Verwaltungsrecht

Ohne Therapie kein Wegfall der Wiederholungsgefahr bei auf Suchterkrankung beruhender Straftaten – erfolgloser Berufungszulassungantrag

Aktenzeichen  19 ZB 21.488

Datum:
29.4.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 10983
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO § 124 Abs. 2 Nr. 3

 

Leitsatz

1. Um den auf die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache gestützten Zulassungsantrag zu begründen, muss der Rechtsmittelführer eine konkrete Rechts- oder Tatsachenfrage formulieren, ausführen, weshalb diese Frage entscheidungserheblich ist, erläutern, weshalb die vorformulierte Frage klärungsbedürftig ist, und darlegen, warum der Frage eine über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung zukommt.  (Rn. 4) (redaktioneller Leitsatz)
2. Bei Straftaten, die auf einer Suchterkrankung des Ausländers beruhen, kann von einem Wegfall der für die Ausweisung erforderlichen Wiederholungsgefahr nicht ausgegangen werden, solange der Ausländer nicht eine Drogentherapie erfolgreich abgeschlossen hat und die damit verbundene Erwartung eines künftig drogen- und straffreien Verhaltens auch nach Therapieende glaubhaft gemacht hat.   (Rn. 10) (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

AN 5 K 19.475 2020-12-02 Urt VGANSBACH VG Ansbach

Tenor

I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II. Der Kläger hat die Kosten des Zulassungsverfahrens zu tragen.
III. Der Streitwert für das Zulassungsverfahren wird auf 5.000,00 Euro festgesetzt.

