliegenden Verfahren nicht dar, weshalb der von ihm geltend gemachte dringende Wohnbedarf gerade in der Landeshauptstadt München befriedigt werden muss und nicht auch im Landkreis München, dem Ort seines derzeitigen gewöhnlichen Aufenthalts, erfüllt werden kann. Ebenso wenig ist dies sonst ersichtlich.
Dem Kläger bleibt es jedoch unbenommen, diese Darlegung im Rahmen einer erneuten Antragstellung unter ausführlicher Benennung der konkreten Belastungssituation und der Notwendigkeit einer Befriedigung seines Wohnbedarfs in der Landeshauptstadt nachzuholen. In diesem Fall werden sowohl die Beklagte und in der Folge gegebenenfalls auch das Verwaltungsgericht zu berücksichtigen haben, dass im Rahmen der Aufnahme von Wohnungssuchenden in die nach Dringlichkeitsstufen und Punkten differenzierende Vormerkkartei (Rangliste) eine wie auch immer geartete „Rückstufung“ von Antragstellern, die nicht bzw. erst seit kurzem in München wohnen, hinter bereits seit längerem in München ansässige Personen nur dann statthaft ist, wenn dadurch der vom Gesetzgeber in Art. 5 Sätze 3, 6 und 7, 2. Halbsatz BayWoBindG i.V.m. § 3 Abs. 3 DVWoR neben einer (gemäß der amtl. Begründung [vgl. Lt-Drucks. 17/11362, S. 26] nur die bestimmte zu belegende Wohnung betreffenden, unter dem Vorbehalt des Möglichen [vgl. Art. 5 Satz 5 BayWoBindG] stehenden) Strukturkomponente verbindlich festgelegte Vorrang des Gesichtspunkts der sozialen Dringlichkeit der Bewerbung als maßgebliches Auswahlkriterium bei der Benennung für eine Sozialwohnung im konkreten Einzelfall gewahrt bleibt (vgl. auch bereits BayVGH, B.v. 11.3.2014 – 12 C 14.380 – juris, Rn. 15).
Nach § 3 Abs. 3 Satz 3 Nr.1 DVWoR richtet sich die Dringlichkeit „in erster Linie“ nach dem sozialen Gewicht des Wohnungsbedarfs des Bewerbers (vgl. auch Nr. 6.4 Satz 1 der die Beklagte bindenden Verwaltungsvorschrift zum Vollzug des Wohnungsbindungsrechts (VVWoBindR) des Bayerischen Staatsministeriums des Innern vom 12. September 2007 – II C4-4702-003/07, geändert durch Bekanntmachung vom 27. Februar 2013, AllMBl S. 133); (ob und) wie lange der antragstellende Wohnungssuchende schon in der kreisfreien Gemeinde oder dem Landkreis mit seinem Hauptwohnsitz gemeldet ist, wo er sich um eine Wohnung bemüht, darf hingegen gemäß der ausdrücklichen Regelung in § 3 Abs. 3 Satz 3 Nr. 2 DVWoR (auch weiterhin) nur „ergänzend“ berücksichtigt werden (vgl. auch bereits BayVGH, B.v. 19.8.2013 – 12 C 13.1519 – juris, Rn 13; B.v. 11.3.2014 – 12 C 14.380 – juris, Rn. 15).
