Verwaltungsrecht

Möglichkeit der Inanspruchnahme staatlichen Schutzes bei kriminellem Unrecht in der Ukraine

Aktenzeichen  M 29 K 17.35377

Datum:
5.3.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 12511
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG § 3d, § 3e

 

Leitsatz

Es bestehen insbesondere aufgrund der Polizeireform keine Anhaltspunkte mehr dafür, dass die ukrainischen Behörden grundsätzlich nicht willens oder in der Lage wären, vor kriminellen Übergriffen nichtstaatlicher Nationalisten zu schützen. (Rn. 17) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der Klä-ger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwen-den, wenn nicht die Beklagte vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Die Klage, über die das Gericht trotz Ausbleibens der Beklagten in der mündlichen Verhandlung vom 1. März 2021 verhandeln und entscheiden konnte, weil die Beklagte rechtzeitig und unter Hinweis auf § 102 Abs. 2 VwGO geladen worden ist, ist zulässig, aber unbegründet.
Das Gericht folgt zunächst der Begründung des angefochtenen Bescheides und sieht insoweit von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe ab (vgl. § 77 Abs. 2 AsylG).
Ergänzend wird auf Folgendes hingewiesen:
Das Gericht muss hinsichtlich eines vom Asylsuchenden geltend gemachten individuellen Verfolgungsschicksals die volle Überzeugung von der Wahrheit erlangen. Angesichts des sachtypischen Beweisnotstandes, in dem sich Asylsuchende insbesondere hinsichtlich asylbegründender Vorgänge im Herkunftsstaat befinden, kommt dabei dem persönlichen Vorbringen des Asylsuchenden und dessen Würdigung für die Überzeugungsbildung eine gesteigerte Bedeutung zu. Demgemäß setzt ein Asylanspruch bzw. die Feststellung der Flüchtlingseigenschaft voraus, dass der Asylsuchende den Sachverhalt, der seine Verfolgungsfurcht begründen soll, schlüssig darlegt. Dabei obliegt es ihm, gegenüber dem Tatgericht einen in sich stimmigen Sachverhalt zu schildern, der geeignet ist, das Asylbegehren lückenlos zu tragen. Der Asylbewerber muss die persönlichen Umstände seiner Verfolgung und Furcht vor einer Rückkehr hinreichend substantiiert, detailliert und widerspruchsfrei vortragen, er muss kohärente und plausible wirklichkeitsnahe Angaben machen (vgl. BVerwG, U.v. 8.5.1984 – 9 C 141/83 – juris Rn. 11). Werden im Laufe des Verfahrens ohne plausible Erklärung unterschiedliche Angaben gemacht, enthält das Vorbringen nicht auflösbare Widersprüche, erscheinen die Darstellungen nach den Erkenntnismaterialien, der Lebenserfahrung oder aufgrund der Kenntnis entsprechender vergleichbarer Geschehensabläufe nicht nachvollziehbar oder wird das Vorbringen im Laufe des Verfahrens ohne ausreichende Begründung erweitert oder gesteigert und insbesondere ohne vernünftige Erklärung erst sehr spät in das Verfahren eingeführt, so kann den Aussagen in der Regel kein Glauben geschenkt werden.
Dies vorausgeschickt hat das Gericht bereits Zweifel am Wahrheitsgehalt der klägerischen Ausführungen, denn der Kläger steigerte sein Vorbringen in der mündlichen Verhandlung gegenüber seinen Angaben beim Bundesamt erheblich. So erklärte der Kläger bei seiner dortigen Anhörung, er habe nach dem Angriff auf ihn und seine Familie im August 2014 einen befreundeten Polizisten kontaktiert, der ihm von der Erstattung einer Anzeige abgeraten habe. In der mündlichen Verhandlung behauptete der Kläger schließlich, mit seinem Vorgesetzten O … ein Gespräch mit dem Vertreter des Innenministers gehabt zu haben, bei dem dieser um Hilfe wegen des Angriffs auf den Kläger ersucht worden sei. Außerdem habe er fast alle Mitglieder des Innenministeriums gekannt, die ihm gesagt hätten, dass sie ihm nicht helfen könnten. Auch zu weiteren Organisationen habe er nach dem Überfall Kontakt aufgenommen und um Hilfe gebeten. Schließlich behauptete der Kläger in der mündlichen Verhandlung auch erstmals, Angehörige des rechten Sektors hätten seinem Vorgesetzten gesagt, dass der Kläger getötet werden würde, wenn er seine Position als stellvertretender Direktor der Flüchtlingsorganisation nicht aufgeben würde.
Der Kläger vermochte diese Steigerungen seines Vorbringens nicht hinreichend erklären. Sein Einwand, er habe stets auf die Fragen des Anhörers beim Bundesamt geantwortet und sei nicht nach diesen Einzelheiten gefragt worden, hält die Einzelrichterin für eine bloße Schutzbehauptung, zumal er sowohl nach der Inanspruchnahme staatlichen Schutzes als auch nach Bedrohungen ausdrücklich gefragt worden ist.