Gründe

Der Antrag auf Zulassung der Berufung bleibt ohne Erfolg.
Der am … 1998 geborene, am 10. Februar 2002 gemeinsam mit seiner Mutter und seinem Stiefvater als jüdischer Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion mit entsprechendem Visum in das Bundesgebiet eingereiste und seit dem 27. März 2002 eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis (welche seit 1.1.2005 als Niederlassungserlaubnis fort galt) besitzende Kläger, ein moldauischer Staatsangehöriger, wendet sich gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts vom 2. Dezember 2020, durch das seine Klage gegen den Bescheid der Beklagten vom 5. Februar 2019 abgewiesen worden ist. Mit Bescheid vom 5. Februar 2019 hat die Beklagte den Kläger aus der Bundesrepublik Deutschland ausgewiesen (Nr. I des Bescheids), den Sofortvollzug der Ausweisung ausnahmsweise angeordnet (Nr. II des Bescheids), das Einreise- und Aufenthaltsverbot auf die Dauer von acht Jahren ab Abschiebung bzw. Ausreise aus dem Bundesgebiet befristet (Nr. III des Bescheids), die Abschiebung aus dem Maßregelvollzug bzw. einer erneuten Strafhaft heraus, insbesondere in die Republik Moldau, angeordnet (Nr. IV des Bescheids) und (sollte die Abschiebung aus dem Maßregelvollzug bzw. einer erneut angeordneten Strafhaft nicht möglich sein) die Abschiebung, insbesondere in die Republik Moldau, angedroht (Nr. V des Bescheids).
Der ausschließlich geltend gemachte Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache (§ 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) liegt nicht vor (der klägerische Schriftsatz vom 22.4.2021 enthält keine auf die Ausführungen der Beklagten in deren Zulassungserwiderung vom 22.3.2021, die Ausführungen im Zulassungsvorbringen könnten nicht als sinngemäße Geltendmachung eines weiteren Zulassungsgrundes verstanden werden, dahingehende Klarstellung, dass durch das Zulassungsvorbringen neben dem Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache weitere Zulassungsgründe hätten geltend gemacht werden sollen).
Um den auf die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache gestützten Zulassungsantrag zu begründen, muss der Rechtsmittelführer eine konkrete Rechts- oder Tatsachenfrage formulieren, ausführen, weshalb diese Frage entscheidungserheblich ist, erläutern, weshalb die vorformulierte Frage klärungsbedürftig ist, und darlegen, warum der Frage eine über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung zukommt (stRspr vgl. z.B. BayVGH, B.v. 17.12.2015 – 10 ZB 15.1394 – juris Rn. 16 m.w.N.).
Der geltend gemachte Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache nach § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO ist schon nicht den Anforderungen des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO entsprechend hinreichend dargelegt.
1. Soweit der Kläger die Frage aufwirft, „ob Menschen jüdischer Abstammung aufgrund der besonderen deutschen geschichtlichen Verbrechen nach wie vor privilegiert sind“, ist der Zulassungsgrund mangels konkreter, auf den Einzelfall bezogener Rechtsfrage nicht den Anforderungen des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO entsprechend hinreichend dargelegt. Die Rechtstellung der – wie der Kläger – vor dem 1. Januar 2005 aufgenommenen jüdischen Emigranten aus der ehemaligen Sowjetunion ist darüber hinaus in der Weise höchstrichterlich geklärt, dass deren Kontingentflüchtlingsstatus über den 1. Januar 2005 hinaus nicht fortbesteht (BVerwG, U.v. 4.10.2012 – 1 C 12/11 – juris Rn. 13 f.).
2. Die vom Kläger aufgeworfene Frage, „ob der Kläger dadurch geschützt ist, dass auch in die Rechte seiner Mutter eingegriffen werden würde, wenn der Kläger abgeschoben werden würde“, rechtfertigt die Zulassung der Berufung nicht. Es ist bereits nicht dargelegt, dass dieser Frage eine über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung zukommt.
3. Ohne dass es vorliegend noch entscheidungserheblich darauf ankommt, hält der Senat an seiner bereits im die Beschwerde gegen die verwaltungsgerichtliche Ablehnung der Bewilligung von Prozesskostenhilfe zurückweisenden Beschluss vom 8. Juli 2020 (19 C 20.623) geäußerten Auffassung, die Ausweisung des Klägers ist nicht zu beanstanden, auch unter Berücksichtigung der nach dem Entscheidungsdatum eingetretenen Umstände weiterhin fest.
Es ist weiterhin von einer Wiederholungsgefahr beim Kläger, der am 12. November 2018 zu einer Einheitsjugendstrafe von drei Jahren und neun Monaten wegen vorsätzlicher Körperverletzung unter Einbeziehung des Urteils vom 30. Oktober 2017 (Verurteilung wegen Verbreitung jugendpornographischer Schriften und vorsätzlicher Körperverletzung in fünf Fällen, in einem Fall mit versuchter Nötigung und in einem weiteren Fall mit Bedrohung sowie wegen gefährlicher Körperverletzung, Bedrohung, Wohnungseinbruchsdiebstahls und Diebstahls zu einer Einheitsjugendstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten unter Einbeziehung des Urteils vom 20. Februar 2017 ) verurteilt worden ist (zudem wurde die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt angeordnet), der sich ab dem 6. Mai 2018 in Untersuchungs- und Strafhaft befunden hat und seit dem 6. Dezember 2018 in einer Entziehungsanstalt untergebracht war, auszugehen.
Bei Straftaten, die – wie hier – auf einer Suchterkrankung des Ausländers beruhen (beim Kläger ist neben Persönlichkeitsbesonderheiten im Sinne einer akzentuierten Persönlichkeit mit Impulsivität, unstetem Lebenswandel, dissozialen Neigungen und Einbindung in einen dissozialen selbstbezogenen Lebensstil in sich verfestigender Form eine Alkoholabhängigkeit diagnostiziert worden), kann nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs von einem Wegfall der für die Ausweisung erforderlichen Wiederholungsgefahr nicht ausgegangen werden, solange der Ausländer nicht eine Drogentherapie erfolgreich abgeschlossen hat und die damit verbundene Erwartung eines künftig drogen- und straffreien Verhaltens auch nach Therapieende glaubhaft gemacht hat (siehe z.B. BayVGH, B.v. 29.5.2018 – 10 ZB 17.1739 – juris Rn. 9; B.v. 16.2.2018 – 10 ZB 17.2063 – juris Rn. 10; BayVGH, B.v. 7.2.2018 – 10 ZB 17.1386 – juris Rn. 10; BayVGH, U.v. 3.2.2015 – 10 B 14.1613 – juris Rn. 32 m.w.N.). Solange sich der Ausländer nicht außerhalb des Straf- bzw. Maßregelvollzugs bewährt hat, kann nicht mit der notwendigen Sicherheit auf einen dauerhaften Einstellungswandel und eine innerlich gefestigte Verhaltensänderung geschlossen werden, die ein Entfallen der Wiederholungsgefahr rechtfertigen würde (BayVGH, B.v. 13.10.2017 – 10 ZB 17.1469 – juris Rn. 12; BayVGH, B.v. 6.5.2015 – 10 ZB 15.231 – juris Rn. 11).