Das ergänzende Kriterium der Verweil- oder Aufenthaltsdauer soll lediglich ausschließen, dass ein Bewerber anderen Wohnungssuchenden mit längerer Verweil-oder Aufenthaltsdauer vorgezogen wird, obwohl sein Wohnbedarf nur ein unwesentlich höheres oder gar nur gleiches soziales Gewicht besitzt (vgl. Nr. 6.4 Satz 2 VVWoBindR); es darf aber nicht dazu führen, dass Personen, deren Wohnbedarf nach § 3 Abs. 3 Satz 3 Nr. 1 DVWoR erhebliches soziales Gewicht zukommt, entgegen der in Art. 5 Satz 3 u. 6 BayWoBindG i.V.m. § 3 Abs. 3 DVWoR ausdrücklich angeordneten vorrangigen Berücksichtigung des Kriteriums der sozialen Dringlichkeit aufgrund der Nichterfüllung wie auch immer ausgestalteter „Warte(zeit)-, Rangfolge- oder (Anwesenheits-) Punkteregelungen“ ohne konkrete einzelfallbezogene Prüfung und Beurteilung der sozialen Dringlichkeit des Wohnbedarfs von der Benennung für eine Sozialwohnung ausgeschlossen werden. Andernfalls würde das „Hilfskriterium“ der Verweil- und Aufenthaltsdauer entgegen der Intention des Gesetz- und Verordnungsgebers zum Hauptkriterium erhoben, obwohl es lediglich ergänzend, nämlich nur bei ansonsten im Wesentlichen gleicher Bedürftigkeit und Dringlichkeit, zum Tragen kommen soll (vgl. Nr. 6.4 Satz 2 VVWoBindR). Auch § 3 Abs. 3 Satz 2 DVWoR sieht ausdrücklich vor, dass die Dauer der Bewerbung (erst) bei Gleichrangigkeit der sozialen Dringlichkeit der konkurrierenden Wohnbedarfe entscheidet.
Die Beklagte hat in ihrer Verwaltungspraxis, auch soweit diese auf ermessenslenkenden Richtlinien gründet, die als reines Innenrecht – anders als Rechtsnormen – einer eigenständigen richterlichen Interpretation nicht unterliegen (vgl. BayVGH, U.v. 28.7.2005 – 4 B 01.2536 -, BayVBl. 2006, 731 m.w.N.), sicherzustellen, dass ihre Ermessensausübung im konkreten Einzelfall den zwingenden gesetzlichen Vorgaben des Art. 5 Sätze 3, 6 und 7, 2. Halbsatz WoBindG i.V.m. § 3 Abs. 3 DVWoR entspricht. Ein genereller (auch nur faktischer) Ausschluss von gemäß Art. 5 Satz 3 BayWoBindG vorrangig zu berücksichtigenden Personen von der Benennung für eine Sozialwohnung durch wie auch immer geartete „Warte(zeit)-, Rangfolge- oder (Anwesenheits-) Punkteregelungen“ ohne konkrete, die Umstände des Einzelfalls in den Blick nehmende Prüfung der jeweiligen sozialen Dringlichkeit des Wohnbedarfs kommt danach (auch weiterhin) nicht in Betracht (vgl. bereits BayVGH, B.v. 11.3.2014 – 12 C 14.380 – juris, Rn. 17).
Die Beklagte wird dies bei künftigen, (nicht nur) den Kläger betreffenden Entscheidungen zu beachten haben. Die Prüfung und Beurteilung der Landeshauptstadt muss in jedem Einzelfall erkennen lassen, dass die aufgezeigten Maßstäbe beachtet wurden. Pauschale Darlegungen unter Bezugnahme auf abstrakte Punkte- oder Rang(folge) regelungen ohne konkrete Prüfung und Beurteilung der sozialen Dringlichkeit des Wohnbedarfs im Einzelfall können insoweit nicht genügen.
1.2 Ebenso wenig ist derzeit eine Zulassung der Berufung wegen eines der sonstigen Zulassungsgründe gemäß § 124 Abs. 2 Nr. 2 – 5 VwGO zu erwarten. Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für einen Antrag auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichts München vom 23. März 2017 ist deshalb derzeit abzulehnen.
Dem Kläger bleibt jedoch – wie bereits erwähnt – eine erneute Antragstellung bei der Landeshauptstadt München unter ausführlicher Benennung der konkreten Belastungssituation und eines auf die Landeshauptstadt bezogenen dringenden Wohnbedarfs unbenommen. Im Falle einer weiteren abschlägigen Entscheidung kann der Kläger erneut Klage erheben und die Bewilligung von Prozesskostenhilfe beantragen.
2. Eine Kostenentscheidung im vorliegenden Verfahren ist nicht veranlasst, weil das Prozesskostenhilfeverfahren gerichtsgebührenfrei ist und dem Gegner entstandene Kosten gemäß § 166 VwGO, § 118 Abs. 1 Satz 4 ZPO nicht erstattet werden.
3. Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).


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