Entgegen der Auffassung des Klägers geht das Gericht auch im Einklang mit der bestehenden Erkenntnislage davon aus, dass die staatlichen Behörden der Ukraine willens und in der Lage sind, den Kläger vor kriminellem Unrecht zu schützen.
Zwar ist in der Ukraine Schikane gegen Fremde nicht-slawischen Äußeren weiterhin ein Problem, Anstachelung zu Hass oder Diskriminierung aufgrund von Nationalität, Ethnie oder Religion ist aber verboten. Die Gesetze für Verbrechen mit einem solchen Hintergrund sehen auch erhöhte Strafen vor. Der Nachweis, insbesondere des Vorsatzes, ist jedoch derart schwierig, dass in der Praxis solche Verbrechen als Hooliganismus strafverfolgt werden (vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation für die Ukraine, Stand 9.1.2019, Ziff. 16). Daraus kann aber nicht gefolgert werden, dass dem Kläger auch noch zum Jetztzeitpunkt staatlicher Schutz verweigert werden würde. Die Sicherheitsbehörden unterstehen effektiver ziviler Kontrolle. Die Sicherheitsbehörden verhindern generell gesellschaftliche Gewalt oder reagieren darauf. Die alte ukrainische Polizei, die sogenannte Militsiya, hatte mit einem sehr schlechten Ruf als zu tiefst korrupt zu kämpfen. Die relevante Gesetzgebung für eine neue Polizeieinheit konnte aber im November 2015 in Kraft treten und die neue Nationalpolizei nahm ihre Tätigkeit bereits Anfang Juli 2015 auf. Als von der Politik grundsätzlich unabhängiges Exekutivorgan, das anhand von europäischen Standards mit starker Unterstützung der internationalen Gemeinschaft aufgebaut wurde, stellt die neue nationale Polizei jedenfalls einen wesentlichen Schritt vorwärts dar (vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich a.a.o., Ziff. 5.). Nach alldem bestehen insbesondere aufgrund der Polizeireform keine Anhaltspunkte mehr dafür, dass die ukrainischen Behörden grundsätzlich nicht willens oder in der Lage wären, den Kläger vor Übergriffen nichtstaatlicher Dritter zu schützen.
Ungeachtet all dessen steht dem Kläger auch zur vollen Überzeugung der Einzelrichterin eine innerstaatliche Schutzalternative zur Verfügung. Nach § 3e AsylG wird dem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft trotz sonst zu bejahender Anspruchsvoraussetzungen nicht zuerkannt, wenn er (1.) in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3d AsylG hat und (2.) sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt.
Diese Voraussetzungen sind vorliegend gegeben.
Der vom Kläger geschilderte Übergriff wurde nach seinen Angaben durch Angehörige der rechten Szene der Stadt Kiew begangen und ist damit zunächst einmal örtlich begrenzt. Dass der Kläger, wie er behauptet, aufgrund seiner Funktion als stellvertretender Direktor der Flüchtlingsorganisation „… …“ aufgrund von Zeitungsberichten und einem bei BBC übertragenen Interview landesweit bekannt sei, hält das Gericht für sehr unwahrscheinlich, da dies zum einen bereits viele Jahre zurückliegt (die beim Bundesamt vorgelegten Zeitungsberichte datieren auf das Jahr 2013) und zum anderen erfahrungsgemäß aufgrund eines einzelnen Fernsehinterviews bei BBC noch keine landesweite Bekanntheit eintritt, zumal die Vertretung der Interessen von Flüchtlingen und deren Unterstützung im Alltag kein Thema sein dürfte, das auf großes Interesse bei der breiten ukrainischen Bevölkerung stoßen dürfte. Schließlich hat der Kläger seine Funktion nach eigenen Angaben auch nur von 2013 bis zu seiner Ausreise im Jahr 2014, also nur eine geringe Zeitspanne, ausgeübt. Dementsprechend geht das Gericht davon aus, dass es bereits sehr unwahrscheinlich sein dürfte, dass den Kläger so viele Jahre nach seinem Weggang überhaupt jemand suchen sollte. Erst recht gilt dies für eine landesweite Suche nach dem Kläger, zumal nichts dafür ersichtlich ist, dass diese erfolgsversprechend sein könnte. Ebenso unwahrscheinlich ist es, dass der Kläger, sollte er sich in einem anderen Teil der Ukraine niederlassen, dort von Angehörigen der rechten Szene als früherer stellvertretender Direktor der „… …“ erkannt und erneut verfolgt sowie bedroht werden könnte. Das Gericht hat angesichts des Bildungsgrads des Klägers und seiner bisherigen beruflichen Tätigkeit auch keinen Zweifel daran, dass es ihm gelingt, sich in einem anderen Teil der Ukraine seinen Lebensunterhalt durch Erwerbstätigkeit zu sichern.
Nach alldem ist die Klage mit der Kostenfolge aus § 154 Abs. 1 VwGO, § 83b AsylG abzuweisen. Der Ausspruch zur vorläufigen Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 Abs. 1 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.


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