Zwar wurde durch den mit Schriftsatz vom 22. April 2021 vorgelegten strafvollstreckungsgerichtlichen Beschluss vom 24. Februar 2021 die Vollstreckung der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt und die Vollstreckung des Strafrestes zur Bewährung ausgesetzt. Der Senat ist an die strafvollstreckungsgerichtlichen Prognosen betreffend die Straf- und Maßregelaussetzung zur Bewährung aber nicht gebunden (vgl. BayVGH. B.v. 2.5.2017 – 19 CS 16.2466 – juris, insbesondere Rn. 8 ff.; KommunalPraxis BY 2017, 275 – Leitsatz, NVwZ 2017, 1637/1638 – Leitsatz – und ZAR 2017, 339 – Leitsatz). Auch in Anbetracht des strafvollstreckungsgerichtlichen Beschlusses kann von einem dauerhaften Einstellungswandel beim Kläger (noch) nicht ausgegangen werden. Die Unterbringung des Klägers ist erst seit wenigen Wochen beendet. Folglich sind von der im strafvollstreckungsgerichtlichen Beschluss vom 24. Februar 2021 angeordneten dreijährigen Bewährungszeit und der dreijährigen Führungsaufsicht erst wenige Wochen vergangen. Zudem ist zu berücksichtigen, dass der Kläger während der Probewohnphase am 28. September 2020 – und damit nur kurz vor der Aussetzungsentscheidung – noch einen Alkoholrückfall erlitten hat. Der Beklagte meint diesbezüglich zu Recht, dass der Kläger den Vorfall bagatellisiert, wenn er im Zulassungsantrag ausführt, wegen einer Flasche Bier könne nicht derart gravierend in das Leben eines Menschen und seiner Mutter eingegriffen werden. In der Stellungnahme der Entziehungsanstalt vom 20. Januar 2021 ist vielmehr ausdrücklich von einem Suchtmittelrückfall die Rede. Auch die in der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht am 2. Dezember 2020 informatorisch angehörte Sozialarbeiterin in der Entziehungsanstalt hat den Vorfall als Rückfall bezeichnet. Trotz der nunmehr abgeschlossenen Therapie – während der der Kläger zuletzt am 28. September 2020 mit Alkohol rückfällig geworden ist – und trotz seiner derzeitigen Rückfallfreiheit (von der mangels entgegenstehender Feststellungen auszugehen ist) ist im Hinblick auf die Schwere der Verurteilungen des Klägers, insbesondere der auf brutale Weise begangenen Körperverletzungsdelikte (Faustschläge gegen den Kopf, Tritte mit dem beschuhten Fuß gegen den Kopf , Kniestöße ins Gesicht) und der teilweise sehr erheblichen Verletzungsfolgen (Schwellungen, Schädelprellung, abgebrochener Schneidezahn, Halswirbelsäulenprellung, Jochbogenprellung, Monokelhämatom), des bestehenden Legalbewährungsdruckes (wegen der zur Bewährung ausgesetzten Unterbringung in der Entziehungsanstalt und der zur Bewährung ausgesetzten Vollstreckung der Restfreiheitsstrafe sowie wegen der Ausweisung) und der kurzen Zeit nach Beendigung des Maßregelvollzugs weiterhin von einer Wiederholungsgefahr auszugehen.
Der Senat hält auch an seiner im Beschluss vom 8. Juli 2020 (19 C 20.623) geäußerten Auffassung fest, das Bleibeinteresse des Klägers überwiegt das Ausweisungsinteresse nicht aufgrund einer Pflegebedürftigkeit der eine Niederlassungserlaubnis besitzenden pflegebedürftigen Mutter (Grad der Behinderung 80 und Merkzeichen G und B). Von einer Beistandsgemeinschaft ist im Hinblick auf die mehrjährige haft- und unterbringungsbedingte Trennung von seiner Mutter weiterhin nicht auszugehen, zumal der Kläger erst am 20. Juli 2020 zu seiner Mutter in die Probewohnphase beurlaubt werden konnte und diese bereits am 28. September 2020 aufgrund eines positiven Befundes auf das Alkoholabbauprodukt Ethylglucuronid bis zum 16. Dezember 2020 unterbrochen werden musste. Während des Haft- und Unterbringungsaufenthalts des Klägers hat die Mutter des Klägers, die dreimal täglich von einem Pflegedienst versorgt wird, ihren Alltag selbst organisieren müssen. Ausweislich des vorläufigen Entlassungsbriefs der Neurologischen Klinik in S. (ohne Datum) bezüglich des dortigen stationären Aufenthalts der Mutter des Klägers vom 10. März 2021 bis 26. März 2021 (Anlass war die geplante Aufnahme zur Medikationsoptimierung bei Verschlechterung der motorischen Fähigkeiten bei bekanntem Parkinsonsyndrom; während des Klinikaufenthalts hat sich die Mutter des Klägers eine Rippe gebrochen) berichtete die Mutter des Klägers nach der Anpassung der Antiparkinsonmedikation über eine deutliche Verbesserung der Schmerzsymptomatik in den Beinen. Das Laufen sei ebenfalls deutlich besser geworden. Die Mutter des Klägers sei in der Lage auf Stationsebene am Rollator ohne Einschränkung zu laufen.
Soweit im Schriftsatz vom 22. April 2021 mit den Ausführungen, die Mutter des Klägers habe sich während des Aufenthaltes des Klägers in der Entziehungsanstalt um diesen gekümmert, beabsichtigt ist, ein Angewiesensein des volljährigen Klägers auf die Lebenshilfe seiner Mutter geltend zu machen, sind Anhaltspunkte für eine entsprechende Hilfebedürftigkeit des Klägers weder substantiiert vorgetragen noch ersichtlich.
Im Übrigen verweist der Senat auf seine Ausführungen im Beschluss vom 8. Juli 2020 (19 C 20.623) und schließt sich den Ausführungen im angegriffenen verwaltungsgerichtlichen Urteil an.
4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO, die Streitwertfestsetzung auf §§ 47 Abs. 3, Abs. 2, 52 Abs. 2 GKG.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO). Mit der Ablehnung des Antrags auf Zulassung der Berufung wird das Urteil des Verwaltungsgerichts rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO).


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